Tausend Feuer, Ofen aus: Rheinhausen

DER DRACHE UND DIE FUNKEN:
ERINNERUNGEN IM »REICHSADLER«

Es ist nicht leicht, in Nordrhein-Westfalen jemanden zu finden, der eine schlechte Meinung von Berthold Beitz hat. Selbst langjährige Widersacher grummeln immerhin respektvoll, wenn sein Name fällt. Man muss also suchen und weit fahren – bis in die Gaststätte »Zum Reichsadler« in Duisburg-Rheinhausen, eine Eckwirtschaft mit Holztäfelung und Rundbogenfenstern, rauchverhangen, die Musikbox dudelt Schlager: »Irgendwann, da war es Liebe, vielleicht sogar ein bisschen mehr …« Helmut Laakmanns große Liebe war das Stahlwerk Rheinhausen. Der »Reichsadler« steht an der Atroper Straße, nicht weit von dort, wo einst das Tor I des Werks war. Nach Schichtende standen die Männer hier einst dicht an dicht, oft bis hinaus auf die Straße, die Bedienung gab Pils, Schnitzel und Buletten einfach vom Tresen aus durch, und die Arbeiter reichten die Tabletts über ihre Köpfe weiter. Es war eng, es war laut, es war Heimat.

Alles vorbei, lange her. Innen in der Wirtsstube sitzt Helmut Laakmann beim Pils, und der Zorn blitzt in seinen Augen, wie damals, vor mehr als zwanzig Jahren, als er alles wagte und alles verlor. »Beitz war der Strippenzieher, Cromme der Killer«, sagt Laakmann. »Die beiden haben Rheinhausen plattgemacht.«

Das ist eine radikale Sicht der Dinge. Aber Helmut Laakmann ist auch ein radikaler Mann. Im eisigen Winter 1987 war er einer der Köpfe des Aufstands der Stahlarbeiter gegen die Konzernführung – ausgerechnet er, der vom Laufjungen bis zum Betriebsleiter aufgestiegen ist. Er hat heute einen guten Job beim Johanniter-Bund, aber so wie früher wird es nicht mehr sein: Er vermisst die Hitze der Hochöfen, die sprühende Glut beim Anstich. »Das waren Monster, diese Öfen, die haben Funken gesprüht wie ein Drache.«

Berthold Beitz und Helmut Laakmann weisen bei allen gewaltigen Unterschieden auch manche Eigenschaften auf, die sich nicht unähnlich sind. Beide Männer stammen aus kleinen Verhältnissen, beide sind stark im Willen wie in ihren Glaubenssätzen, und deshalb handeln sie schnell und entschlossen, wenn andere noch zögern. Auch ihre Überzeugungen scheinen gar nicht so weit voneinander entfernt zu sein. Beitz’ Fixpunkt ist das Wohl »der Firma«, wie er sagt, des Krupp-Konzerns und seiner Menschen. Laakmann will Rheinhausen retten zum Wohle von 6000 Arbeitern, Rheinhausen, das doch Teil der Firma ist und noch dazu derjenige, der sogar den Krieg überstanden hat.

Als die Schließungspläne im Winter 1987 bekannt werden, bleiben die Gewerkschaften erst einmal in Deckung. Am 30. November steht dann Laakmann vor 5000 Kollegen am Mikrofon. Vergesst sie, sagt er, vergesst die IG Metall, vergesst die SPD und die Landesregierung. Vertraut auf eure eigene Kraft. Vor ihm haben Politiker und Gewerkschafter gesprochen, sie haben Brüssel die Schuld gegeben, dem unfairen Stahlmarkt in Europa. Es hat schon viele Reden gegeben, zu viele aus Sicht der Arbeiter; mürrisch streben die ersten bereits Richtung Ausgang. Aber dann ist Laakmann an der Reihe. Er blickt auf ein Meer von Köpfen, Helmen, Fahnen, erwartungsvollen Gesichtern. »Da ist der Helmut«, rufen sie, und die an den Ausgängen bleiben stehen. Der Helmut, der harte Junge von der Walzstraße, der Vorarbeiter, der kein Problem hat, seinen Willen durchzusetzen gegenüber Männern, die doppelt so breit sind wie er, und der doch als ein guter und fürsorgender Kerl gilt; der Helmut, heißt es, der lässt keinen von seinen Jungs hängen.

Und er wird sie auch jetzt nicht hängen lassen. Laakmann wirkt, für den Moment, wie ein Heerführer aus alten Zeiten, dessen Worte Tausende in ihren Bann ziehen. Und er hält die Rede seines Lebens: »Es kann doch nicht sein, dass eine kleine Clique, eine kleine Mafia, mit den Menschen in diesem Lande macht, was sie will.« Drei Tage vorher stand der neue Krupp-Stahlchef Gerhard Cromme, der Verhasste, im hellen Mantel vor der Belegschaft, und niemand, am wenigsten Laakmann, verschwendete einen Gedanken daran, wie es dem Vorstandschef von Krupp Stahl wohl gehen mochte, der bei seiner Rede von den Arbeitern einfach niedergebrüllt wurde: »Lügner, Lügner, Lügner!« Den sie mit Eiern und Apfelsinen bewarfen, der einen brennenden Galgen mit einer Cromme-Puppe sah und in der Menge vor ihm blanken Hass spürt, den reinen Hass. Und Laakmann ist es nun, der das Feuer weiter schürt: »Ich habe da etwas über Krupp gelesen. Da stand drin, wir hätten jahrelang die linke Wange und die rechte Wange hingehalten. Doch da habe ich noch etwas gelesen, und das könnte in Zukunft unsere Parole sein: Auge um Auge, Zahn um Zahn!« Die Halle tobt. Der Funke hat gezündet. Es ist der Auftakt zu einem der härtesten Arbeitskämpfe in der Geschichte der Bundesrepublik.

DER WEG IN DEN KONFLIKT:
CROMME UND DIE STAHLKRISE

Cromme ist für die Arbeiter, deren Hütte er dichtmachen will, ein Feind wie aus dem Bilderbuch. Er kommt, 1943 im Oldenburger Münsterland geboren, aus einer anderen Welt jenseits der Malocherkultur an Rhein und Ruhr. Das Vermittelnde, Einnehmende, Wärmende, das Berthold Beitz so leicht fällt, ist seine Sache nicht. Er ist ein promovierter, sehr ehrgeiziger, drahtiger Karrieremanager, der in Münster, Paris und Harvard Rechts- und Wirtschaftswissenschaften studiert und ab 1971 einen beeindruckenden Aufstieg im französischen Großkonzern Compagnie de Saint-Gobain geschafft hat. Anfang 1986 hört er Gerüchte, die Traditionsfirma Krupp suche einen neuen Stahlchef. »Vom Stahl habe ich nicht viel gewusst«, erklärt er heute. Aber er strebt gern nach Höherem. Dabei, so Cromme, »haben alle, die ich gefragt habe, dringend abgeraten: Krupp-Stahl, haben sie gesagt, ist eine zu heiße Geschichte«.

Berthold Beitz muss 1986 tatsächlich einen neuen Chef für die Stahlsparte suchen, da ihm der alte auf denkbar unerfreuliche Weise abhanden gekommen ist. Mit Hilfe von Werner Resch, einem Aufsichtsratsmitglied bei Krupp-Stahl, hat Stahlchef Alfons Gödde 16 Millionen Mark durch dubiose Geschäfte veruntreut. Resch wiederum ist in den sechziger Jahren eine Entdeckung von Beitz gewesen, ein ehemaliger DDR-Zehnkämpfer, den er auf Sylt kennengelernt hatte. Gemeinsam sind sie dort lange am Strand spazieren gegangen; Beitz gefiel die direkte Art des Mannes und vielleicht auch der Respekt, den dieser ihm entgegenbrachte. Gefördert von Beitz, gelang Resch eine auffallend schnelle Karriere bei Krupp. Insofern ist es für Beitz ein schwerer Schlag, dass sich ausgerechnet Resch als Judas entpuppt; selten hat ihn sein berühmtes Bauchgefühl so im Stich gelassen. Resch soll in einem Düsseldorfer Nobellokal sogar geprahlt haben, er werde Beitz dereinst beerben. Wenn Beitz sagt, er sei auch »oft betrogen worden« und habe »nicht immer ein glückliches Händchen bei der Personalauswahl gehabt«, dann dürfte er vor allem an Resch und Gödde denken.

Dabei hat Gödde noch Anfang 1986 als Kandidat für einen Sitz im Krupp-Vorstand gegolten. Interne Recherchen bringen freilich bedenkliche Details ans Licht. Vorstandschef Wilhelm Scheider stellt fest, Gödde habe »im Rohstoffeinkauf Entscheidungen mit sehr nachteiligen Auswirkungen für die Krupp Stahl AG getroffen«, und regt in der Hauptversammlung an, die Entlastung von Gödde und Resch bis zum nächsten Jahr zu vertagen. Als Beitz in Vorstand und Aufsichtsrat eine lückenlose Aufklärung der Affäre fordert und Gödde zur Rede stellt, streitet der alles ab. Als Gödde dann Journalisten steckt, der Stiftungschef lege Wert »auf stille und folgenlose Beendigung der Vorgänge«, widerspricht ihm Beitz öffentlich. Gödde, ein wuchtiger Mann, stilisiert sich zunächst zum Opfer Krupp’scher Misswirtschaft. Über Beitz sagt er: »Der ist feige und viel naiver, als man glaubt.« Feige gegenüber einem Konzernvorstand, der nicht mehr sei als »eine Versammlung von Amateuren«. Der Löwe brüllt laut, aber nicht überzeugend.

Gödde, der sich bei seinen dubiosen Schwarzgeld-Transaktionen sogar seiner Nähe zu Beitz gebrüstet hat, muss später kleinlaut bekennen, dass dieser mit seinen Geschäften »schlicht nichts zu tun hatte«. Und Resch joggt nun nicht mehr an Sylts langen Stränden, sondern Tausende Runden im Hof der Dortmunder Haftanstalt. Er und Gödde werden zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt.

So ist die Lage, als sich Gerhard Cromme im Frühjahr 1986 in Essen bei Beitz vorstellt. Er ist der überzeugendste Kandidat. Die beiden Männer sind sich bald einig: Cromme soll Stahlchef werden. Das Gespräch nähert sich dem Ende, da hat Cromme noch eine Frage: Ob denn die Nachfolge von Herrn Scheider, dem Vorstandschef des Gesamtkonzerns, bereits geregelt sei? Als Beitz verneint, soll der selbstbewusste Gast der Firmenlegende zufolge gesagt haben: »Sehr gut, dann komme ich.« Cromme freilich legt im Rückblick großen Wert darauf, dass er sein Interesse am Chefsessel doch wesentlich dezenter formuliert habe, gibt aber auch zu: »Wenn Herr Beitz schon einen Kandidaten gehabt hätte, wäre ich gar nicht erst zu Krupp gekommen.« Das Ergebnis ist dasselbe: Beitz hat einen neuen Topmanager.

Leicht wird es nicht, so viel weiß Cromme. Was er dann aber in Essen vorfindet, ist ein Desaster. »Nach vier Wochen war mir schon klar, dass Krupp-Stahl eigentlich pleite war. Da gab es nun zwei Möglichkeiten: sich diskret von Krupp zu verabschieden oder das Problem anzugehen. Die zweite Variante liegt mir vom Typ her mehr.« Die Löcher lassen sich auch nicht mehr mit dem Geld aus dem Iran stopfen. Cromme: »Als ich hier 1986 ankam, war das Geld aus Teheran längst fort.«

Cromme ist ein kühler Rechner, und er weiß, dass seine Kalkulation schwer zu widerlegen ist: Mit Verlusten, die sich monatlich auf 15 bis 20 Millionen D-Mark summieren, droht Rheinhausen, das Hüttenwerk, den Konzern in den Abgrund zu ziehen. Trotzdem unterläuft ihm eine schwere Fehleinschätzung, als er noch im September 1987 ankündigt, der Standort Rheinhausen sei sicher. Mit dem Betriebsrat von Krupp-Stahl vereinbart er: Die Hütte soll verkleinert werden, die Profilwalzwerke sollen geschlossen werden, die Belegschaft auf gut 4000 Arbeiter schrumpfen – das alles aber ohne Entlassungen.

Für die kurz darauf eskalierende Rheinhausen-Krise gibt es viele Gründe. Das Werk ist trotz Investitionen aus jüngerer Zeit in manchen Teilen nicht modern genug, es ist schlecht in die Konzernstruktur integriert, und es leidet unter Managementfehlern. Gleichwohl ist die Krise nicht allein hausgemacht. Seit 1980 haben in der Bundesrepublik 65 000 Menschen ihren Job in der Stahlindustrie verloren. Stahl hat nicht mehr dieselbe Bedeutung wie in den Jahrzehnten des Wiederaufbaus nach dem Krieg. Auch neue Technologien, etwa in der Autoproduktion, sorgen dafür, dass die Nachfrage sinkt. In den Schwellenländern der Dritten Welt wachsen zudem machtvolle Konkurrenten heran, deren Werke nicht den hohen sozialen und ökologischen deutschen Standards genügen müssen – von den entsprechend hohen Herstellungskosten wie jenen im Ruhrgebiet ganz zu schweigen. Selbst auf Europas Märkten gibt es zu viel Stahl, und andere Staaten der EG, vor allem Frankreich, Belgien und Italien, stützen ihre Werke mit horrenden Milliardensummen. Sie verstoßen damit offen gegen das Subventionsverbot der europäischen Montanregeln, aber das kümmert sie nicht. Sie wollen vermeiden, dass bei ihnen geschieht, was bald in Rheinhausen Wirklichkeit wird. Dagegen haben die deutschen Hüttenwerke keine Chance. Der Markt ist alles andere als frei und fair, und so erweist sich der deutsche Stahl am Ende als immer weniger konkurrenzfähig.

In Geheimgesprächen mit Mannesmann und Thyssen versucht Cromme daher im Herbst 1987, was überfällig, aber bis dahin stets gescheitert ist: eine Kooperation mit starken Partnern. Die Kruppianer haben seit Beginn der achtziger Jahre mit Hoesch, Thyssen und Klöckner, also drei großen Mitbewerbern, Gespräche über Teilfusionen beim Stahl geführt, in Erkenntnis der alten Weisheit: »Jeder stirbt für sich allein.« Die hochkarätige Runde der »Stahlmoderatoren«, einberufen von der neuen Regierung Helmut Kohls, schlug 1983 vor, die deutschen Stahlwerke in zwei Gruppen zu konzentrieren; Krupp und Thyssen sollten gemeinsam die »Rheingruppe« bilden. Doch Thyssen-Chef Dieter Spethmann mochte der Idee wenig abgewinnen und verlangte eine astronomisch hohe Staatsbürgschaft, die Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff schließlich ablehnte.

In Sichtweite der Schlote und Hochöfen von Rheinhausen, auf der anderen Rheinseite, steht das Mannesmann-Stahlwerk von Duisburg-Huckingen. Jahrzehntelang haben die beiden Riesen des Industriezeitalters das Gesicht dieser Rheinlandschaft geprägt. Jetzt sind sie die härtesten Konkurrenten, denn es geht ums nackte Überleben. Huckingen mit seiner neuen Kokerei ist in vielen Belangen moderner als Rheinhausen, schreibt aber gleichfalls Millionenverluste. Die Hütte, die Rohstahl für die Röhrenproduktion liefert, ist höchstens zur Hälfte ausgelastet. Sie braucht einen Partner – und so fragt man Cromme, nur wenige Wochen nach der erwähnten Bestandsvereinbarung in Rheinhausen. Cromme erkennt die einmalige Chance, aus der Stahlmisere herauszukommen: Wenn Krupp seinen Rohstahl aus Huckingen bezieht statt aus Rheinhausen, wäre die Hütte dort wieder voll ausgelastet, und er kann den Verlustbringer Rheinhausen schließen.

Deshalb plant er nun den Befreiungsschlag. Er wird damit einen Ruf begründen, der ihm seither anhängt, den des »eiskalten« Managers. Aber so kalt das Licht auch sein mag, das er auf die Zahlen von Rheinhausen werfen lässt, so eindeutig ist, was diese Zahlen bedeuten: Jeden Tag macht das Stahlwerk mehr als eine halbe Million Mark Verlust. Kein Konzern kann das aushalten, sagt Cromme schließlich zu Beitz, als er ihn im Spätherbst 1987 mit dem Vorhaben konfrontiert, die Hütte dichtzumachen; und Krupp kann es ganz sicher nicht. »Rheinhausen war leider nicht zu halten«, sagt auch der frühere nordrhein-westfälische SPD-Ministerpräsident Wolfgang Clement, »die ökonomische Lage und die Stahlkrise haben die Schließung einfach erfordert.«

Wieder einmal fasst Berthold Beitz ganz intuitiv einen Entschluss: Er gibt dem Stahlchef freie Hand. Beitz hat sich stets dem sozialen Erbe Alfried Krupps verpflichtet gefühlt; er hat ihm einst selbst Werksschließungen vorgeschlagen, die der letzte Alleininhaber meist mit der Bemerkung abgelehnt hat, dann müssten andere Betriebsteile eben mehr verdienen. Nun aber gibt es keine Krupp-Firmen mehr, die so viel verdienen würden, dass sie die Verluste von Rheinhausen auffangen könnten. Heute sagt Beitz: »Das Ende war einfach abzusehen. Es gab so viele Stahlwerke, die wachsende, billigere Konkurrenz aus dem Ausland, die Subventionen dort. Wir mussten handeln.« Er muss eine Lösung finden, und die hat nur Gerhard Cromme, der rückblickend meint: »Er [Beitz; J. K.]hätte die Entscheidung ja sofort kippen können. Aber er hat sich intuitiv gesagt: Der Kerl hat recht, es geht nicht anders.« Hier liegt der Schlüssel zum Verhältnis zweier sehr unterschiedlicher Männer, ein Verhältnis, das von da an über viele Jahre eng und vertrauensvoll sein wird, mögen sich auch viele darüber wundern. Beitz imponiert der Mut des Jüngeren, seine Entschlusskraft. Vielleicht erkennt er in Cromme ein wenig von sich selbst wieder, wie er – ein junger Außenseiter ohne ruhrtypischen »Stallgeruch« und ohne Ahnung vom Stahl, noch unbeirrt von Beziehungsnetzwerken und persönlichen Verpflichtungen – in den großen Konzern kam und auszumisten begann.

Und so steht er zu Cromme, durch den Aufstand der Stahlarbeiter hindurch. Tausend Feuer, Ofen aus: Das Szenario, das Helmut Laakmann und seine Mitstreiter nun entfachen, wäre für Alfried Krupp wie ein Blick ins Fegefeuer gewesen.

»AUGE UM AUGE!«:
AUFSTAND DER STAHLARBEITER (1987)

Am 9. Dezember 1987 drängt eine wütende Menge mit Fahnen und Transparenten (»Rheinhausen muß bleiben!«) durch die gepflegten Anlagen des Hügelparks. Die Arbeiter werfen Holzpaletten übereinander und zünden sie an. Sechs Meter hoch züngeln die Flammen vor dem Bau der Gründerfamilie. Derlei hatte nicht einmal die Rote Ruhrarmee im Jahr 1920 gewagt. Aber Laakmann hat den Funken gezündet: Auge um Auge. Und drinnen, in der Villa Hügel, schauen blasse Aufsichtsräte hinunter auf die wütenden Männer, die laut skandieren: »Wir haben nichts mehr zu verlieren, nicht mal unseren Arbeitsplatz!«

Die Huckinger Betriebsräte haben ihren Rheinhausener Kollegen Anfang Dezember die Stilllegungspläne heimlich gesteckt. Seither fühlen sich die Krupp’schen Stahlarbeiter verraten und verkauft, und ihr Zorn schlägt solche Funken, dass keine ökonomische Vernunft sie mehr erreicht. Rentabilität?, fragt einer von ihnen am Tresen der Kneipe »Ritzendiele«, wen kümmere das: »Der Kölner Dom iss auch nich rentabel, warum wird der nich abgerissen?« Es liegt eine traurige Ironie darin, dass sich die Arbeiter, die der Marxismus einst von ihren Ketten befreien wollte, nun so sehr mit dem Namen Krupp identifizieren, dem Inbegriff des Kapitalismus. Das Lebensgefühl, die Tradition, der Stolz, »Kruppianer« zu sein, all das hängt an dem großen Stahlwerk.

DGB-Chef Ernst Breit, mit anderen Spitzengewerkschaftern zur Villa Hügel gereist, um eine Eskalation zu verhindern, spricht ins Mikrofon; zu hören ist etwas von »Delegation bilden«. Doch die Arbeiter wollen nichts hören von Delegationen. Die Menge strömt zu den schweren Türen und drückt. Innen versuchen die blau uniformierten Werkschützer dagegenzuhalten, werden aber von den Demonstranten zur Seite gedrängt, diese stürmen in die Villa und stehen schließlich in der kalten Erhabenheit der unteren Halle mit ihren Ölbildern streng blickender Altvorderer und den dunklen Tapisserien. Für einen kurzen Moment herrscht Stille, dann brüllt einer: »Und dafür haben wir geschuftet.«

Ein Stockwerk über ihnen macht sich der Aufsichtsratsvorsitzende Beitz bereit, auch er überrascht von der Militanz der Protestierer. Aber er will sich nicht verstecken. Der Gewerkschafter Heinrich Grönhoff bittet ihn eindringlich: »Herr Beitz, kommen Sie runter, sprechen Sie mit den Leuten, ich komme mit Ihnen, und Ihnen tut kein Mensch was, keiner fasst Sie an.« Der engagierte Grönhoff, den Beitz gern den »Politruk« nennt, ist Arbeitnehmervertreter im Krupp-Aufsichtsrat und einer von jenen Gewerkschaftern, mit denen er schon immer gut ausgekommen ist. Gemeinsam gehen sie die Treppe hinunter, viele Arbeiter kommen ihnen entgegen und rufen. Was hat ihnen der große alte Mann von Krupp zu sagen? Oft war er auf ihrer Seite. Wird er Cromme bremsen?

Aber die Hoffnungen sind vergebens. Beitz hat sich entschlossen, Crommes Kurs zu unterstützen, und nichts wird ihn davon abbringen. Er sagt: »Ich kann nicht mit so vielen gleichzeitig reden.« So formt sich doch noch eine Delegation, aber auch ihr erklärt er nur, dies sei eine der schmerzhaftesten Stunden seiner Zeit bei Krupp: »Was jetzt geschieht, tut mir auch weh.«

Ein Wort von ihm hätte genügt, und der Wind des Widerstands hätte Cromme aus dem Amt gefegt. Viele haben ihn gedrängt, seinen Stahlchef fallen zu lassen. Helmut Laakmann erinnert sich: »Viele bei uns haben damit gerechnet, dass Beitz dem Cromme das Licht ausknipst. Ich nicht. Die haben das zusammen ausgeheckt, und die Gewerkschaften und die Landesregierung hatten die Köpfe mit drin.« Und wirklich, Beitz steht zu Cromme. Dieser entwickelt ein Stehvermögen, das Beitz imponiert, und beweist nicht zuletzt auch Mut. Er begibt sich persönlich auf die Betriebsversammlung, obwohl ihn Topmetaller gewarnt haben: »Gehen Sie da nicht hin, wir haben es nicht im Griff!« Er lässt sich mit Eiern bewerfen und ausbuhen, aber die Ruhrarbeiter haben genug gesunden Menschenverstand, um die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen. »Ich habe die Leute ja sogar verstanden«, sagt Cromme heute. »Der Strukturwandel war brutal, das Ruhrgebiet vom Zechensterben und der Stahlkrise wundgescheuert.«

Der Sturm auf die Villa Hügel hat den Aufsichtsrat nicht in die Knie gezwungen, und so geht der Kampf weiter, radikaler noch als zuvor. Schon am nächsten Tag ist die Rheinhausener Brücke dicht. An den Auffahrten drängen sich Hunderte von Arbeitern und wärmen sich die klammen Hände an der Glut von Kohlekörben. Aus Rheinhausen kommen Frauen mit Glühwein und Brötchen. An der Spitze einer Solidaritätsdemonstration schreitet sogar ein junger Polizist, der herausfordernd ein Plakat mit einem Steckbrief Crommes trägt: »Gesucht wird Dr. Gerhard Cromme. Tot oder lebendig wegen Mord am Standort Rheinhausen und Betrug der Arbeitnehmer. Belohnung: Leben und Arbeiten in Rheinhausen …« Die Arbeiter haben den »Stahlaktionstag« ausgerufen und die Ausfallstraßen und Rheinbrücken besetzt; im halben Ruhrgebiet herrscht Verkehrschaos. Die Mütter und Frauen des Stadtteils, unterstützt von Menschen aus allen Nachbarstädten, ziehen in einem langen Fackelzug zum Tor I. Und inmitten der betagten Arbeiterhäuschen der Siedlung Margarethenhof in Rheinhausen liegt im Schmutz die Büste Friedrich Alfred Krupps, in dessen Zeit als Firmenchef das Stahlwerk gebaut wurde. Unbekannte haben das Denkmal des Firmengründers in der Nacht demontiert.

Geschlagene 160 Tage lang begehrt Helmut Laakmann, neben dem Rheinhausener Pfarrer Dieter Kelp und Betriebsrat Theo Steegmann die Führungsfigur in Rheinhausen, gegen die Schließung des Werks auf. Die Kruppianer streiken, sperren Autobahnen, sie stürmen das Verhandlungszimmer in der Krupp-Zentrale und scheren sich nicht um die Bannmeile des Düsseldorfer Landtags. Vor Crommes Privathaus steht zeitweilig eine bedrohliche »Mahnwache« von Werksangehörigen. Gewerkschaft und Landesregierung – Laakmann verachtet beide von Herzen – helfen am Ende, eine Schonfrist zu erreichen.

Die unerwartete deutsche Wiedervereinigung sorgt schließlich dafür, dass dem Stahlwerk Rheinhausen doch noch eine Gnadenfrist gewährt wird. Die Nachfrage nach Stahl ist groß, und so produziert Rheinhausen für eine Weile weiter. Für den trügerischen Hauch des Augenblicks bleibt alles so, wie es immer war. 1993 aber soll das Hüttenwerk dann endgültig zumachen. Helmut Laakmann mobilisiert noch einmal die alten Mitstreiter. Aber es ist das letzte Aufgebot. Im Saal der Kirchengemeinde »Auf dem Wege« sitzen im März 1993, müde an die Wand gelehnt, Laakmann und fünf weitere Meister aus dem Stahlwerk. Sie befinden sich im Hungerstreik. Doch selbst Pfarrer Kelp warnt ihn nun: »Wenn wir den Bogen überspannen, ist das der Schwanengesang für Rheinhausen.« Laakmann erwidert: »Du musst Mut haben.«

Aller Mut wird am Ende nichts helfen. Die Tage des Stahlwerks sind endgültig gezählt. Laakmann hat verloren, Cromme gewonnen, und an Mut hat es den Kontrahenten im Kampf um das Werk nicht gefehlt. Laakmann hatte den Mut zu kämpfen, Cromme den Mut, mit der Tradition zu brechen, und Beitz den Mut, ihn zu stützen. Aber es ist vorbei, die Zeit der tausend Feuer des Protests ebenso wie die des Hüttenwerkes Rheinhausen.

Heute erinnert fast nichts mehr an das große Stahlwerk außer einigen verlassenen Gründerzeitvillen aus jenen Tagen, als die Direktoren noch auf dem Werksgelände zu residieren hatten, um das Gefühl für den Betrieb nicht zu verlieren. Es sind bröckelnde Zeugen besserer Jahre, die Fenster, Türen und Dachluken zugenagelt. Davor erstreckt sich nun Logport, ein von 1999 an errichtetes Logistikzentrum mit Containerterminal, Hafen und eigenem Bahnanschluss, eine Erfolgsgeschichte für sich, die heute schon über 2000 Arbeitsplätze geschaffen hat. Die meisten Arbeiter aus Rheinhausen werden am Ende unterkommen, viele im Logport, aber mehr als 2000 allein auf der anderen Rheinseite in der Huckinger Hütte. Etwa 1000 wählten den vorgezogenen Ruhestand. 1991 sagt Cromme in einem Spiegel-Interview: »Noch in meiner Amtszeit bei Krupp Stahl ist keiner durch betriebsbedingte Kündigungen entlassen worden. Das konnte durch Sozialpläne immer vermieden werden, und darauf bin ich ganz besonders stolz.« Auch das ist ein Teil der ansonsten traurigen Geschichte von Rheinhausen, nur wird er nicht so oft erwähnt.

Für das Ruhrgebiet und seine alten Industrien bleibt »Rheinhausen« der Inbegriff des Niedergangs, eine triste Chiffre für eine Welt, die verschwindet und niemals wiederkommen wird. Für Berthold Beitz bedeutet das Kapitel einen der schlimmsten Momente seiner langen Karriere – und doch auch den Beginn des Wiederaufstiegs von Krupp.

Die Schließung des Traditionswerkes gefährdet zwar nicht die Existenz des Konzerns – wie die Finanzkrise von 1967 –, eigentlich ist sogar das Gegenteil der Fall, sie ist der erste Schritt zur Lösung des Problems. Dennoch trifft ihn Rheinhausen ins Mark. »Es war leider nötig, aber sehr schmerzhaft«, sagt Beitz heute, »und Gerhard Cromme hat das sehr gut gemacht.« Bei jeder großen Entscheidung nach dem Tod von Alfried Krupp hat sich Beitz gefragt: Wie hätte er darüber gedacht? Was hätte er an meiner Stelle getan? Und eigentlich hat er die Frage für sich fast immer so beantwortet, unabhängig vom Ausgang: Er hätte es nicht anders gemacht. Nur ein Mal nicht. »Nein«, sagt Beitz, »Alfried Krupp hätte der Schließung Rheinhausens nicht zugestimmt.«

1989: EIN ABSCHIED, DER KEINER IST

Die große Krupp-Krise ist 1988, mit dem Ende des Streiks in Rheinhausen, noch nicht ausgestanden. Die dramatischen Ereignisse am Rhein haben die Öffentlichkeit auf den wankenden Koloss aufmerksam werden lassen, mehr als es dessen Leitung lieb sein kann. Denn die Lage von Krupp ist insgesamt wenig erfreulich. Der Stahl, das alte Kerngeschäft: ohnehin ein Verlustbringer. Der Bau von Großanlagen, sonst eine sichere Bank: zu konjunkturabhängig. Der Einstieg in neue Technologien, in das sich abzeichnende elektronische Zeitalter: verpasst. Ökologisches Know-How: nicht konkurrenzfähig. Und wie in Alfried Krupps Zeiten tanzt der Konzern auf vielen Hochzeiten, zu vielen in den Jahren der Krise. 1987, kurz vor der Rheinhausen-Krise, ätzt das manager-magazin: »Die Firma hat von allem etwas, sie ist ein riesiger Kramladen fürfast alles – und fast nichts wird richtig gemacht.« Schuld daran sei der Herr auf dem Hügel, so das Wirtschaftsblatt in einer scharfen Attacke gegen Beitz: »Scheider muß immer auf den alten Mann in der Stiftung schielen. Was der will, ist letztlich entscheidend.«

Wie Krackow, Mommsen und Petry vor ihm steht Scheider im Schatten des Aufsichtsratschefs und hat nicht die Kraft, seine Autonomie erfolgreich zu verteidigen. Beitz wiederum sieht kein Problem darin, seinen Vorständen energisch dazwischenzufahren – etwa, wenn er mit Rücksicht auf die Belange der Arbeitnehmer Scheider über Jahre daran hindert, die Krupp’sche Traditionswerft AG Weser abzustoßen, die Verluste einfährt. Außerdem wird der Aufsichtsrat von alten Beitz-Vertrauten dominiert, wie Max Grundig, Hans Leussink und Walter Hesselbach. Das alles ist durchaus nicht unproblematisch; falsch ist es aber, Beitz die Hauptschuld für die Flaute der achtziger Jahre zu geben. Das operative Geschäft betreibt nämlich der Vorstand, und von dem kommen keine neuen Konzepte, sondern nur viele »kleine Taten« (manager-magazin).

So sind längst Schatten auf das Verhältnis zwischen Beitz und Scheider gefallen. Aus Pommern stammend wie Beitz, hat der Vorstandschef eine Zeitlang sogar als dessen möglicher Nachfolger gegolten und ihn 1982 auf die sehr persönliche DDR-Reise begleitet. In der Resch/Gödde-Krise hat er zeitig durchgegriffen und Beitz den Rücken gestärkt. Dennoch ist das Verhältnis der beiden Männer 1988 schon stark gespannt, auch wenn sie nach außen hin Einigkeit demonstrieren. »Wir wollen«, so Beitz in einem Interview, »gemeinsam eine Sache verrichten, die vorzeigbar ist.« Im Grunde aber traut Beitz Scheider nicht mehr zu, Krupp zu modernisieren. Als Vorsitzender der Stiftung bekommt er außerdem die Finanzmisere zu spüren, denn die Dividende fällt wenig üppig aus. Als deutlicher Misstrauensbeweis gilt Insidern zudem ein Schachzug von Beitz, der mit Jürgen Rossberg einen seiner Getreuen aus der Stiftung in den Vorstand holt. Im Juni 1988, erstmals seit langem, macht der iranische Anteilseigner wieder auf sich aufmerksam, und zwar mit einem Paukenschlag: Navab-Motlagh, der Vertreter im Aufsichtsrat, verweigert Scheider die routinemäßige Entlastung für das zurückliegende Geschäftsjahr. »Was muß eigentlich noch passieren«, fragt der Iraner, der mit Beitz immer gut gekonnt hat, »bis Krupp einmal wieder Geld verdient?« Die Abstimmung über den Vorstand wird daraufhin hastig vertagt.

Personalgerüchte kursieren, für den Konzern sind sie wie lähmendes Gift. Seit 1967 haben Krupp und damit Beitz nicht mehr eine so schlechte Presse gehabt. Nicht ohne Häme schreibt der Spiegel: »Vorstandschef Wilhelm Scheider hat die Wende zum Besseren nicht geschafft. Mögliche Nachfolger wollen nicht kommen, solange Beitz im Amt ist. Es ist fast eine Posse: Die fällige Ablösung Scheiders ist nicht möglich, weil der starrsinnige Patriarch an seinem Posten hängt.«

Zu den Ersten, die dem 75-Jährigen offen den Rücktritt nahelegen, gehört schon im Sommer 1988 Detlev Karsten Rohwedder, der Vorstandsvorsitzende des Hoesch-Konzerns, der ein Angebot von Beitz abgelehnt hat, Nachfolger Scheiders zu werden. Er schreibt ihm: »Sie würden den Problemen nicht gerecht, wenn Sie sich darauf beschränkten, einen Nachfolger von Herrn Scheider zu suchen.« Im Klartext: Beitz soll endlich loslassen. »Den für die äußerst schwierige Aufgabe, Krupp die Unabhängigkeit zurückzugeben, geeigneten Mann finden Sie nur, wenn Sie ihm die größtmögliche Unabhängigkeit für seine Arbeit geben … Krupp ist in einer Lage, in der Sie mit Ihrer eigenen Person das Zeichen setzen müssen. Noch haben Sie es in der Hand.« Beitz soll sich also vom Vorsitz des Aufsichtsrates zurückziehen, solange er das aus eigenen Stücken tun kann.

Beitz schwankt eine Weile, doch auf keinen Fall will er vor Scheider gehen, denn das sähe aus wie ein Schuldbekenntnis. Andererseits: Mehr und mehr läuft der Vorsitzende des Aufsichtsrats Gefahr, nur noch wie ein Getriebener zu wirken. Sogar im eigenen Aufsichtsrat verliert er Rückhalt: Wolfgang Röller, Chef der Krupp’schen Hausbank Dresdner Bank, Daimler-Vize Werner Niefer und Rudolf von Bennigsen-Foerder, Vorsitzender der Veba, stellen Beitz ein Ultimatum. Entweder er tritt ab – oder sie gehen. Damit wäre Beitz, der dank der Arbeitnehmervertreter stets Mehrheiten im Aufsichtsrat gewinnen würde, nicht gestürzt, aber öffentlich als Schuldiger am Krupp-Debakel angeprangert. In dieser misslichen Lage rettet ihn der Vorschlag des Thyssen-Vorstands Dieter Spethmann, Krupp einfach aufzukaufen. Beitz lehnt unter Berufung auf Alfried Krupps Erbe zwar ab, aber im folgenden Sturm interner Debatten ist das Ultimatum der drei Wirtschaftsführer plötzlich kein Thema mehr. Gerade die Dresdner Bank muss sich hinter ihn stellen, da Thyssen den Kauf mit Hilfe des größeren Konkurrenten Deutsche Bank finanziert hätte. Ende 1988 verlässt aber Bennigsen-Foerder ostentativ das Gremium.

Dann aber ist es plötzlich doch so weit. Ganz unspektakulär kündigt Berthold Beitz in der Aufsichtsratssitzung am 7. Dezember 1988 seinen Rücktritt für die Mitte des folgenden Jahres an. Die Firmenzeitschrift widmet dem Ereignis drei Sätze, so als sei es die normalste Sache der Welt. Nach mehr als dreißig Jahren verlässt Beitz also den Aufsichtsrat, dem er von der ersten Stunde an angehört hat – zunächst, 1967, als Vize, dann, nach der Entmachtung von Abs 1970, als Vorsitzender. Das sieht nach einer Epochenwende aus, dem großen Schnitt, jenem Ende seiner Herrschaft, das seine Kritiker ja auch herbeiführen wollten.

Ungeachtet aller Nachrufe aber lautet die schlichte Wahrheit: Es gibt gar keine Epochenwende und kein Ende seiner Herrschaft. Im Gegenteil wächst der Nimbus des Patriarchen nur: Der Rücktritt ist ein geschickter Schachzug von Beitz zur Auflösung einer verfahrenen Konstellation. Trocken notiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung: »Beitz hat sich damit keineswegs entmachtet, sondern ist wieder handlungsfähig geworden.« Den Misslichkeiten des Firmenalltags und den hysterischen Personalspekulationen in Aufsichtsräten und Leitartikeln entrückt, aber faktisch auf Lebenszeit Vorsitzender des Stiftungskuratoriums, vertritt er weiterhin, von den Iranern einmal abgesehen, den Alleinbesitzer der »Firma«, nämlich 74,99 Prozent der Anteile. Und das bedeutet: Auch weiterhin führt kein Weg an ihm vorbei.

Der scheinbare Rückzug erlaubt es Beitz darüber hinaus, seine Bataillone weit besser aufzustellen, als dies zuvor möglich gewesen war. Denn ehe er dann wirklich geht, ersetzt er noch den ungeliebten Scheider durch seinen besten, jedenfalls getreuesten Mann: Gerhard Cromme wird Mitte 1989 neuer Vorstandsvorsitzender von Krupp. Um das zu erreichen, scheut Beitz auch eine veritable Kraftprobe mit seinen alten Freunden aus den Gewerkschaften nicht, über die er sonst sagt: »Meine Truppen stehen links!« Unter den Arbeitnehmern im Aufsichtsrat gibt es zunächst Widerstand gegen den »Jobkiller« von Rheinhausen. Beim ersten Schritt von Crommes Aufstieg, der Aufnahme des Stahlchefs in den noch von Scheider geleiteten Vorstand des Gesamtkonzerns im Dezember 1988, nur ein Jahr nach Rheinhausen, meutern sie bei einer Krisensitzung im Parkhaus Hügel, einem schönen Traditionsrestaurant am Baldeneysee unterhalb der Villa Hügel. Beitz macht deutlich, dass die Personalie Cromme für ihn nicht verhandelbar sei. Er stellt sich vor seinen Mann. Jede Ablehnung wäre damit eine offene Kampfansage an Beitz selbst. Am Ende wird Cromme bei nur einer Stimme Enthaltung – dem Verantwortlichen für Rheinhausen – in den Vorstand gewählt, dessen Vorsitz er dann schon ein halbes Jahr später übernehmen wird. Cromme sagt heute dazu: »Berthold Beitz hat das im Hintergrund durchgesetzt. Ich bin heute noch stolz darauf, dass es keine Gegenstimme gab – das zeigt aber auch die Art, wie Herr Beitz die Arbeitnehmer mit einnimmt.«

Anfang 1989 sieht es eine Weile so aus, als würde einer der profiliertesten Manager des Landes, der Chef der Deutschen Bank Alfred Herrhausen, Beitz’ Nachfolger als Vorsitzender des Aufsichtsrates. Das lehnen aber gleich zwei Banken ab: die Dresdner, dem Hause Krupp eng verbunden, und die Deutsche, wo man die Zusatzbelastung für den Spitzenmann nicht hinnehmen will. So wird nichts daraus.

Alfred Herrhausen wird dann am 30. November desselben Jahres durch ein Bombenattentat von RAF-Terroristen ermordet. Statt seiner tritt schließlich das Aufsichtsratmitglied Manfred Lennings die Nachfolge von Beitz an, der frühere Vorsitzende der Gutehoffnungshütte in Oberhausen. Der erfahrene Industriemanager ist keine so prominente Besetzung, wie es Herrhausen gewesen wäre, aber ein exzellenter Fachmann und nebenbei ein Hobbysegler, über den die FAZ schreibt: »Lennings wird das Ruder des Schiffes nur in dem mittelbaren Sinne führen dürfen, wie das ein Reeder tut; die eigentliche Führung muß beim Kapitän liegen, und das ist der Vorstandsvorsitzende. Aber um das zu wissen, kennt sich Lennings in der christlichen Seefahrt hinreichend aus.« Zu den neuen Aufsichtsräten gehört auch Friedel Neuber, der mächtige Boss der West LB. Beitz selbst verlässt das Gremium mit dem Titel des Ehrenvorsitzenden.

Mag sich Beitz nun, in der Wendezeit, noch so intensiv seinen Stiftungsprojekten in Ostdeutschland widmen: An seinem Arbeitsalltag ändert sich nichts. Jede Ankündigung, er wolle einmal kürzertreten, bleibt – eine Ankündigung. Tatsächlich wird Berthold Beitz die Ära Cromme, die mit der Schließung der Rheinhausener Hütte so dramatisch begonnen hat, ganz wesentlich mitprägen. Es ist eine Ära des Wiederaufstiegs, wie ihn 1988, ähnlich wie 1967, nur wenige für möglich gehalten hätten.

Gewiss, die durch den Aufbau Ost belebte Konjunktur hilft zunächst kräftig mit. Aber es sind auch kühne Unternehmensentscheidungen, die den Herbst des Patriarchen bestimmen, und mit Cromme hat Beitz den Mann gefunden, der die Sanierung des Konzerns entschlossen fortsetzt. Cromme weigert sich selbst im kurzen Stahlboom der frühen neunziger Jahre, den Standort Rheinhausen doch zu erhalten. So zerstört er alle Hoffnungen, die sich dort ausgebreitet hatten, und treibt Helmut Laakmann, den alten Widersacher, in die letzten verzweifelten Rückzugsgefechte. Aber langfristig ist die Entscheidung richtig. Die Konjunktur wird wieder abreißen, der Stahl wieder kriseln, und die alten Probleme der Überkapazität wären die neuen gewesen.

Weit wichtiger ist die Übernahme von Hoesch in Dortmund, also jenes Konkurrenten, dessen Boss Rohwedder Beitz 1988 noch den wohlmeinenden Rat gegeben hat, sich doch endlich zurückzuziehen. Rohwedder selbst, der 1990 die Leitung der Treuhandgesellschaft zur Privatisierung der DDR-Staatsbetriebe übernommen hat, wird später ermordet, vermutlich, wie Herrhausen, ein Opfer der RAF, obwohl beide Morde nicht endgültig aufgeklärt werden. 1991 erschießt ihn ein Heckenschütze durch ein Fenster seines Hauses. Hoesch jedenfalls fällt durch einen Coup an Krupp, den Cromme mit Beitz’ voller Rückendeckung geschickt vorbereitet hat. Kurz vor Weihnachten 1991 teilt die Fried. Krupp GmbH einer überraschten Öffentlichkeit und einer noch überraschteren Hoesch-Unternehmensspitze mit, dass man nunmehr über 51 Prozent der Aktienanteile des Dortmunder Unternehmens verfüge. Es ist eine klassische »feindliche Übernahme«: Mit Hilfe der Schweizerischen Kreditanstalt hat Cromme heimlich ausreichend Aktien der Gegenseite erstanden. Der neue Konzern Krupp-Hoesch hat 110 000 Beschäftigte und 33 Milliarden Mark Gesamtumsatz. »Herr Beitz«, erklärt Cromme heute, »hat das alles mitgemacht. Durch die Fusion ist der Anteil der Krupp-Stiftung am Unternehmen ja auf 51 Prozent gesunken. Das war nicht leicht für ihn. Aber er war immer dafür, sinnvolle Veränderungen zu akzeptieren.«

Wie bei jemandem wie Cromme kaum anders zu erwarten, mobilisiert die gewerkschaftlich bestens organisierte Hoesch-Belegschaft ihr Protestpotenzial gegen den Krupp-Chef und »das Diktat der Banken«. Hoesch ist ein 120 Jahre altes Traditionsunternehmen. Doch es wird geschluckt – und Krupp wird in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, ein gewaltiger Schritt, den Alfried Krupp stets abgelehnt hatte. Zur Stiftung und dem Iran kommen nun die ehemaligen Hoesch-Aktionäre hinzu. Hatte nicht Alfred Krupp einst bemerkt, bei ihm warteten »keine Actionärs auf die Dividende«? Er sah dies, so der Essener Journalist Frank Stenglein, »als einen unbedingten Vorteil für das Gedeihen der Firma. Nun warten sie also doch, allerdings vorerst vergeblich. Denn mit Recht hatte Cromme schwere Zeiten prophezeit.«

Letztlich aber, so lautet bald die Meinung von Experten, entspreche die Fusion »der industriellen Logik«: Nicht Masse, sondern Qualität ist künftig gefragt, und konkurrenzfähig bleibt nur ein Konzern, der im globalen Wettbewerb, der nach 1989 um ein Vielfaches an Schärfe zunimmt, groß genug ist. Wie sich wenig später zeigen wird, ist die Übernahme von Hoesch nur der erste Schritt auf diesem Weg, der den Konzern wieder weit nach oben führen wird.