»Einmal sehen ist besser als hundertmal hören«:
Von Essen um die Welt

BRANDTS KNIEFALL IN WARSCHAU:
BERTHOLD BEITZ UND DIE ENTSPANNUNGSPOLITIK

Es liegt eine Ahnung in der Luft, eine Ahnung vom Wandel. So empfindet Willy Brandt, Regierender Bürgermeister Westberlins, die Zeit nach seiner Wahl zum SPD-Vorsitzenden 1964. Noch gilt Berlin als »Frontstadt«, und doch weichen die Fronten langsam auf. In der Ostberliner Botschaft der UdSSR trifft Brandt bei einem Abendessen den berühmten Cellisten Mstislaw Rostropowitsch und fühlt sich wie unter Freunden. Kommen Sie uns doch einmal besuchen, sagt Botschafter Pjotr Abrassimow zu Brandt, es gibt so viel zu besprechen über das Verhältnis unserer Staaten. Brandt lehnt nicht ab. Konkretere Formen nimmt die Einladung dann im Herbst 1965 an, und zwar im Hause von Berthold Beitz.

Dort ist häufig Andrej Smirnow zu Gast, Vertreter des Kreml in Bonn. Eines Abends lädt Beitz Brandt dazu ein. Er kennt den Sozialdemokraten bereits aus Berlin, wo sie in dem einen oder anderen Fall frustrierender Versuche von deutsch-deutschen Familienzusammenführungen miteinander zu tun gehabt haben. Einmal gab es Probleme mit der Wasserversorgung in der geteilten Stadt. Beitz fuhr auf Bitten Egon Bahrs nach Ostberlin zu DDR-Handelsminister Rau und bereitete Gespräche beider Seiten zur Lösung der Sache vor. Jetzt, im Herbst 1965 und kurz vor der Bundestagswahl, sitzt er mit Brandt und Smirnow im heimischen Wohnzimmer, und der Russe erneuert die Einladung, der SPD-Vorsitzende möge doch einmal nach Moskau reisen; er preist sogar schöne Quartiere, in denen Brandt sich wohlfühlen werde.

Beitz ist aus Smirnows Sicht auch deshalb der geeignete Moderator, weil der Russe zuletzt nicht selten mit dem Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft gehadert hat, der nach Smirnows Meinung zu viel Rücksichten auf Bonn nehme. Beitz aber hält sich von dem Verband bekanntlich fern.

Unter Kanzler Erhard und Außenminister Gerhard Schröder hat sich die Bonner Ostpolitik zwar ein wenig bewegt, wegen des Festhaltens an der Hallstein-Doktrin aber zu wenig aus Sicht Moskaus. Mehr versprechen sich die Russen von Brandt. Nach wie vor gibt es keine Anerkennung der Nachkriegsgrenzen durch Bonn, keine diplomatischen Beziehungen in den Ostblock mit Ausnahme Moskaus, keine Schritte zur Versöhnung, geschweige denn zum Eingeständnis deutscher Schuld, die doch erst zu Vertreibung und Gebietsverlusten geführt hatte. 1965 fordert die Evangelische Kirche in ihrer Ostdenkschrift, was Beitz schon immer verlangt hatte: eine neue Ostpolitik, die sich nicht darin erschöpfe, einen aussichtslosen »Rechtsstandpunkt starr und einseitig zu betonen«.

»Wandel durch Annäherung« – den Begriff prägt Egon Bahr – ist das politische Gegenkonzept zur frucht- und erfolglosen Ostpolitik der CDU-Kanzler und entspricht genau Beitz’ Mission in Osteuropa, geht es dabei doch im Kern um politischen Wandel durch ökonomische Annäherung. Brandts Griff nach der Kanzlerschaft scheitert im September 1965 zunächst, als Erhard die Bundestagswahlen gewinnt. Doch schon im folgenden Jahr kommt es zur Großen Koalition von Union und SPD, und Beitz gründet bei Krupp demonstrativ eine eigene Ostabteilung. Als neuer Außenminister beendet Brandt Schröders erfolglose Politik, die Sowjetunion durch wirtschaftliche Stärkung ihrer Satellitenstaaten zu isolieren.

Im September 1969 beginnt ein Epochenwechsel: Brandt, der die Frustration von 1965 längst überwunden hat, gewinnt die Bundestagswahl; die neue sozialliberale Koalition will »mehr Demokratie wagen« – und eine neue Ostpolitik: Anerkennung politischer Realitäten, Annäherung statt ideologischer Konfrontation. Wiederum auf Egon Bahr geht eine Formulierung zurück, die Brandt im Bundestag einer schäumenden Opposition entgegenhält: »Kleine Schritte sind besser als keine Schritte.« Beitz findet dies sehr plausibel. Er lebt, seit er mit Brandt und Smirnow in seinem Wohnzimmer saß, »in dem schönen Bewußtsein, recht zu behalten«, wie ein Münchner Reporter schreibt. Zu Willy Brandt entwickelt sich bald sogar eine Art Freundschaft. Gerade als Wegbereiter der Ostpolitik seit den späten fünfziger Jahren genießt Berthold Beitz hohes Ansehen beim Kanzler und dessen Vertrauten wie Egon Bahr. So bekennt er sich öffentlich, etwa in einem Interview mit dem Wirtschaftsmagazin Capital, zur neuen Ostpolitik: Die Regierungen Konrad Adenauers hätten »keine Ahnung von den Vorgängen im Osten« gehabt. »Sie machten Politik, ohne diese Länder zu kennen.« Unter Erhard und Kiesinger habe sich wenig bewegt, und erst »Willy Brandt betreibt jetzt wirklich Ostpolitik, mit sehr viel Mut und Energie«.

Schon sehr bald, noch Ende 1969, bittet der neue Kanzler Beitz, als Teil seiner Delegation mit nach Warschau zu fahren – zu einer Versöhnungsreise, die von historischem Wert sein wird. Marion Gräfin Dönhoff, Herausgeberin der Wochenzeitung Die Zeit, sagt in letzter Minute ab, zu groß ist der Schmerz über die verlorene Heimat im Osten; ein Verlust, der unwiderruflich ist, nun aber von Staats wegen zugunsten der Versöhnung akzeptiert wird. Berthold Beitz dagegen nimmt die Einladung gern an.

Er hat zudem einigen Anteil daran, dass die Reise überhaupt stattfindet. Seit mehr als einem Jahrzehnt ist er regelmäßig Gast in Warschau, während die Politiker um Brandt dort buchstäblich Neuland betreten. Beitz aber genießt in Polen Vertrauen, ein hohes Gut angesichts der Tatsache, dass das Verhältnis der beiden Staaten ansonsten seit einem Vierteljahrhundert überwiegend von Wut, Vorwürfen und Misstrauen geprägt ist. Der Kanzler verfasst einen persönlichen Brief an Polens Ministerpräsidenten Józef Cyrankiewicz und bittet Beitz, das Schreiben persönlich zu überbringen. Es ist der erste Weihnachtsfeiertag 1969.

Der Brief ist eine Reaktion auf den Vorstoß des kommunistischen Parteichefs Polens, Wladyslaw Gomulka. Der hat der neuen deutschen Regierung sogleich Verhandlungen über die leidige Grenzfrage angeboten. Die Hoffnungen, die man in Warschau mit den Neuen in Bonn verbindet, sind groß; gerade für Gomulka hängt viel davon ab, wird er doch als »Nationalkommunist« im Kreml wie bei den ideologischen Betonköpfen im eigenen Land wenig geschätzt. Beitz erfüllt nun also noch einmal die Aufgabe des inoffiziellen Mittlers zwischen zwei Welten. Den Brief hat Brandt »persönlich und nicht-öffentlich« an Cyrankiewicz gerichtet, und darin drückt er den Wunsch aus, zu einer »Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden Staaten« zu kommen »und, was noch wichtiger wäre, … einer Aussöhnung zwischen Ihrem und meinem Volk«. Kern der Botschaft: Ja, die Deutschen sind bereit, mit Polen zu verhandeln, aber noch nicht sofort, nicht als Erstes. Der Kanzler schätzt die Lage so realpolitisch wie korrekt ein, wie er später in seinen Erinnerungen schreibt: »Es gab keine Wahl, der Schlüssel zur Normalisierung lag in Moskau. Und da war ja nicht nur die Macht zu Hause, sondern ein Volk, das ebenfalls schrecklich gelitten hatte.«

Was die Botschaft des Kanzlers an Warschau angeht, so wählt Brandt Beitz als Überbringer, weil er eben wegen der russischen Frage die Polen diskret informieren will. Zu Beitz sagt er, wie Mieczyslaw Rakowski, der einflussreiche Chefredakteur der polnischen Wochenzeitung Polityka, überliefert, der den Brief dann beantworten wird: »Niemand in der Regierung soll davon erfahren.« Er wolle die Verhandlungen zwischen Warschau und Bonn erst im Februar [1970; J. K.] beginnen, nicht, wie geplant, gleich zu Jahresbeginn, und sie bis Juni fortsetzen. Die Polen sollten also nicht drängen, das sei nicht nötig. Er möchte vermeiden, dass der geplante Ausgleich mit Warschau einen innenpolitischen Proteststurm entfacht, vor allem bei der Union und den Vertriebenenverbänden, und dass sich Leonid Breschnew, der Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, dadurch vor den Kopf gestoßen fühlt.

Berthold Beitz landet am Dreikönigstag 1970 mit einer Privatmaschine auf dem Warschauer Flughafen. Wie immer steht Cyrankiewicz’ Tür dem Freund aus dem Westen weit offen; der überreicht ihm den Brief des Kanzlers und versichert ihm, dass die Gespräche zwischen Bonn und Warschau nicht nur wirtschaftliche Fragen betreffen, sondern »gemeinsam mit den politischen behandelt werden«. Erfreut erwidert der Ministerpräsident, er werde Brandt binnen einer Woche antworten, und er bittet Rakowski, das entsprechende Schreiben zu formulieren. Die Antwort ist selbstredend sehr positiv. Die Polen werden warten, wenngleich die »Anerkennung der Oder-Neiße-Linie« laut Rakowski Polens »Bedingung für die Normalisierung der Beziehungen« sei. Sonst erfährt auch in Warschau niemand etwas davon. Cyrankiewicz ermahnt Rakowski noch, die Sache sei so geheim, »darüber darfst du nur deinem Hund etwas sagen«.

Die neue Ostpolitik bringt die CDU/CSU-Opposition in die Defensive. Die Union reagiert mit einer Nein-Haltung, die sie weit hinter die eigenen Einsichten der Ära Schröder zurückwirft und die mit dem konstruktiven Misstrauensvotum von Rainer Barzel 1972 sowie bei den folgenden Bundestagswahlen schließlich spektakulär scheitern wird. Umso schwerer haben es die fortschrittlichen Christdemokraten, die es ja auch gibt, unter ihnen Richard von Weizsäcker, Walther Leisler Kiep und Erik Blumenfeld, Berthold Beitz’ alter Freund aus Hamburg. Blumenfeld schreibt ihm nach Essen, es gebe auch in der Union eine »vernunftbezogene« Gruppe, und er unterstützt Beitz’ Haltung: »Laß mich noch einmal – was Polen anlangt – meine Meinung dahingehend präzisieren, daß wir gegenüber Polen eine moralisch-politische Hypothek abzubauen haben.«

Der erste große Durchbruch zur Entspannung ist dann der deutsch-sowjetische Vertrag vom 12. August 1970, ausgehandelt im Wesentlichen von Egon Bahr, unterzeichnet von Brandt und FDP-Außenminister Walter Scheel. Er bestätigt den Status quo, Gewaltverzicht und Anerkennung der bestehenden Grenzen. »Für die Bundesrepublik«, schrieb später der Publizist Peter Bender, »wurde der Moskauer Vertrag zum Tor nach Osteuropa. Er ermöglichte alles, was ihr später östlich der Elbe gelang.«

Schon für die russische Mission hätte Brandt den Krupp-Mann gern gewonnen. Auf seine Bitte begleitet Beitz im September 1970 Wissenschaftsminister Hans Leussink auf einer Moskau-Reise. Als er auf dem Moskauer Flughafen Scheremetjewo eintrifft, sagt er den deutschen Journalisten nicht ohne erkennbare Genugtuung: »Es ist schon eigenartig. Ein Kanzler hat mich wegen meiner Ostbeziehungen für politisch unzuverlässig erklärt, der andere schickt mich nach Rußland.« 1971 wird er ein Angebot des Kanzlers ablehnen, Regierungsbeauftragter für deutsch-sowjetische Wirtschaftsbeziehungen und Mitglied der gemeinsamen Wirtschaftskommission zu werden. »Ich bin«, schreibt er an Brandt, »überzeugt, daß ich unserem gemeinsamen Anliegen und den Interessen unseres Landes auch auf andere Weise dienen kann.«

Erst durch die Zustimmung der östlichen Supermacht wird die eigentliche Entspannungspolitik möglich. Und mit keinem anderen Land, außer der DDR, ist Entspannung so überfällig wie mit Polen. Deshalb hat Brandt auch Beitz eingeladen, ihn auf seiner Warschau-Reise zu begleiten, da er »den Wunsch weiter Kreise der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland, zu einem Ausgleich mit dem polnischen Volk zu kommen«, verkörpere. An einem kalten Dezembertag 1970 landet die Delegation aus Deutschland in Warschau. Neben Brandt, Bahr und Scheel sind die Schriftsteller Siegfried Lenz und Günter Grass dabei, WDR-Intendant Klaus von Bismarck und Stern-Chef Henri Nannen, Otto Wolff von Amerongen und Berthold Beitz. Ministerpräsident Cyrankiewicz empfängt Brandt am Flugzeug, die Ehrengarde der polnischen Armee salutiert, über dem Flughafen erklingt, erstmals seit sehr vielen Jahren, die deutsche Nationalhymne. Chefredakteur Rakowski, der an der Zeremonie teilnimmt, hat Tränen in den Augen. Er wird, das fühlt er, »Zeuge eines historischen Ereignisses«.

Am folgenden Tag, dem 7. Dezember 1970, fällt Willy Brandt vor dem Denkmal des Warschauer Ghettos auf die Knie, als Zeichen der Demut und deutscher Schuld. »Ob die Geste etwa geplant gewesen sei? Nein, das war sie nicht«, hat Brandt später stets erklärt. Und die Schuld ist gewiss so wenig die des Hitlergegners Brandt (der ins Exil gegangen war) wie die seines Delegationsmitglieds Berthold Beitz, der am Nachmittag neben Bahr sitzt, als die dunkle Wagenkolonne der Besucher zum Mahnmal für den so heroischen wie verzweifelten Aufstand der Warschauer Juden 1943 aufbricht. Dort herrscht Gedränge – die Delegationen, der Tross, die vielen Fernsehkameras. Aber dann scheint die Zeit für einen kurzen Moment stillzustehen: Willy Brandt fällt auf die Knie und verharrt eine halbe Minute schweigend auf den winterfeuchten Steinplatten im Gedenken an die Opfer. Beitz ist erst überrascht und denkt sich: »Na, was macht er denn jetzt?« Später sagt er nachdenklich: »Die Last, die er trägt, läßt ihn ganz demütig handeln.«

Er bewundert an Brandts Geste etwas, was ihm selbst ein hohes Gut ist: die Freiheit, den Moment zu erkennen und gegen alle Bedenken und Widerstände das zu tun, was man für richtig hält. Ein Bundeskanzler, der auf den Knien Abbitte für deutsche Schuld leistet: Brandt hat etwas getan, was daheim wütende, oft hysterische Abwehrreaktionen auslöst, im Ausland aber das Bild der Deutschen sehr nachhaltig verbessern wird.

Zu lange hatten viele Deutsche und die bisherigen Bundesregierungen so getan, als seien alle deutschen Schicksalsschläge seit 1945, als seien Vertreibung, Verlust der Ostgebiete und die Teilung des Landes alleinige Schuld des Kommunismus und Moskaus. Brandt hat diese Selbsttäuschung nirgendwo auf so wirksame Weise zerstört wie bei seinem Kniefall vor dem Denkmal der Opfer deutschen Terrors. Beitz hat diesen Terror selbst erlebt, er weiß, wie recht Brandt hat, der zur Begründung seiner Ostpolitik sagt, Deutschlands Tragödie sei »durch eigene Schuld, jedenfalls nicht ohne eigene Schuld« zustande gekommen; nun sei es Zeit, die Folgen als Realität zu begreifen. Er, Brandt, habe »nichts verspielt, was nicht längst verspielt war«, schon gar nicht die verlorenen Gebiete jenseits von Oder und Neiße. Brandt nimmt damit vorweg, was Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag des Kriegsendes sagen wird: »Wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursachen für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegen vielmehr an seinem Anfang und am Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Kriege führte.«

Im Palais Radziwill wird an diesem 7. Dezember 1970 der Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und Polen unterzeichnet. Mit ihm beginnt eine neue Epoche im deutsch-polnischen Verhältnis.

Beitz bleibt nach Brandts Abreise noch eine Weile in Polen, besucht Freunde und Gesprächspartner; unter anderem fährt er mit dem polnischen Handelsrat Lachowski nach Jaslo, seinem ersten Einsatzort von 1939 in der Nähe von Boryslaw.

Beitz bleibt ein bekennender Anhänger der Entspannungspolitik. Er wirbt für sie beim sowjetischen Ministerpräsidenten Kossygin, als er 1971 als Leiter einer bundesdeutschen Wirtschaftsdelegation nach Moskau fliegt. Eigentlich geht es dabei um den Aufbau von Fachkommissionen für den Handel, aber Kossygin sagt den Industriellen, unter ihnen auch Max Grundig: »Wir sind überzeugt, daß die Politik von Kanzler Brandt eine mutige Politik ist, die den Interessen unserer Zeit entspricht.« Beitz tritt auch 1972 für diese Politik ein, als CDU-Oppositionschef Rainer Barzel sein konstruktives Misstrauensvotum zum Sturz des Kanzlers vorbereitet. Zusammen mit weiteren Prominenten stellt er sich im Wahlkampf mit großen Zeitungsannoncen hinter die Ostpolitik der Koalition: »Wir unterstützen Berlin und die Ostverträge – tunSie’s auch!« Weiter heißt es darin: »Eine Ablehnung der Verträge würde die Bundesrepublik in die internationale Isolierung treiben, und zwar nicht nur bei ihren westlichen Freunden. Sondern auch in Osteuropa, wo die zur Verständigung und Zusammenarbeit ausgestreckte Hand ausgeschlagen und unser Friedenswille unglaubhaft würde. Zudem würden in Osteuropa alle jene Kräfte Auftrieb erhalten, die gegen Entspannung sind.« Zu den Unterzeichnern des Aufrufs zählen angesehene Historiker wie Karl Dietrich Bracher, Hans Mommsen und Golo Mann, Verleger wie Gerd Bucerius, der Publizist Eugen Kogon sowie Wolf Graf von Baudissin, der geistige Vater der Bundeswehr, und drei Manager: Beitz, Ernst Wolf Mommsen und Willy Ochel, ehemaliger Vorstandschef von Hoesch und nun Krupp-Aufsichtsrat. Otto Wolff von Amerongen hat es nicht gewagt, den Aufruf zu unterstützen, aus Sorge, den Deutschen Industrie- und Handelstag, dem er als Präsident vorsteht, in den Streit der Parteien zu verwickeln. Noch immer steht die Front der Industriellen gegen die Ostpolitik; sie bröckelt erst nach Brandts großem Wahlsieg im November 1972.

In der ersten Hochphase der Entspannung wird es auch einfacher für Beitz, die polnische Seite in humanitären Fragen großzügiger zu stimmen. Über Lachowski kann er eine Reihe von politischen Häftlingen herausholen; polnische Mittelsmänner schlagen ihm gelegentlich sogar den Austausch von Gefangenen vor. Dann schreibt Beitz wieder einmal an Lachowski, dieser möge doch mit seinen »Freunden über eine großzügige Regelung dieser Angelegenheit sprechen«.

1972 hält Beitz eine Grundsatzrede vor dem Polnischen Institut für Internationale Beziehungen in Warschau, in der er die neue Ostpolitik Brandts und Scheels für »den entscheidenden Durchbruch« und den »grundsätzlichen Wandel« der deutschen Politik gegenüber Polen lobt. Er selbst habe nach dem Krieg »nicht gedacht, daß der Prozeß der Verständigung so lange dauern würde«. Und er fügt an: »Wir werden die Grundunterschiede zwischen den Systemen, in die sich unsere Länder eingefügt haben, nicht aufheben können. Aber es soll unser Ziel sein, die Schärfe und Trennwirkung dieser Unterschiede nach Kräften zu mildern.«

Gerade aber wegen der anhaltenden Widerstände in Deutschland gegen die Neue Ostpolitik will der Kanzler Beitz’ vielfältige Verbindungen hinter den Eisernen Vorhang und das große Renommee des Krupp-Aufsichtsratschefs dort nutzen. 1972 schickt Brandt seinen Kanzleramtsminister Horst Ehmke vor, der, wie sich Beitz erinnert, gleich zur Sache kommt: »Berthold, du sollst Botschafter in Warschau werden! Der Willy will das so.« Beitz lehnt spontan ab, doch der Emissär aus Bonn drängt: »Aber der Willy will das wirklich.« Der Umworbene: »Aber ich gehe nicht.«

Er würde seine Unabhängigkeit verlieren, fürchtet er, Teil des politischen Apparats und seiner Hierarchien werden, von denen er sich stets ferngehalten hat. Er ändert seine Meinung auch nicht, als Brandt ihm den Botschafterposten in Moskau anbietet. Zu Ehmke sagt Beitz: »Horst, ich will dir mal erzählen, was passieren würde, wenn ich dieses Angebot annehme. Ich bin dann Botschafter in Moskau, und dann kommt irgendein Minister angereist, und ich muss am Flugzeug stehen und ihn abholen. Und nachher erzählt er mir, mein Hotelzimmer hat mir nicht gefallen, Herr Beitz, schauen Sie, dass das nicht mehr vorkommt. Solche Sachen passieren zwei-, dreimal, und dann sage ich denen in Bonn: Ihr könnt mich mal.« Und das wäre schwerlich der richtige Schlusspunkt für Beitz’ Mission in Osteuropa.

So bleibt er ein Weggefährte der neuen Ostpolitik. Am 20. Mai 1973 kommen Beitz und Otto Wolf von Amerongen in den neuen Bonner Kanzlerbungalow. Dort, im Konferenzsaal, ist KPdSU-Chef Leonid Breschnew zu Gast und macht einer Runde von Wirtschaftsgrößen Hoffnungen auf große, langfristige Aufträge aus seinem Imperium – immer vorausgesetzt, die deutsche Politik bleibe auf Ausgleichskurs mit Moskau. Die Deutschen erleben einen machtvollen Mann, den der Reporter Hans-Ulrich Kempski anschaulich beschreibt: »mit einer Miene tiefer Aufrichtigkeit undbilderreich sprechend, dabei aber stets die Autorität eines Befehlshabers demonstrierend, dem Gehorsamsverweigerung fremd ist«.

Beitz wird noch manche Reise in den Osten unternehmen und manche Delegation begleiten. 1973 schließt Krupp ein Abkommen über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit mit der UdSSR, 1976 ein ähnliches mit der Volksrepublik Polen. Jetzt, da seine einst so einsame Haltung gegenüber Osteuropa zur offiziellen Politik der Regierung geworden ist, ist die Pionierrolle für Berthold Beitz vorüber.

YES-MAN UND NO-MAN: MACHTKÄMPFE BEI KRUPP

Beitz im Ruhestand, die Lorbeeren eines langen Berufslebens genießend, ein charmanter elder statesman für Festreden und Empfänge: Das wäre der Wunschtraum von Krupp-Vorstandschef Günter Vogelsang gewesen. Aber Beitz ist geblieben, und Vogelsang hat 1972 das Handtuch geworfen. Sein Nachfolger wird Jürgen Krackow. Der ehemalige Panzer-Oberleutnant pflegt sich in der Freizeit bei der Haijagd in rauen Wassern zu entspannen. Im Dienst gilt er als harter Sanierer, der unter anderem die Werft AG Weser gerettet hat. Beitz heuert den Macher an, der vor Energie bebend verkündet: »Es soll bloß keiner glauben, daß ich ein Yes-Man bin.« Es hat unwiderruflich die Zeit begonnen, in der Anglizismen von Dynamik amerikanischen Stils und Weltläufigkeit der Manager künden sollen.

Krackow beginnt mit umfassenden Plänen für ein Personal-Revirement, wobei er sehr deutlich macht, dass es für ihn Interessanteres gibt als die Meinung des Aufsichtsrats. Wie Vogelsang beharrt er auf dem »Bindungsvertrag«, der die Stiftung kurz hält: Die unterkapitalisierte Fried. Krupp GmbH darf diesem »unwürdigen Vertrag« (Beitz) zufolge erst dann größere Dividenden an die Stiftung ausschütten, wenn die Firma Rücklagen auf die Hälfte ihres Stammkapitals von 500 Millionen Mark besitzt. Beitz will auch keine Alleingänge des Vorstandschefs zur Bildung einer Hausmacht dulden. »So geht das nicht. Da mache ich nicht mit«, poltert er im Aufsichtsrat. Die Ära Krackow ist nach 68 Tagen vorbei, kaum dass sie begonnen hat. Innerhalb von wenigen Wochen ist das Verhältnis zwischen Vorstandschef und Aufsichtsratsvorsitzendem zerrüttet. Einige Jahre später wird Beitz zu Golo Mann sagen, er stehe ja leider im Ruf als »Rausschmeißer«: »Der böse Beitz, der ist so hart, der ist ein Killer.« So redeten die Manager daher. Dabei habe Krackow »als erstes ein Aufnahmegerät einbauen lassen und alle Telefongespräche, die ich mit ihm führ(t)e, dienstlich oder privat, aufgenommen. Ohne mich zu unterrichten.« Angeblich hätten andere Vorstandsmitglieder davon gewusst: »Die haben mitgemacht, dagesessen, das Tonband abgehört, was Beitz gesagt hat, haben sie noch aufgeschrieben, ein sogenanntes Kriegstagebuch nach preußischer Sitte, da musste jeder abzeichnen, stellen Sie sich mal vor. Das ist die deutsche Industrie.«

Und da, soll das heißen, muss er sich rechtfertigen, wenn Leute gefeuert werden? Öffentlich, sagt er zu Mann, habe er die Tonbänder nicht erwähnen wollen. Aber Krackow fliegt.

Krackows Nachfolger als Vorstandsvorsitzender ist mit seinen 62 Jahren schwerlich einer, der noch verwickelte Machtkämpfe ausfechten wird. Dafür aber verfügt er über große Erfahrung: Ernst Wolf Mommsen, Urenkel des berühmten Historikers Theodor Mommsen, Staatssekretär im Bonner Wirtschaftsministerium bei seinem Duz-Freund Helmut Schmidt, folgt Beitz’ Ruf nach Essen. Er kennt Politik und Wirtschaft, und qualifiziert hat er sich in Beitz’ Augen schon dadurch, dass er sich beim Konkurrenten Thyssen mit Sohl überworfen hat.

Mommsen stellt bei seinem Antritt fest, »daß das Unternehmen schon wieder tief in Verlust geraten war und noch dazu ein an allen Ecken und Kanten inkomplettes Programm aufzuweisen hat«. Ob die Wendung zum Besseren sein Verdienst allein ist, mag dahingestellt bleiben; jedenfalls erhöhen sich die Erträge in seiner Ära durch gezielte Firmenkäufe, bis Krupp in Deutschland eine Führungsposition im industriellen Anlagenbau erreicht. Insgesamt ist die Zusammenarbeit mit Beitz nicht unharmonisch, zumal Mommsen den ungeliebten Bindungsvertrag aussetzt. Manchmal wirft Beitz seinem selbstbewussten Vorstandschef vor, er tanze auf »zu vielen Hochzeiten«, sitze in zu vielen Aufsichtsräten, sprich: engagiere sich zu viel außerhalb von Krupp – etwas, was er, der von sich sagt: »Krupp ist meine Lebensaufgabe«, nicht übermäßig goutiert. Das wiederum kränkt Mommsen, der später klagt: »Ich habe für Krupp wirklich Knochenarbeit geleistet, die Sonnabend und Sonntag mit einschloß.«

Doch all das ist eher Geplänkel. In jedem Fall ist Ernst Wolf Mommsen ein wichtiges Bindeglied zur Koalition aus SPD und FDP in Bonn, mit der Beitz gute Beziehungen pflegt. Viele andere Wirtschaftsführer haben den Beginn der sozialliberalen Ära 1969 für so etwas wie den Anfang vom Ende des Abendlandes gehalten. BDI-Boss Fritz Berg befürchtete »neomarxistische Tendenzen«, ein schöner Beleg dafür, dass die Wirtschaft von der 68er-Revolte und dem Aufbruch der akademischen Jugend »zunächst weitgehend unberührt geblieben ist«, wie der Historiker Lothar Gall mit mildem Understatement schreibt. Und ein SPD-Kanzler Willy Brandt mit sozialistischen Wurzeln erscheint etlichen wie der leibhaftige Gottseibeiuns. Schon die traditionelle CDU-Nähe der Wirtschaftsverbände hält diese zunächst in deutlichem Gegensatz zur neuen Regierung, die Reformen und »mehr Demokratie wagen« will. Auch in dieser Hinsicht bildet Beitz, der sich zeitlebens so fern wie möglich von Verbänden und Interessengruppen hält, eine Ausnahme. Seine Nähe zu den Arbeitnehmern und damit zwangsläufig auch zur SPD hat sich schon in der Krupp-Krise ausgezahlt.

Mommsen gehört anfangs zu den wenigen Industriellen von Rang, die sich der neuen Regierung zur Verfügung stellen. Schon wegen seines Engagements für die SPD gilt der frühere Chef von Phoenix-Rheinrohr bei Beitz’ alten Widersachern vom BDI als persona non grata: Über Jahre verweigern ihm, wie Mommsen noch 1972 in einem Brief an Brandt beklagt, Sohl und andere Industrielle ein Gespräch, und die Industriekreise, in denen er sich bewegt hat, strafen ihn mit »zum Teil absoluter Isolierung«.

Die Regierung Brandt schickt mit Mommsen einen ihrer besten Leute nach Essen, um dem Konzern und damit Beitz nach dem Krackow-Debakel aus der Patsche zu helfen. Und Mommsen nutzt beiden, der Regierung ebenso wie Beitz, weil auch er zu den Verfechtern der Entspannungspolitik zählt. Anders als Beitz hat er den Horror der Besatzungspolitik in Osteuropa nicht selbst miterlebt. Der junge Mommsen gehörte vielmehr zum »Speer’schen Kindergarten«, jener Gruppe junger Technokraten, die Hitlers oberster Rüstungsplaner Albert Speer um sich geschart hatte. Dennoch blieb er frei von jeder NS-Verklärung und -Nostalgie und provozierte die Adenauer-Regierung als Vorstand von Phoenix-Rheinrohr, als er sich ab 1962 dem »Röhrenembargo« gegen Moskau widersetzte. Damals sollte auf Druck der USA westliche Hilfe beim Bau einer Pipeline durch die Sowjetunion unterbunden werden.

Mommsens Ostkontakte mögen nicht das Ausmaß und die Bedeutung wie bei Berthold Beitz erreicht haben, sind aber von einem ähnlichen Geist getragen. Auf Fragen, wie man denn bloß mit den Kommunisten Handel treiben könne, pflegt Mommsen zu antworten: »Wir machen Geschäfte mit jedem, aber gegen niemanden.« Er ist, wie Beitz, ein Mann, den »das Abenteuer der Ost-West-Beziehungen« nicht mehr loslässt.

Seine Nähe zu Schmidt ist dabei mehr als hilfreich: Ende 1974 begleitet Mommsen den neuen Bundeskanzler, der dem zurückgetretenen Brandt nachgefolgt ist, nach Moskau. Beitz und Mommsen sind für die Regierung Brandt, industriepolitisch betrachtet, Garanten und Fürsprecher der neuen Ostpolitik.

IN EINEM UNBEKANNTEN LAND:
DIE CHINA-REISE
1973

Ein wichtiges Ereignis in dieser Phase, das sich einfügt in die internationale Entspannungspolitik, ist der China-Besuch einer deutschen Wirtschaftsdelegation im Mai 1973. Zu der hochrangigen Besuchergruppe, die von Berthold Beitz angeführt wird, gehören unter anderem Lufthansa-Vorstandschef Herbert Culmann, für Klöckner Beitz’ Schwiegersohn Christian-Peter Henle, Henkel-Konzernchef Konrad Henkel, Deutsche-Bank-Vorstand Alfred Herrhausen, der frühere Bundesminister und Beitz-Vertraute Hans Leussink sowie Ernst Wolf Mommsen, der neue starke Mann bei Krupp. Es geht bei der Reise nicht um konkrete Projekte oder Vertragsabschlüsse. Der Besuch gleicht eher einer Expedition in ein fremdes, vom Westen und den globalen Handelswegen weit fortgerücktes Land. Die Volksrepublik China, noch regiert vom greisen und zunehmend kranken Mao Tse-tung, erholt sich langsam von den Gräueln und Schrecken der Kulturrevolution, mit der Mao von 1966 an die kommunistische Machtergreifung von 1949 vollenden wollte: »Wir wollen keine Freundlichkeit, wir wollen den Krieg.« Millionen »Intellektuelle«, »Bürgerliche«, Bauern und andere wurden Opfer von Gewaltexzessen Roter Garden, einer Orgie aus Fanatismus, Blut und Barbarei. Im Westen unterschätzte man den Terror der Roten Garden oft; auch viele 68er neigten dazu, die »Mao-Bibel« für eine Art fernöstliche Heilslehre zu halten. Erst Anfang der siebziger Jahre ergreift der Sog der globalen Entspannungspolitik zwischen den Machtblöcken auch die Volksrepublik. Das Land wird 1969 anstelle Taiwans von den USA diplomatisch anerkannt, und 1972 reist der amerikanische Präsident Richard Nixon nach Peking, unter anderem, um mit Hilfe der Chinesen einen Ausstieg aus dem verfahrenen Krieg in Vietnam zu finden.

»Das Straßenbild in Peking ist durch kleine Fahrzeuge, gezogen von schlecht ernährten Pferden, Mauleseln und Eseln, geprägt«, notiert nun 1973 Delegations-Berichterstatter Leussink. Die Reise führt durch ein Land, das noch kaum etwas von der ökonomischen Großmacht späterer Jahrzehnte erahnen lässt. Die Häfen sind veraltet und nicht auf moderne Containerschiffe eingerichtet, an den Maschinen sieht man »eine unverhältnismäßig hohe Zahl von Arbeitern«. »Das Leben in der Volkskommune wird allerorten verherrlicht«, so Leussink weiter, »sei es auf Plakaten, sei es in Liedern und Gedichten. Dabei wird immer wieder der Frohsinn betont, mit dem in der Kommune zum Wohle der Gesamtheit gearbeitet wird. Demgegenüber fällt der große Ernst auf, von dem die Physiognomien der Landbevölkerung geprägt sind.« Überall aber spüren die Deutschen das ungeheure Potenzial des bevölkerungsreichsten Staates der Welt.

Höhepunkt der Reise ist der Besuch bei Ministerpräsident Tschou En-lai in der Großen Halle des Volkes zu Peking. In dem monumentalen Bau mit seinen hellen Marmorsäulen und dem leuchtenden roten Stern an der Decke empfängt Chinas Regierung hohe Gäste, so auch die Emissäre aus Deutschland. Zu deren Erstaunen berichtet Tschou En-lai, der Weggefährte Maos, Regierungschef seit 1949 und eigentlicher Architekt der neuen Öffnung nach Westen, aus seinen jungen Jahren. Tschou hatte in den zwanziger Jahren in Deutschland und Frankreich studiert oder besser: studieren sollen, sich aber lieber der Weltrevolution gewidmet. Mit einem Seitenhieb auf die Russen, deren Beziehungen zu China seit den sechziger Jahren frostig sind, sagt er: »Ich kenne nur Königsberg und nicht Kaliningrad.« In Königsberg hat er einmal Station gemacht. Gewichtiger ist seine Bemerkung: »Ich kann mir zwei deutsche Staaten nicht vorstellen.«

Die Deutschen gewinnen deutlich den Eindruck, dass China sich öffnen will. Hintergrund dieser Entwicklung ist – neben den inneren Verwerfungen des Landes – das Schisma im kommunistischen Lager, die Entfremdung vom sowjetischen Imperium. »China hat nach seinen Erfahrungen Grund gehabt, nicht auf die Sowjetunion zu bauen, sondern sich aus eigener Kraft weiterzuentwickeln«, sagt Tschou. Dabei, so die Botschaft, sei die Hilfe der Deutschen durchaus willkommen. So nimmt der Ministerpräsident das Angebot von Berthold Beitz, chinesische Studenten und Techniker in der Bundesrepublik auszubilden, gern an. Auch scheint das Land bereit, den Handel auszuweiten; Kredite aus dem Ausland – an denen man im sowjetischen Block so interessiert ist – will China aber weiterhin nicht aufnehmen. Tschou ist überrascht, als er vom Interesse der Europäischen Gemeinschaft hört, Nahrungsmittel und Textilien aus China einzuführen. Man erläutert ihm die »Bedeutung der Importe als Preisregulativ« – billige Einfuhren hinderten die heimischen Hersteller, überhöhte Preise zu verlangen. Nur eine Generation später wird der deutsche Textilhandel der Konkurrenz aus dem Fernen Osten und vor allem aus China fast völlig erlegen sein.

Es ist ein langer Abend, der erst nach Mitternacht endet. Müde defilieren die Delegierten zum Ausgang, wo Tschou En-lai jedem die Hand zum Abschied reicht. Beitz ist noch in der Halle, als ihn der Protokollchef Tschous anspricht: Ob Herr Beitz noch einen Moment bleiben könne, der Ministerpräsident wünsche ihn unter vier Augen zu sehen. Rolf Pauls, seit kurzem erster Botschafter der Bundesrepublik in China, bleibt neben ihm stehen, doch der Chinese sagt: »Er möchte mit Herrn Beitz alleine sprechen.« Pauls muss gehen, ein Botschafter mehr, der sich nicht sonderlich für den Handlungsreisenden aus Essen erwärmen dürfte.

So bleiben Beitz und Tschou En-lai in einem Beratungszimmer zurück. »Zuerst hat er sich über Berlin erkundigt«, erinnert sich Beitz, »und mit einem Mal hat er auch Deutsch gesprochen. Er wollte wissen, ob die hohen alten Häuser in der Berliner Kantstraße noch stehen – und wir haben festgestellt, dass wir beide dort einmal gewohnt haben: Ich hatte bei Kriegsende dort als Soldat ein Zimmer, und er eines während seines Studiums.« Nach dem höflichen Small Talk kommt der Chinese zur Sache: Ob IOC-Mitglied Beitz der Volksrepublik nicht helfen könne, Teil der olympischen Gemeinschaft zu werden? Bisher hat die Insel Taiwan als Nationalchina das geteilte Land bei den Spielen vertreten, doch die Volksrepublik möchte nun selbst teilnehmen. »Wenn unsere Freunde es wünschen, werden wir den Antrag stellen, Mitglied des IOC zu werden«, sagt Tschou En-lai. Für Beitz ist das eine Chance, den Öffnungskurs des Landes persönlich zu unterstützen, er wird die Wege dorthin glätten, und 1979 tritt die Volksrepublik schließlich der olympischen Gemeinschaft bei.

Auf einem Abschiedsempfang sagt Beitz: »Als Fremde kamen wir, als Freunde scheiden wir.« Und zurück in Deutschland, lautet sein Resümee: »Unser Chinabild hat sich grundlegend geändert. Es gibt ein chinesisches Sprichwort, das heißt: Einmal sehen ist besser als hundertmal hören. Das hat sich bewahrheitet.« Gleich nach seiner Rückkehr aus China reist Beitz nach Bonn zu Willy Brandt, um persönlich zu berichten. Der Journalist und Kanzlerberater Klaus Harpprecht ist zugegen, scheint aber von den inhaltlichen Ausführungen des Chinareisenden weniger gefesselt zu sein: »5. Juni 1973 … Die konkreten Ergebnisse der Industrie-Reise mager, aber er ist beeindruckt vom Fleiß und der Disziplin der Chinesen. Ahmt auf hübsche Weise mimisch die Frühgymnastik der Chinesen nach.«