Der Aufstieg eines Unbescholtenen:
Kriegsende und Neubeginn

OSTFRONT 1945: FLUCHT AUS TIRSCHTIEGEL

Der alte Gutshof bei Tirschtiegel ist überfüllt, ein Feldlager der Geschlagenen: Soldaten und Zivilisten, darunter auch Berthold Beitz in einer verdreckten Uniform, entwaffnet und in der Gewalt der Roten Armee. »Wir lagen dort alle durcheinander: Soldaten von der Front und solche, die gerade aus dem Heimaturlaub gekommen waren, und auch Nazis waren dabei, richtige Goldfasane.« Als »Goldfasane« werden die NSDAP-Bonzen bezeichnet, wegen ihrer goldenen Knöpfe an der Uniform und ihrer Neigung, sich in sicherer Entfernung von der Front zu halten. Diese hier in Tirschtiegel (heute Triecziel, Polen) haben Pech.

Der Hof, in dem die Rotarmisten die gefangenen Deutschen wie menschliches Treibgut zusammengesperrt haben, liegt zwischen verschneiten Feldern und hat eine hohe Steinmauer. In der Ferne wummern die Geschütze, die Front weicht immer mehr zurück, nach Westen Richtung Oder. Die Stimmung ist denkbar bedrückt. Was wird nun aus ihnen werden? Einer, der sich nicht insein Schicksal fügen mag, ist Berthold Beitz. Um keinen Preis will er in sowjetische Gefangenschaft geraten, fremden Herren ausgeliefert und bestraft für ein mörderisches System, dem er sich doch verweigert hat. Nun muss er für sich selbst tun, was er drei Jahre lang für andere getan hat: sich nicht fügen, schnell und entschieden handeln.

Er denkt an Flucht. Wenn überhaupt, dann ist jetzt Gelegenheit dazu. Noch sind die deutschen Linien erreichbar, die Oder nicht weit entfernt. Sie wissen nicht, was die Russen mit ihnen vorhaben. Sicher ist nur: Wenn sie erst einmal nach Osten abtransportiert und in einem Gefangenenlager mit Wachtürmen und Stacheldraht eingesperrt werden, sind die Chancen zu entkommen nahe null. Er muss es jetzt wagen oder nie.

Berthold Beitz ist nach seiner Einberufung im April 1944 nach Berlin-Spandau versetzt worden. In der Heimat geben sich noch viele Soldaten Illusionen vom »Endsieg« hin. Beitz wusste, wie schnell die Rote Armee vorrückte, »daher stand für mich bereits fest, daß der Krieg verloren war«. Umso weniger möchte er noch Offizier werden, und mit Hilfe eines Freundes in der Wehrverwaltung verschwanden seine Unterlagen »in die falsche Ablage und waren nicht mehr auffindbar. So war ich denn bei Kriegsende 1945 noch genauso Feldwebel wie zu Kriegsbeginn 1939.«

Er ist erst wenige Tage in Berlin, als er mitten in einen Bombenangriff gerät. Beitz und einige Kameraden sind mit der Straßenbahn bis zum Bahnhof Zoo gefahren, als Luftalarm gegeben wird. Dann sehen sie die Lichter am Himmel. »Das waren die Mosquitos«, sagt Beitz, »schnelle britische Flugzeuge, welche die Leuchtzeichen gesetzt haben.« Oben, auf dem riesigen Flakbunker am Zoo, dröhnen die 8,8-cm-Kanonen, Scheinwerfer suchen den Himmel ab, der von den Leuchtzeichen gespenstisch erhellt wird, den »Christbäumen«, wie die Leute sagen. Sie markieren das Abwurffeld für die schweren Bomber, deren tiefes Brummen schon zu hören ist. Beitz und die anderen Soldaten helfen mit, Zivilisten in den Luftschutzbunker zu schaffen. Dann bebt der Boden, die Bomben schlagen irgendwo in der Stadt ein. Sie haben auch die Straßenbahnschienen getroffen, so dass Beitz schließlich den langen Weg nach Spandau zurücklaufen muss, durch eine vom Krieg gezeichnete, nächtliche Stadt. Noch vor Weihnachten wird das 67. Regiment der Wehrmacht, zu dem er gehört, nach Posen verlegt, in die Nähe der Ostfront.

Er bleibt nicht lange dort. Die militärische Lage des Reiches ist verzweifelt. An der überdehnten Ostfront bereitet die Rote Armee bei Jahresbeginn 1945 einen vernichtenden Schlag vor. Noch steht sie vor den Reichsgrenzen, entlang der Weichsel und in Ostpreußen. Der Generalstabschef des Heeres, General Hans Guderian, hat Hitler nach einer Inspektion seiner Verteidigungslinien gewarnt: »Die Ostfront ist wie ein Kartenhaus. Wird die Front an einer einzigen Stelle durchstoßen, so fällt sie zusammen.« Hitler und das Oberkommando der Wehrmacht, dem Diktator hörig bis in die Wirklichkeitsverweigerung hinein, kanzeln Guderian ab.

Am 12. Januar 1945 bricht der Sturm los. Im Schneetreiben stoßen zahllose sowjetische Panzer durch die deutschen Stellungen hindurch, von denen nach einem verheerenden Artilleriebombardement nur noch Trümmer geblieben sind. Innerhalb weniger Tage dringen die Russen durch Polen tief nach Westen vor. Eilig werden nun Beitz und seine Einheit nach Osten verlegt. Obgleich nur im Rang eines Feldwebels und militärisch unerfahren, befehligt Beitz bereits eine Kompanie. Zu viele Offiziere sind schon gefallen. Die Soldaten werden in Viehwaggons verladen und fahren nach Osten – mitten hinein in die Großoffensive der Roten Armee.

Es ist eine Illusion, dass sie noch etwas ausrichten können. Doch mitten im Untergang geben sich viele Menschen Illusionen hin: jene, die nicht glauben wollen, dass der Feind tatsächlich nach Deutschland kommen werde; Soldaten, die auf »Wunderwaffen« hoffen, die nie kommen werden; oder jener Schlachtermeister in Tirschtiegel, der sich bis zuletzt an die Vorschriften und die Obrigkeit klammert. Beitz und seine Männer gehen durch den Ort, sie sind müde und hungrig. Die Front im Osten ist nah. Beitz betritt das Geschäft und bittet um etwas Fleisch und Speck.

»Haben Sie Fleischkarten?«, fragt der Metzger.

»Mensch, wir sind Soldaten und kommen aus Berlin. Wir haben alle Hunger. Woher sollen wir Fleischkarten haben?«

»Es tut mir leid, dann kann ich nichts geben.«

Kopfschüttelnd verlässt der Kompaniechef schließlich den Laden. In der Nacht kämpft seine Einheit erstmals gegen die vorstoßenden Russen und gerät unter schweren Beschuss. Es ist eiskalt, Beitz’ Soldaten haben mühsam Schützenlöcher in den kalten Boden Westpreußens gehackt. Sie stehen auf verlorenem Posten. Auf beiden Seiten brechen die Tanks der 2. sowjetischen Panzer-Gardearmee durch. Das vom Wehrmachtsbericht großsprecherisch als »Tirschtiegeler Riegel« gefeierte Grabensystem, das die örtliche Hitlerjugend schon seit Sommer 1944 errichtet hat, ist nutzlos gegen die Wucht des Angriffs. Die Befestigungen sind von Schneewehen bedeckt, die Linien der Verteidiger viel zu dünn. Auch Beitz und seine Kompanie ziehen sich zurück, und nicht mehr alle sind dabei.

Der nächste Morgen. Wieder kommen die Soldaten an dem Schlachtergeschäft vorbei, nur diesmal aus der anderen Richtung. Aber jetzt steht ein Wagen mit angespannten Pferden davor, daneben eine Frau, die herzzerreißend weint. Die Schlachterfamilie lädt ihre Habseligkeiten auf und versucht, im allerletzten Augenblick, die Flucht nach Westen. Ihre Chancen stehen denkbar schlecht. Beitz kann es sich nicht verkneifen, den Mann zu fragen: »Na, und nun?« Der andere antwortet: »Ach, gehen Sie ruhig hinein. Sie können nehmen, was sie wollen.« Und Beitz sagt: »Also Jungs, ran.«

Sie werden die Stärkung nötig haben. Einen Tag später schon rumpeln sowjetische Panzer durch Tirschtiegel, wo vor dem deutschen Überfall von 1939 ein Schlagbaum die deutsch-polnische Grenze markiert hat. Berthold Beitz gerät in Gefangenschaft und wird mit vielen anderen Deutschen in den Hof des alten Landgutes getrieben. Und eben hier sinnt er am zweiten Tag auf Flucht.

Es ist dunkel geworden und sehr kalt. Eine Handvoll Männer wartet einen günstigen Augenblick ab. Dann klettern sie über die Hofmauer, springen auf der anderen Seite hinunter und rennen über die Felder um ihr Leben. Sie hören Schüsse. Vom Gutshof aus schießen Rotarmisten Leuchtkugeln in den dunklen Himmel und feuern auf die schemenhaften Gestalten, die dem Waldrand schon recht nahe sind. Berthold Beitz schafft es gerade noch und wirft sich zwischen die schützenden Bäume. »Neben mir war noch ein Leutnant rausgekommen. Aber er wurde leider getroffen. Er bekam einen Kopfschuss ab und war gleich tot.«

Beitz hat keine Mütze, aber glücklicherweise eine dicke Winterjacke. Er verliert keine Zeit. »Tagsüber habe ich mich versteckt, nachts bin ich immer gelaufen, immer nach Westen.« Er läuft nicht allein, ein anderer Soldat hat es auch über die Mauer geschafft. Es ist der Koch eines Berliner Grandhotels, ein guter Weggefährte, er macht Scherze und verliert nicht den Mut. Sie gehen Richtung Oder, an der sich die Stoßkraft der sowjetischen Offensive vorläufig bricht. Ihre Flucht führt sie quer durch eine winterliche Landschaft, die im Chaos des Zusammenbruchs versinkt. Brennende Dörfer, menschenleere Höfe, in den Ställen brüllen die Kühe vor Schmerz, weil niemand mehr da ist, der sie melkt. Einmal stehen Kinder mit gepackten Sachen auf der Landstraße. Beitz riskiert es und geht zu ihnen hin. »Mensch Kinder«, sagt er, »hier könnt ihr doch nicht bleiben. Lauft doch weg! Lauft nach Westen.« Aber die Kleinen hören nicht auf den Fremden. Wir sollen hier warten, sagen sie, wir werden bald abgeholt. Irgendjemand hat sie einfach dort stehen lassen. Erschüttert läuft Beitz weiter.

Sie schlafen in Heuhaufen, um sich etwas zu wärmen. Nach sieben Tagen erreichen sie abends die Oder. Der Fluss ist zugefroren. Das Westufer halten die Deutschen noch. In einer Kate, einem Fischerhäuschen, sehen sie ein Licht und klopfen. Ein älterer Mann öffnet und ruft laut: »Rotfront!« Er glaubt, vor ihm stünden Russen.

»Hör auf«, flüstert Beitz, »wir sind deutsche Soldaten.«

»Um Gottes willen! Gleich nebenan sind die Russen!«

»Das ist uns jetzt scheißegal«, entgegnen Beitz und sein Kamerad.

Die beiden setzen sich auf das Sofa ihres unfreiwilligen Wirts und schlafen vor Erschöpfung ein. Am Morgen gibt der Mann ihnen noch etwas zu essen und sieht ihnen erleichtert nach, als sie abziehen. In der nächsten Nacht rutschen sie über das Eis. Der Koch hat noch eine herumlaufende Gans geschnappt und gescherzt: »Komm, die haben da drüben bestimmt nichts zu essen, wir bringen ihnen eine Gans mit.« Auf der anderen Seite, bei der Stadt Guben, liegen deutsche Einheiten. Sie geben sich zu erkennen und haben es geschafft.

Von der Flucht, einer leichten, aber unbehandelten Verwundung und starker Unterkühlung geschwächt, wird Berthold Beitz ins Lazarett gebracht. Er fährt mit einem Verwundetenzug nach Berlin. Noch steht die Rote Armee an der Oder, erst im April wird sie die Hauptstadt erreichen. Aber der nahe Untergang des Regimes ist dort schon deutlich zu spüren. Die Lazarette sind überfüllt, und eine mitleidige Krankenschwester schreibt auf Beitz’ Krankenzettel: »Heimatlazarett Greifswald«. Berthold Beitz fährt nach Hause.

Er sieht Else und das Kind, ein erleichtertes Wiedersehen, nachdem sie fast die gesamte Kriegszeit gemeinsam durchgestanden haben. Doch Beitz erholt sich bald und muss zurück in den Krieg. Wiederum in Berlin-Spandau, nahe der alten Zitadelle, wartet seine Kompanie im März auf den letzten Ansturm derRoten Armee. Der Zusammenbruch ist nah. Beitz beobachtet, wie eilig zusammengestellte Einheiten aus Halbwüchsigen in dieZüge nach Osten verladen werden. »Das waren Waggons wie jene, mit denen die Juden in die Konzentrationslager gebracht worden waren. Jetzt saßen Jungs darin, vielleicht 15, 16 Jahre alt, denen hing der Stahlhelm auf die Nase, sie konnten nicht einmal hinausgucken. Die mussten jetzt an die Front, und am Bahnsteig standen weinende Eltern, um ihre Kinder zu verabschieden. Das ist doch furchtbar. Das kann man heute gar nicht mehr erklären.« Der Kampf um Berlin, der bald darauf entbrennt, ist aussichtslos für die Deutschen und kostet über 200 000 Menschen das Leben. Berthold Beitz jedoch ist nicht dabei in den apokalyptischen Szenen der Götterdämmerung des Naziregimes.

In seiner Spandauer Kompanie befiehlt ihm ein Vorgesetzter: »Beitz, Sie kommen zu einem Sturmregiment.« Er packt seine Sachen und soll bei einem Gegenstoß Richtung Potsdam mitmachen. Doch die Russen greifen schon an. Südwestlich von Berlin sagt Beitz’ Regimentskommandeur: »Wir bleiben, wo wir sind.« Der Mann stammt aus Bayern und verlädt seine Leute schließlich in einen der letzten Züge nach Süden. Auf diese Weise entgeht Beitz’ Einheit der Umzingelung durch die Russen, die nun den Ring um die Hauptstadt schließen. Wenige Tage und sehr viele Tote später wird die rote Fahne über dem Reichstag wehen. Das Sturmregiment ist da bereits in Oberfranken, bei Forchheim, wo die US-Armee vorrückt. Amerikanische Tiefflieger beschießen den Zug, es geht nicht weiter. Die Männer steigen aus und marschieren der Front entgegen. Ihre stärkste Waffe ist ein Wagen mit aufmontiertem Maschinengewehr.

»ICH ERSCHIESSE NICHT EINFACH SO LEUTE«:
DIE MILITÄRJUSTIZ

Mitten im Zusammenbruch lernt der Feldwebel Beitz die Diktatur noch einmal in ihrer ganzen Inhumanität kennen. SS-Leute und fliegende Standgerichte der Wehrmachtsjustiz ermorden noch kurz vor der Kapitulation Tausende deutscher Soldaten als »Fahnenflüchtige«. Die Wehrmachtsjustiz lässt mindestens 22 000 Todesurteile vollstrecken, überwiegend gegen echte und vermeintliche Deserteure. Zum Vergleich: In der kaiserlichen Armeegerichtsbarkeit des Ersten Weltkriegs waren es 48 Todesurteile, meistens wegen schwerer Straftaten. Nur in Stalins Armee hat der Terror nach innen ähnliche Ausmaße wie im Dritten Reich. Nach dem Krieg werden die Täter ungerührt so tun, als sei es völlig normal und legitim gewesen, Tausende eigener Soldaten umzubringen.

Beitz erlebt das bereits im April 1945 in Spandau, als sich seine Kompanie für die Schlacht um Berlin bereitmachen soll. Er ist der beste Schütze im Regiment, einmal hat er sogar einen Preis gewonnen für die meisten Treffer auf 300 Meter, das Gewehr im Liegen aufgelegt. Deswegen kommt nun sein Spieß, ein Oberfeldwebel, auf ihn zu: Es werden unter den Feldwebeln und Unteroffizieren Schützen gesucht, in Lichterfelde wird ein Exekutionskommando zusammengestellt, um Deserteure zu erschießen. Und er, Beitz, soll diesem Kommando angehören.

Beitz aber weigert sich. »Ich habe ihm gesagt: Nein. Nein, das mache ich nicht. Ich erschieße nicht einfach so Leute.« Der Oberfeldwebel mag es kaum glauben und bedrängt ihn: »Mann, Beitz, mach das doch.« 2,5 Millionen sowjetische Soldaten und mehr als 6000 Panzer und Sturmgeschütze rücken auf Berlin vor. Aber die größte Sorge des Mannes scheint zu sein, dass seine Kompanie schlecht dasteht, wenn es um die Abordnung von Todesschützen zu einem Exekutionspeloton geht. Das Regiment hat angeordnet, dass jede Kompanie einen höheren Dienstrang, einen Feldwebel oder Unteroffizier, als Schützen bereitstellen muss. Beitz ist noch im Rückblick von mehr als sechzig Jahren sichtbar erschüttert. »Aber ich habe ihm gesagt: Hör mal zu, das kommt gar nicht in Frage.« Dabei bleibt es. Es ist Beitz deswegen nichts geschehen. Wieder einmal hat er auf seine innere Stimme gehört, sich nicht wider das eigene Gewissen zu fügen. »Es herrschte damals in Berlin eine äußerst nervöse Stimmung. Aber es gibt im Leben Momente, in denen man den Mut haben muss, nein zu sagen.«

Und dann fehlt nicht viel, und Beitz wäre selbst zum Opfer der Militärjustiz geworden. Nachdem sie dem russischen Klammergriff um die Reichshauptstadt gerade noch entronnen sind, trifft seine Kompanie bei Forchheim erstmals auf Amerikaner. Es kommt zu einem nervösen Nachteinsatz, und am nächsten Morgen kehren die Soldaten zu ihrem Quartier zurück. Die dann folgende Szene sieht Berthold Beitz noch heute so genau vor sich, als habe sie sich eben erst abgespielt. »Wenn es in meinem Leben jemals einen Moment gab, in dem mir wirklich nichts mehr eingefallen ist, dann war es dort. Ich war vollkommen baff.«

Vor die abgekämpften Soldaten, nicht mehr als ein halbes Dutzend Männer, fährt ein Wagen vor: ein Unteroffizier als Fahrer, ein Leutnant und ein Oberleutnant, der das Deutsche Kreuz in Gold auf der Brust trägt. Kalt mustert Letzterer die kleine Truppe. Beitz meldet: »Feldwebel Beitz, Führer der 12. Kompanie, vom Nachteinsatz zurück.« Der Oberleutnant sagt statt einer Antwort: »Sie haben sich ohne Befehl vom Feind gelöst. Ich stelle sie vors Kriegsgericht.« Berthold Beitz mag es nicht glauben, so wie es viele Soldaten nicht glauben können, die eine entfesselte Militärjustiz vor die Gewehrläufe eines Erschießungskommandos stellt. Er, der auf dem Bahnsteig von Boryslaw die Offiziere der SS herausgefordert hat, weiß nicht, was er sagen soll. Da spürt er neben sich eine Bewegung. Sein Kompanietruppführer ist neben ihn getreten, ein großer Mann, Schmiedegeselle aus Pommern; an der Brust trägt er das Deutsche Kreuz in Gold, außerdem die Nahkampfspange, die Verwundetenauszeichnung. Noch bevor die Männer im Jeep reagieren können, nimmt er seine Maschinenpistole von der Schulter, kippt mit vernehmlichem Klacken die Sicherung fort, stößt den erstarrten Beitz leicht mit dem Arm an und fragt ganz ruhig: »Soll ich sie umlegen?«

Noch ehe Beitz etwas sagen kann oder der Schmied abdrückt, wendet der Fahrer den Wagen und jagt davon. In diesem Moment ist der Krieg für Berthold Beitz vorbei. Er sagt seinen Männern, sie sollen heimgehen. Es ist der 15. April 1945.

MAI 1945: RÜCKKEHR NACH HAMBURG

Das Ende, so Beitz, »bedeutete zugleich Niederlage und Befreiung. Zweifellos, so haben auch wir … die Vorgänge empfunden. Aber … der unmittelbare Druck des Erlebens und die Not des Alltags ließen keinen Raum für distanzierende Reflexion.« Er hat überlebt, »in einer verkehrten Welt«, wie er ein halbes Jahrhundert später einmal schreiben wird, »einer Welt, die aus den Fugen geraten war, einer Welt, in der Werte wie Anstand und Rücksicht außer Kraft gesetzt schienen«. Und mehr als alles andere hat ihm die innere Freiheit geholfen, »die einen Menschen dazu befähigte, das Richtige zu tun«.

Der Kompanieführer Beitz entledigt sich der ungeliebten Uniform und seiner Waffen und beschafft sich schlecht sitzende zivile Kleidungsstücke, darunter eine kurze Lederhose, eine »richtige Sepplhose«, wie er heute sagt. Er strandet in Weimar, wo er wenigstens jemanden kennt: Die Nichte seiner einstigen Zimmerwirtin aus Stralsund ist dort mit einem Hotelier verheiratet. Bei ihr findet er vorübergehend Unterschlupf, und sie verschafft ihm auch einen Kontakt ins Landratsamt.

In Weimar sind noch die Amerikaner stationiert, aber das werde nicht so bleiben, warnt man dort. Bald wird die Rote Armee in Thüringen einrücken, das haben die Alliierten vereinbart. In Greifswald, bei der Familie, sind ebenfalls die Russen, denen er so knapp entkommen ist. Dorthin zu gehen kann er nicht riskieren. Also will er es wieder in Hamburg versuchen, wo noch Elses Eltern leben, die Hochheims. Auf dem Landratsamt bekommt er einen nicht ganz der Wahrheit entsprechenden Passierschein: »Berthold Beitz on the way to Hamburg to attend an Oil Conference and return«. Berthold Beitz darf als Teilnehmer einer Öl-Konferenz nach Hamburg und zurück reisen. Er hat freilich nicht die Absicht, den zweiten Teil der Reiseerlaubnis zu nutzen. Auf einem Lastwagen geht es auf die lange Fahrt. Die Kontrollen sind dank seines Ausweises kein Problem. Das letzte Mal wird er vor der Harburger Eisenbahnbrücke gestoppt. Hamburg ist eine gesperrte Stadt, die Briten kontrollieren den Zugang streng und lassen nur wenige hinein. Es ist schwierig genug, für die verbliebenen Menschen in der Trümmerwüste zu sorgen. Aber auch diesmal verfehlt der Ausweis aus Weimar seine Wirkung nicht, die englischen Soldaten winken Beitz durch, und so ist er schließlich wieder dort, von wo er fünfeinhalb Jahre zuvor aufgebrochen war.

Hamburg ist schwer gezeichnet vom Feuersturm der »Operation Gomorrha« von 1943. Mehr als die Hälfte der Wohnungen sind zerstört, der Hafen ein Chaos aus zerbombten Docks und Wracks. Die Bomben haben neben Fabriken und Hafenanlagen vor allem die Arbeiterviertel getroffen. Anderswo dagegen, auch in der Innenstadt und entlang der Alster, stehen viele der alten Straßenzüge noch, wo sich nun in den Wohnungen die Menschen auf engstem Raum drängen. Kriegsheimkehrer suchen ihre Familien, der »Kohlenklau« geht um, der Schwarzmarkt blüht trotz ruppiger Razzien. Aber die Stadt lebt, wie ein Journalist 1946 schreibt: »Die Plakatsäulen fassen kaum das bunte Durcheinander der Veranstaltungen, Theater, Kleinkunstbühnen und Varietés, Kabarets und Konzertsäle …«

Beitz ist erst wenige Tage in Hamburg, als die Briten einen öffentlichen Aufruf erlassen: Alle ehemaligen deutschen Soldaten haben sich vor der Kunsthalle am Hauptbahnhof einzufinden. In Kellern und Verstecken der Trümmerstadt verbergen sich noch viele, die der Gefangenschaft entkommen sind. Der Aufruf dient erkennbar dem Zweck, diesen Zustand zu ändern. »Diesem Aufruf«, so Beitz heute, »bin ich natürlich nicht nachgekommen.« Stattdessen taucht er bei seinen Schwiegereltern im Vorort Wandsbek unter. Ihre Wohnung ist 1943 verbrannt, nun leben die Hochheims in einer Barackensiedlung für Ausgebombte, in einem »Ley-Haus«, wie die Notunterkünfte genannt werden – nach dem Führer der »Deutschen Arbeitsfront«. Es liegt mitten in einem Schrebergarten und besteht aus einem einzigen Zimmer, aber in der verwüsteten Stadt ist das immerhin ein Zuhause.

Beitz’ erste Sorge gilt der Familie. Was ist aus Frau und Kind geworden, als der Sturm der Roten Armee über Pommern hinwegfegte? Greifswald ist vergleichsweise glimpflich davongekommen, dank der beherzten Tat des Wehrmachtskommandanten Rudolf Petershagen. Er weiß Ende April 1945, dass mit dem letzten Aufgebot, das er befehligt, jeder Versuch einer Verteidigung nur die Zerstörung der Stadt nach sich ziehen würde; also schickt er den Russen Parlamentäre entgegen und bietet einen Handel an: kampflose Übergabe gegen Schonung der Stadt und ihrer Bewohner. Die sowjetischen Offiziere willigen ein, und Petershagen und seine Offiziere warten mit entsicherten Waffen, für den Fall, dass doch noch ein Exekutionskommando der SS der Roten Armee zuvorkommen sollte. Schließlich aber rücken die Russen am 30. April ein, die Stadt wird kampflos übergeben.

Was sich in den Dörfern der Umgebung und der Nachbarstadt Anklam abspielt, gleicht den apokalyptischen Szenen der Gemälde von Hieronymus Bosch: geplünderte, eingeäscherte Güter, Massenvergewaltigungen, Morde und brennende Häuser; Hunderte missbrauchte Frauen, die sich das Leben nehmen. Wenn auch Greifswald von der Racheorgie halbwegs verschont bleibt, ist die russische Besatzung dennoch hart, und auch Else Beitz erlebt fürchterliche Wochen: Alle sind in Angst, denn nachts holt der Geheimdienst Bürger aus ihren Häusern, darunter auch Elses Schwiegervater Erdmann Beitz, der als Beamter der Reichsbank, wo er zuletzt gearbeitet hat, offenbar als gefährlicher Kapitalist gilt und ins NKWD-»Speziallager« Fünfeichen am Ortsrand von Neubrandenburg verschleppt wird. Zuvor hat er, korrekt wie stets, den Sowjets den Tresor der Bank in Greifswald geöffnet – in dem auch seine eigenen Ersparnisse lagen. In Fünfeichen, einem früheren deutschen Kriegsgefangenenlager, haben die Besatzer Nazis und Verdächtige, willkürlich Verhaftete und Denunzierte, Gutsbesitzer und Verwaltungsangestellte, ja Jugendliche eingekerkert, in vielen Fällen unabhängig von jeder persönlichen Schuld oder Unschuld. Es herrschen furchtbare Zustände. Unterernährung, Krankheiten und Kälte kosten bis 1948 über 5000 Menschenleben. Nach einem halben Jahr lassen die Sowjets Erdmann Beitz frei. Abgehärmt undum Jahre gealtert kehrt er heim nach Greifswald. »Meine Mutter«, sagt Beitz im Rückblick, »hat später erzählt: Er kam nach Hause, mit seinem Kochgeschirr. Er hat nichts erzählt, doch er stand über Stunden am Fenster und sah stumm hinaus.« Aber Erdmann Beitz ist davongekommen.

Im Spätsommer 1945 gelingt es der schwangeren Else Beitz unter dramatischen Umständen, mit Tochter Barbara in den Westen zu kommen. Mit einem Strom von Flüchtlingen gelangen sie an die Sektorengrenze, ein kleiner Fluss trennt sie noch von der britischen Zone. Eine hilfreiche Frau setzt die kleine Barbara in das Boot, das die erste Fuhre hinüberbringt. Aber bevor die Mutter einsteigen kann, wird sie von sowjetischen Soldaten aufgehalten. Sie dürften nicht hinüber, sagen sie zu den verängstigten Frauen am Ufer. Nur weil Else Beitz immer wieder auf Barbaras Puppe zeigt, die sie oben auf ihrem Rucksack festgebunden hat, kann sie einem mitleidigen Rotarmisten klarmachen, dass ihr Kind schon auf der anderen Seite des Flusses ist. Er lässt sie übersetzen, doch für einige schreckliche Stunden glaubt sie, das Kind verloren zu haben. Wie sich herausstellt, ist Barbara von den Engländern in Obhut genommen worden, die das Kind nach einigem Zureden der Mutter zurückgeben. In Hamburg ist die Familie endlich wieder vereint. Im Oktober kommt die zweite Tochter zur Welt, Susanne. In der Wandsbeker Nothütte der Eltern wird es nun noch enger. Im Sommer 1945 verdingt sich Berthold Beitz als Landarbeiter, um etwas Geld zu verdienen. Im folgenden Jahr handelt er mit Konserven; für kurze Zeit erwägt er sogar, in Bardowick bei Lüneburg eine eigene Konservenfabrik aufzubauen.

»MENSCH BERTHOLD!«
EIN FOLGENREICHES WIEDERSEHEN

Aber dann kommt es 1946 zu einer wahrlich schicksalhaften Begegnung. Beitz geht gerade am Hotel »Esplanade« entlang, dem Sitz der britischen Besatzungsverwaltung, da kommt, an den Wachposten vorbei, eine junge Frau mit feuerrotem Haar heraus. Verblüfft schauen die beiden sich an. Es ist Evelyn Döring, Elses Freundin und Verbündete der Beitzens in Boryslaw. Sie hatte dort, wie geschildert, noch einige Wochen den letzten der rettenden Stempel genutzt, den sie nach Beitz’ Einberufung heimlich an sich nahm, und ist dann rechtzeitig vor der anrückenden Roten Armee in den Westen geflohen. Nun arbeitet sie als Dolmetscherin bei den Briten.

Evelyn Döring ist es nun, die kurz darauf mit einer Nachricht für Berthold Beitz im Krämerladen der Siedlung anruft: Major Jones möchte ihn kennenlernen. Der britische Offizier ist dabei, ein Amt zur Aufsicht der Versicherungen in der britischen Zone aufzubauen, aber er findet niemanden, der ihm für dessen Leitung geeignet erscheint. Entweder sind die Bewerber vorbelastet, oder sie kommen fachlich nicht in Frage. Seine Sekretärin, eben Evelyn Döring, schlägt ihm schließlich einen Kandidaten vor: Berthold Beitz. Was sie über ihn berichten kann – als Menschen, als Gegner der Judenverfolgung und als Organisator –, ist in jeder Hinsicht eine Empfehlung. Für das Vorstellungsgespräch besorgt sich Beitz eigens einen besseren Anzug. Der Brite mustert den Bewerber wohlwollend und sagt: »Herr Beitz, wir suchen einen Mann für das Versicherungsaufsichtsamt!« Beitz bekennt freimütig, sein Bestes tun zu wollen; bedauerlicherweise aber sei ihm die Materie zur Gänze fremd. Dennoch bekommt er den Job sofort – die große Chance, aus der Armut des Notquartiers herauszukommen. Er bittet allerdings nicht um ein hohes Gehalt, sondern um etwas viel Wertvolleres in diesen Tagen überfüllter Behelfszüge: einen Dienstwagen.

Natürlich haben sich die Briten die Vita des Bewerbers genau angesehen; großzügig bis gleichgültig in diesen Dingen werden sie erst einige Jahre später sein, nach Beginn des Kalten Kriegs um 1950. Noch aber herrscht eine rigide Entnazifizierung bei dem Versuch, die Eliten auszuwechseln. Nur wird sich leider bald zeigen, dass die erwünschten »Gegeneliten« aus Antifaschisten, Exilanten und Nazigegnern in der benötigten Zahl kaum vorhanden sind. Beitz erhält einen später mehrfach erneuerten Ausweis der Entnazifizierungsbehörden, in dem es heißt: »Berthold Beitz ist politisch unbelastet und wird daher nicht von den Bestimmungen des Gesetzes zur Bereinigung der Verwaltung und Wirtschaft von nationalsozialistischen Einflüssen betroffen.« 1947 bestätigen ihm 28 Überlebende aus Boryslaw in einer notariellen Erklärung, was er wenige Jahre zuvor für sie auf sich genommen hat:

Wir bescheinigen nun, dass Herr Berthold Beitz sich uns gegenüber als Leuten sowohl polnischer wie auch jüdischer Volkszugehörigkeit, in seiner Stellung als Direktor des Unternehmens menschlich zeigte und uns seinerzeit trotz des wütenden Hitler-Terrors nachsichtig und menschlich behandelte. [Er] half seinen Arbeitern durch seinen Einfluss, soweit es ihm möglich war. Wir können auf das Entschiedenste und mit gutem Gewissen bestätigen, dass wir Berthold Beitz in guter Erinnerung behalten werden und dass er sich in der gesamten Zeit in Boryslaw als wahrer Mensch und wahrer Demokrat in des Wortes vollster Bedeutung verhielt.

Seine einstigen Schutzbefohlenen, die ihn offenbar über seinen früheren Bäcker Leon Morski ausfindig gemacht haben, schreiben ihm nun oft. Etwa Hilde Berger, seine frühere Sekretärin: »Sie haben keine Ahnung, wie oft wir damals von Ihnen sprachen und Ihnen nachtrauerten.« Jan Jaworski: »Wir haben Sie in unseren Gedanken, wie Sie Brot umsonst für polnisches Waisenhaus gegeben (haben und) keine Beschäftigten in die Hände der Herren von Gestapo ausgeliefert (haben). Oder diese unglücklichen Bluttage, wo Sie aus Henkershänden unschuldige Frauen gerissen haben.« Oder Henryk Engelberg, ein jüdischer Ingenieur aus Boryslaw: »Sie werden es vielleicht gar nicht glauben, wie oft und mit welcher Dankbarkeit ich und meine Tochter Ihren Namen genannt haben, seit wir wieder als freie Menschen leben können. Wir haben und werden es nie vergessen, dass Sie aus eigener Initiative meine Tochter aus dem plombierten Wagen, dessen Ziel uns damals schon bekannt war, herausgeholt haben.« Beitz schreibt oft zurück, doch in Hamburg spricht er nicht über seine Jahre in Polen; und in den Zeitungsartikeln, die bald über ihn erscheinen, findet die Kriegszeit keinerlei Erwähnung. Tragischerweise wird Morski, wie Beitz entsetzt erfährt, vom stalinistischen Geheimdienst ermordet.

Bei der Arbeit muss er schnell feststellen: Es gibt kaum Versicherungsfachleute in Hamburg. Wohl aber sind sie in Berlin zu finden: Dort hatte das Reichsaufsichtsamt für Versicherungen seinen Sitz. An Bord eines britischen Militärflugzeugs fliegt Beitz in die Trümmerstadt Berlin, die inzwischen von den vier Siegermächten gemeinsam regiert wird. Dort begegnet Beitz nun dem Problem, dass kaum einer der ehemaligen Mitarbeiter des Amtes bei der Entnazifizierung in der Gruppe 5 geführt wird, also zu den Unbelasteten wie Berthold Beitz selbst zählt. Die meisten sind in Gruppe 4 gelandet, gelten folglich als »Mitläufer«; das hat den Alliierten genügt, um sie aus dem Amt zu entfernen. Einige werden sogar der Gruppe 3, den »Minderbelasteten«, zugeordnet. Die früheren Versicherer werden von den Briten zu körperlicher Arbeit beim Wiederaufbau eingesetzt.

Ohne vorbelastete Fachleute ist es fast unmöglich, eine effiziente Verwaltung aufzubauen – das muss jeder, der in einer vergleichbaren Lage wie Beitz ist, berücksichtigen, ob es ihm gefällt oder nicht. »Soll ich denn aus formellen Gründen die besten Leute vor der Tür lassen?«, fragt Beitz deshalb einmal.

Zudem kommen die »schweren Fälle« der Gruppen 1 und 2 (»Hauptschuldige« und »Belastete«) für Beitz’ Anwerbung ohnehin nicht in Frage – Kriegsverbrecher, Gestapomänner oder dergleichen gehören von vornherein nicht zu jenen, die er für sein Amt anwirbt und mit dem Gütesiegel der Entnazifizierung bedenkt. Den Männern, die Beitz von Berlin in sein Amt an die Elbe holen will, muss jeweils der Vorsitzende des Hamburger Entnazifizierungsausschusses zustimmen, der Sozialdemokrat Max Hockenholz, den die Nazis im Konzentrationslager Hamburg-Fuhlsbüttel eingekerkert hatten. Mit ihm berät sich Beitz häufig und bespricht die Fälle, die er für das Versicherungsamt haben möchte – und natürlich auch, wer wegen Vorbelastung nicht in Frage kommt. Mit Hockenholz’ Unterstützung stellt er also seine Abteilungen zusammen, die er auf folgende Weise ermuntert: »Ich habe keine Ahnung davon. Meine Herren, Sie machen die Arbeit, und ich passe hier auf, dass Ihnen nichts passiert.« Heute sagt er: »Was sollte ich tun? Ohne sie hätte ich das Amt nicht wieder aufbauen können.«

Und dennoch: Es bleibt befremdlich und aus heutiger Sicht nicht leicht zu verstehen, wie derselbe Mann, der 1942 nur knapp der Gestapo entkommen ist und der so viele Menschen vor den Mördern des Regimes gerettet hat, schließlich »Persilscheine« für dessen frühere Anhänger ausstellt. Beitz hat es 1995 selbst in einem Aufsatz zu erklären versucht: »Der Mut zum Zugreifen war nach dem Ende des Krieges ganz besonders notwendig. Hatte es während des Krieges in aller Härte gegolten, das Leben nicht zu verlieren, so galt es nach dem Krieg, daß dieses Leben gestaltet werden mußte … Zu theoretischen Erörterungen der Zukunft unseres Landes ließ der Alltag kaum Zeit, und wir wollten jene Dinge in Bewegung setzen, die Deutschland überhaupt erst eine Zukunft ermöglichten. Auf Trümmern und mit hungernden, frierenden, schlecht gekleideten Menschen hätte sich auf Dauer keine lebensfähige Demokratie aufbauen lassen.«

Das Aufsichtsamt residiert in Hamburg am Ballindamm 39, soweit von »Residieren« die Rede sein kann. Das alte Versicherungshaus ist arg ramponiert, wenngleich die stolze Fassade erhalten geblieben ist; so erscheint Beitz sein Dienstsitz als »Potemkinsches Dorf«, und dies aus guten Gründen. Anfangs fehlen das Treppengeländer und sogar die Fensterscheiben, und mit seinen Mitarbeitern diskutiert er im einzigen notdürftig hergerichteten Sitzungsraum über ihm zunächst so wenig geläufige Themen wie »Deckungsstock und revolvierende Kredite«.

DIE KÖNIGE VON HAMBURG

Nur zwei Jahre nach seinem Einstieg sind die Briten mehr als zufrieden, und aus dem improvisierten Amt ist eine ordentliche Behörde geworden, die ihre herkulische Aufgabe, nämlich einen geordneten Übergang der Versicherungen von vor 1945 in die neue Zeit und über die Währungsreform von 1948 hinaus zu organisieren, gut gelöst hat. Beitz erhält daher das Angebot, Beamter auf Lebenszeit zu werden. Die Aussicht, sich mit 35 Jahren schon in die geordneten, voraussehbaren Lebensbahnen eines Daseins als Staatsdiener zu begeben, passt ihm freilich so wenig wie damals an der Ostsee eine Karriere als Pastor oder Bankmann. Er mag die Zwänge nicht, die Hierarchien, das Gefühl, alle wichtigen Weichen schon gestellt zu haben. Und er hat in Hamburg nun erlebt, was er mit Können, Charme und Chuzpe, mit Entschlusskraft und dem Willen zum Handeln erreichen kann, durch »den Mut zum Zugreifen«, wie er es bezeichnet. Binnen zweier Jahre ist er vom Bewohner eines Behelfsheims zum Vizepräsidenten einer Großbehörde geworden; die Familie hat längst eine passende Wohnung in Volksdorf am Rande der Stadt gefunden. Auch Elses Eltern hausen nicht mehr in der Laube. Ihr Bruder Erich kommt aus der Kriegsgefangenschaft zurück, mit Vater August Hochheim bauen sie an Ort und Stelle ein solides Haus aus Stein, und der Garten liefert Obst und Gemüse.

Und da Beitz inzwischen einen Namen im Versicherungswesen hat, passt es ihm gut, dass 1948 eine neue Herausforderung lockt: Die Iduna-Germania-Versicherung sucht ein Vorstandsmitglied. Traditionell stark in Ost- und Mitteldeutschland engagiert, hat das Unternehmen 1945 das Gros seines Geschäfts eingebüßt und braucht einen Organisator, der es modernisiert und die auf Berlin und Hamburg verteilten Büros zusammenführt. Jetzt, da der Wiederaufbau im großen Stil anläuft, blüht auch das Versicherungsgeschäft. Und so verzichtet Beitz auf die Sicherheiten einer Beamtenstelle und sagt bei der Iduna-Germania zu. Er ist jetzt mitten in einer steilen Karriere, wie sie wohl nur die Wiederaufbau- und Wirtschaftswunderjahre schreiben – für den, der ihre Möglichkeiten zu nutzen versteht. Beitz stellt dem Aufsichtsrat der Versicherung selbstbewusst seine Bedingungen: ein Gehalt von damals beachtlichen 3500 D-Mark und den Titel eines Generaldirektors. Beides wird ihm zugesagt, und am 1. Juni 1949 nimmt er seine neue Tätigkeit auf. Dem Aufsichtsrat sagt er, in Abwandlung seines Mottos bei den Versicherern: »Ich mache die Arbeit, und Sie passen auf, dass mir nichts passiert.«

Um Beitz’ Rolle beim weiteren Aufstieg der Iduna-Germania ausreichend zu würdigen, lässt man ihn am besten selbst zu Wort kommen. 1953 blickt er in einem Rechenschaftsbericht auf sein Werk der vergangenen fünf Jahre zurück; es dürfte der ungewöhnlichste Tätigkeitsnachweis in der jüngeren deutschen Unternehmensgeschichte sein, zumindest in Aufmachung und Stil. Statt der üblichen Floskeln im seinerzeit schon schwer verdaulichen Managerjargon verfasst Beitz, vielleicht mit Hilfe eines satirisch begabten Schreibers, eine fiktive Festansprache aus dem Jahr 2054, aus der Perspektive eines Redners, der auf 200 Jahre Unternehmensgeschichte zurückblickt. Gleich zu Beginn des Berichts sieht man eine hübsche Zeichnung, nämlich den jungen Herrn Generaldirektor vor einem Teller mit Bockwurst und Senf. Dazu lässt Beitz seinen erfundenen Redner sagen:

Betrachten wir zunächst sein eigenes Bild, dann müssen wir unumwunden feststellen, daß es einen sympathischen jungen Mann darstellt; doch drängt sich beim näheren Zusehen die Frage auf: warum das Würstchen nebst Pappteller, das er in Händen hält?

Juni 1949. Es ist tropisch heiß im sonst so alsterkühlen Hamburg, auch im 4. Stock des Hauses Jungfernstieg Nr. 40, dessen einzelne Etagen noch die unverkennbaren Spuren des Krieges tragen. Aber schon flickt man hier wie dort und geht an den Wiederaufbau dessen, was ein Krieg zerstörte. Überall hämmert und klopft es, so daß eine Verständigung unter den im gleichen Zimmer Arbeitenden ebenso schwierig ist wie zwischen den Völkern … Nun sitzt dieser Mann in einem kleinen Raum der Filialdirektion am Jungfernstieg, mitten in Lärm und Staub, denn auch nebenan, in Streits Hotel, hämmert und klopft es. Denkt er daran, daß vor diesem Hotel einmal begeisterte Hamburger Studenten dem Dichter des Deutschlandliedes, August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, große Ovationen darbrachten? Wohl kaum, er hat andere Sorgen und vor allem keine Zeit zur Muße, ja kaum zum Essen. Er diniert nicht nebenan, nein, er hat sich schnell ein Paar Würstchen holen lassen, die er so nebenbei mit dem gesunden Appetit seiner Jahre verzehrt. Sein erhobener Zeigefinger und sein strahlendes Lächeln gelten nicht der Hamburger Bockwurst, die ja kurz vorher noch Mangelware und nur auf Fleischmarken zu haben war, sondern einer Idee, die ihm kam und alles das bestimmte, was in den nächsten vier Jahren [nach 1948; J. K.] geschehen sollte.

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Berthold Beitz als Generaldirektor der Iduna-Germania Versicherungsgesellschaften. Karikatur von 1953.

Diese »Idee« heißt Konzentration der Kräfte in Hamburg und – als Krönung, ja Inszenierung der jüngsten Erfolgsgeschichte – Neubau der Unternehmenszentrale durch einen spektakulären, lichten und transparenten Bürobau am Alsterufer. Dieser soll die quer durch die Stadt verstreuten Behelfsbüros ersetzen, über die Beitz sagt: »In diesen Löchern kann ja kein Mensch arbeiten!« Die Anwohner mögen weniger erfreut sein – von jeher ist das citynahe linke Alsterufer ein gehobenes Wohnviertel, wo sich kleine und große Villen, parkähnliche Gärten und Bootshäuser abwechseln; zudem ist es einigermaßen unbeschadet durch den Krieg gekommen. Der Versicherungschef hält den Kritikern entgegen: »Ich kann nicht einsehen, daß hier nur Villen von Millionären stehen sollen!« Von den Protesten des ansässigen Großbürgertums lassen sich weder Beitz noch der Erste Bürgermeister Max Brauer beeindrucken. Im Gegenteil, der populäre Sozialdemokrat, der mit dem jungen Bauherrn bestens auskommt, fördert das Vorhaben.

Das schwungvoll geformte neue Iduna-Germania-Haus, fertiggestellt 1951, wird für lange Jahre das Symbol gelungenen Wiederaufbaus in Hamburg sein. Von außen können die Spaziergänger in die Büros hineinschauen. »Wir haben nichts zu verbergen«, scherzt Beitz über das Bauprinzip. »Hier kann man arbeiten, hier muß man arbeiten. Wir haben hier die schönsten Arbeitsplätze Europas. Sie müssen sich lohnen!«

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»Zerberus« Irmgard Heitmann, Beitz’ langjährige Sekretärin bei der Iduna-Germania in Hamburg und dann bei Krupp in Essen. Karikatur von 1953.

Zu verdanken ist der Entwurf Ferdinand Streb, Berthold Beitz’ altem Freund aus Stralsunder Tagen. Streb ist der wichtigste Architekt der fünfziger Jahre in Hamburg. Seine Bauten sind lichtdurchflutet, weitläufig, Zeugnisse einer neuen Ära nach der dumpfen Gigantomanie der Nazijahre. Unter anderem baut er das Verlagshochhaus für Axel Springer, die hellen Grindel-Hochhäuser und sein bekanntestes Werk, den Alsterpavillon, einen würdigen Ersatz anstelle des 1943 zerbombten Seecafés, über dessen Lage Heinrich Heine einst geschrieben hatte: »Da läßt sich gut sitzen, und da saß ich gut und dachte, was ein junger Mensch zu denken pflegt, nämlich gar nichts, und betrachtete, was ein junger Mensch zu betrachten pflegt, nämlich die jungen Mädchen, die vorübergingen.« Der Pavillon ist noch heute eine Attraktion (und dass Agnes Haerlin, die Gattin des Bauherrn, das kühne Gebäude durch eine plüschige Innendekoration für Kaffeekränzchen schändet, gewiss nicht das Verschulden des konsternierten Architekten). Das Wiedersehen von Beitz und Streb ist herzlich. Pat trifft Patachon, wie die beiden scherzen – so wurden die Freunde in den unbeschwerten Stralsunder Tagen einst genannt.

Beitz führt bei der Versicherungsgesellschaft ein straffes Regiment, das wenig an den schlaksigen Pat erinnert. Über Beitz’ Anfänge 1948 heißt es in einem zeitgenössischen Porträt: »Seine Antrittsrede ist kurz. Manches Gesicht im Saal aber wird lang: ›Wir wollen sofort an die Arbeit gehen. Es wird viel zu viel geredet in Deutschland, meine Herren.‹ Das geht nicht allen wie Honig herunter.« Und in der Mitarbeiterzeitschrift mit dem schönen Namen Weg und Ziel gibt er noch kernigere Parolen aus: »Wenn ich mich heute zum ersten Male an meine Mitarbeiter wende, so erwarten Sie von mir keine programmatische Verkündigung. Ich liebe es nicht zu reden, wenn die mir gestellte Aufgabe ein Handeln fordert. Ein Schwall gewählter Worte an Stelle zäher, zielbewußter Arbeit, ist mir genau so unsympathisch, wie es Ihnen sein wird. Ich arbeite gern … Meine Zeit und meine Gedanken, meine Kraft und mein Arbeitswille gehören ausschließlich unseren Gesellschaften.«

Am Ende wird er viele Mitarbeiter für sich gewinnen: durch das neue Haus, die persönliche, formlose Ansprache, durch Förderung der Motivation und den »Tag der offenen Tür«, an dem er einmal im Monat ohne vereinbarten Termin für jeden Angestellten zu sprechen ist. Außerdem unterbindet er kategorisch Personalquerelen und Bürointrigen. In sein Diensttagebuch notiert er: »Ich machte die Herren darauf aufmerksam, daß ich eine reibungslose Zusammenarbeit wünsche und jeder Fall von Unterwasserschießerei von mir rücksichtslos geahndet würde.« Beitz liebt es, seinen Besuchern einen leeren Schreibtisch zu präsentieren; Aktenarbeit, das stellen sie rasch fest, ist weder seine Leidenschaft noch seine Stärke. »Er las wenig«, heißt es, »und entschied nach mündlichem Vortrag.«

In seiner Amtszeit bis Herbst 1953 nimmt die Doppelgesellschaft einen raschen Aufschwung. Beitz konzentriert das Unternehmen auf Hamburg, belässt aber eine Dependance in Berlin, wo Streb für ihn die alte Iduna-Germania-Zentrale, einen Klassiker des Bauhauses von 1931, in der Charlottenstraße direkt an der Sektorengrenze zum Osten sorgsam wiederaufbaut. Die Assekuranz ist eine der wenigen westdeutschen Gesellschaften, die nun, mitten im aufziehenden Kalten Krieg, in größerem Stil in der Frontstadt Berlin investiert. Beitz erlebt in der geteilten Metropole dennoch nicht nur Dankbarkeit. Einmal besichtigt er mit Streb die Baustelle und begegnet dabei dem zuständigen Senator, der grimmig auf den Architekten zeigt und mit dem sprichwörtlichen Charme des Berliners raunzt: »Was, dieser kleine Mann da vorn soll das größte Bauvorhaben in Berlin durchziehen?«

Es ist die Zeit, in der die Versicherer bereits reiche Leute sind, denn ohne Absicherung der Risiken kann es keinen Wiederaufbau geben; oft vergeben sie Darlehen großzügiger als die Banken. Zusammen mit dem Finanzier Rudolf Münemann gibt Beitz dem Autokonzern Daimler-Benz sogar einen Kredit über zehn Millionen D-Mark – eine damals große Summe. Die Iduna-Germania kann es sich leisten. 1952 sorgt Beitz für eine Fusion mit der Vereinigten Leben-Versicherungsgesellschaft, deren Chef Karl Süßbauer in den Ruhestand gehen wollte. Der Zusammenschluss macht Beitz’ Unternehmen zur drittgrößten Versicherungsfirma in Westdeutschland.

Der selbstbewusste, nicht einmal vierzigjährige Generaldirektor stößt mit seiner Art manche Altgediente vor den Kopf, wie eine Firmengeschichte noch 1990 moniert: »Vielleicht war er zu unbekümmert, zu unkonventionell und zu autokratisch, wirkte zu erfolgssicher und vermochte sich nicht immer in die Mentalität und Denkweise anderer zu versetzen. Manchen mag er zum Schluß zu mächtig geworden sein.« Bei der Konkurrenz und unter seinen Gegnern im eigenen Haus raunt man, nur die hohe Position im Zonenaufsichtsamt bis 1948 könne seinen Aufstieg zum Vorstandschef der Iduna-Germania erklären. Nicht zum letzten Mal lernt er, der nie studiert hat, akademischen Hochmut kennen. In sein Diensttagebuch notiert er: »Außerdem haben die Aufsichtsämter mit meiner Bestellung zum Vorsitzer des Vorstands nichts zu tun. Grund: Grenzenloser Neid … bei den Herren Generaldirektoren, die meinen, daß nur die Leute aus ihren Kreisen Generaldirektoren werden können.« Sein bestes Gegenmittel ist Erfolg, denn nur der garantiert ihm die Freiheit von Seilschaften und mächtigen Geldhäusern, die ihm zeitlebens am Herzen liegen wird: »Gott sei Dank ist die IG eine finanziell unabhängige Gesellschaft, unabhängig vom Großkapital und von den Banken. Ich glaube, daß dies für die Zukunft eine bessere Grundlage ist als die engen Kapitalverbindungen.«

Das ist eine sehr selbstbewusste Haltung für einen jungen Mann, so erfolgreich er auch sein mag. Folgt man Axel Springers Biographen Hans-Peter Schwarz, sind diese frühen Wiederaufbaujahre geprägt von »einem brodelnden Heer lebens- und erfolgshungriger Idealisten«, von denen Springer »einer der erfolgreichsten« war. Und natürlich Berthold Beitz, der den jungen Verleger in diesen ersten Nachkriegsjahren kennen- und schätzen lernt. Springer, geboren 1912 in Altona, nur ein Jahr vor Berthold Beitz, hat die Nazis abgelehnt und es geschafft, in den Kriegsjahren nicht eingezogen zu werden. Nach 1945 startet er in Hamburg durch und begründet mit britischer Hilfe sein Zeitungsimperium: Hör Zu!, Hamburger Abendblatt, Bild. Axel Springer erhält von der Iduna-Germania sogar ein Hypothekendarlehen von zwölf Millionen Mark für den Neubau seines Verlagshauses. Um die beiden Männer bildet sich bald eine lebenslustige Clique aus jungen Erfolgsmenschen wie Streb, bekannten Stars wie dem Boxer Max Schmeling und originellen Gestalten wie Hans Thiede, der nur wenige Meter von Beitz’ erstem Hauptquartier neben Streits Hotel eine Parfümerie betreibt, in der sich die Herren gern rasieren lassen. Morgens sieht Beitz den nur 1,50 Meter großen Thiede manches Mal vor dem Laden am Jungfernstieg 40 stehen, wo er mit dem Bowlerhut auf dem Kopf seine Kunden namentlich begrüßt.

Die jungen Aufsteiger speisen gern in den besseren Häusern der Stadt, dem »Weinrestaurant Halali« an den Großen Bleichen oder nach der Freigabe durch die Briten 1952 in den »Vier Jahreszeiten« an der Binnenalster. Beide Häuser gehören Fritz Haerlin, einem weiteren, freilich älteren Mitglied des Freundeskreises. Das »Halali« ist mit einem Gobelin verziert, den Haerlin während des Krieges in einer Scheune versteckt hat; es bietet neben »Schümanns Austernkeller« die beste Küche der Stadt und einen für die Nachkriegsjahre schwelgerischen Luxus mit seinen samtbezogenen Stühlen, dem schweren Silber und alten Kristallgläsern. Beitz geht hier ein und aus, etwa mit SPD-Wirtschaftssenator Karl Schiller, den er 1967 während der großen Krupp-Krise unter erheblich weniger erbaulichen Umständen wiedertreffen wird, und trinkt mit seinen Begleitern gern ein schönes Fläschchen Neumagener Rosengärtchen, Spätlese 1947, Sanitätsrat Dr. Ronde. Max Schmeling wiederum, 1936 mit spektakulärem K. o. Sieger gegen Joe Louis und 1941 Fallschirmjäger bei der mörderischen Schlacht um Kreta, stößt durch Springer zum Kreis hinzu. Mit dem Verleger hat er zuerst ins Zeitungsgeschäft einsteigen wollen. Daraus wird zwar nichts, aber Schmeling bleibt der alten Clique und nicht zuletzt Beitz treu verbunden. In den fünfziger Jahren macht er dann ein eigenes Vermögen durch amerikanische Gönner und als Chef einer Coca-Cola-Niederlassung.

Auch der Bankier Alwyn Münchmeier und Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein, der den Sitz des Nachrichtenmagazins 1952 von Hannover nach Hamburg verlegt, gehören zu den Hamburger Freunden. Beitz sagt im Rückblick: »Es war eine schöne Zeit, freilich hat Axel Springer dann später nicht mehr so gern hören wollen, dass ich ihm bei der Iduna-Germania zwölf Millionen Mark geliehen habe. Aber wir waren die Gruppe junger Leute, die in Hamburg etwas zu sagen hatten. Manchmal sind wir um zwei oder drei Uhr nachts noch durch die Stadt gefahren.« Sie fühlen sich unschlagbar: »Wir waren die Könige von Hamburg.«

Dies ist ein Königreich des Erfolgs. Beitz steigt mit einer geradezu atemberaubenden Leichtigkeit auf, die selbst für Wirtschaftswunderkarrieren verblüfft. Binnen weniger Jahre ist aus dem Flüchtling, der mittellos in Lederhosen auf dem Hauptbahnhof stand, einer der Topmanager der großen Stadt geworden. Er engagiert sich sogar, obwohl ihn diese Musik, freundlich formuliert, nicht recht anspricht, bei der »Gesellschaft der Freunde Bayreuths«, also den Wagner-Festspielen. Unter anderem sorgt ein stattlicher Kredit der Iduna-Germania dafür, dass diese 1951 erstmals wieder aufgeführt werden. Mit im Publikum: Berthold Beitz, der als Ehrengast die Bekanntschaft von Herbert von Karajan und Wilhelm Furtwängler macht. Vor allem aber ist die Gesellschaft der Freunde Bayreuths ein wichtiges Forum für Unternehmer, wie Beitz ohne Scheu bekennt: »Wenn Sie Kontakte zur Industrie suchen, müssen Sie mitmachen. Da haben Sie die ganze Bande beieinander.«

Darüber hinaus ist es, vielleicht, eine Zeit des Vergessens. Arbeit und Vergnügen, Aufstieg und Glück, das alles vollzieht sich in Hamburg mit einer Intensität, als entstünde hier eine Gegenwelt nicht nur zu den ärmlichen Verhältnissen der Zemminer Kindheit, sondern auch und vor allem zu den Schreckensjahren in Boryslaw – und zu den Erinnerungen daran. Nicht wenige Menschen, die Erlebnisse wie er hatten, bleiben seelisch in der Vergangenheit gefangen und finden sich in der Nachkriegsgesellschaft nicht mehr zurecht. Das prominenteste Beispiel ist Oskar Schindler, der nach 1945 in Verwahrlosung und Alkoholismus versinkt. Eberhard Helmrich, der Retter von Drohobycz, lebt vereinsamt und verarmt in den USA, wohin er emigriert ist. Beitz aber baut sich eine neue Welt mit der Kraft eines Mannes, der entschlossen ist, nicht zum Gefangenen der Vergangenheit zu werden.

Sieht man genauer hin, ist er meist von Freunden umgeben, die unverdächtig sind, die braunen Jahre zu verklären, neben Augstein, Streb und Springer etwa auch Erik Blumenfeld, ein jüdischer Auschwitz-Überlebender und Mitbegründer der Hamburger CDU. Blumenfeld ist ein enger Freund von Axel Springer und versteht sich sehr gut mit Beitz.

Dabei bleibt es erstaunlich, dass sie selbst untereinander ihre Geheimnisse für sich behalten: Beitz die seinen über Boryslaw, Schmeling über die beiden jüdischen Jungen, die er 1938, während der »Kristallnacht«, versteckt hat; Blumenfeld über seinen Widerstand und seine Leidenszeit im KZ; sogar Haerlin, einst Mitglied der Reiter-SS – der er, wie er stets beteuerte, nur wegen des Pferdesports beigetreten sei –, hatte anders als viele Hoteliers vor dem Krieg Juden in seinem Hotel aufgenommen, die auf die Ausreise warteten. Blumenfeld immerhin stellt sich als CDU-Mann in der Hamburger Bürgerschaft hinter die Entscheidung des amerikanischen Hohen Kommissars McCloy, einige verurteilte NS-Kriegsverbrecher hängen zu lassen. Das bringt ihm böse Angriffe ein »in einer Öffentlichkeit, die eher auf Schlussstrich und Amnestie eingestellt war« (Frank Bajohr). Sie reden nicht einmal miteinander über diese Dinge, so als sei ihnen das Schweigen zur zweiten Natur geworden. Dabei sind die Erlebnisse für jeden von ihnen noch sehr präsent, auch für Beitz. »Das hat man noch lange in den Knochen«, sagt Beitz heute, »noch sehr lange.« Aber er behält es für sich. Nur in seinem schon zitierten heiter-ironischen Unternehmensbericht von 1953 klingt Distanz zu einer sehr vergesslichen Umwelt durch: »Der Gefahr, … näher auf die Ereignisse und Wirrnisse der Jahre 1933 bis 1939 und weiter bis 1945 einzugehen, wird unser Redner keineswegs erliegen. Denn er ist ein kluger Mann, der politische und militärische Fakten nur kurz erwähnt, um sich sodann eingehender mit dem Wirtschaftlichen zu beschäftigen.«

Partys, Männerfreundschaften und vor allem die ewige Arbeit: Beitz’ junge Familie ist darüber nicht immer begeistert. Andererseits hat der phönixhafte Aufstieg des Ehemanns und Vaters die Familie und die Verwandtschaft wie durch Zauberhand aus der Hüttensiedlung herausgeholt. Else und Berthold Beitz wohnen mit ihren beiden Töchtern nun in schönster Alsterlage in der Blumenstraße, wo sie zwei Etagen eines Jugendstilhauses gemietet haben. Auch die Hochheims haben das Wandsbeker Notquartier schon lange verlassen; und 1947 sind auch endlich Berthold Beitz’ Eltern aus Greifswald nach Hamburg gekommen – wo der Sohn dem Vater Erdmann Beitz diskret zu einem guten Bankjob verholfen hat. Trotz allem ist Beitz oft fort, zu oft aus Sicht der Seinen, wie es Springers Hamburger Abendblatt 1951 im gönnerhaft altväterlichen Stil der Zeit beschreibt: »Seine Frau und die beiden lütten Deerns sehen ihn selten. ›Pappi fährt immer weg‹, mault die Jüngere.« Der Journalist mutmaßt, dass Beitz bald noch länger fortbleiben wird: »Bürgermeister Brauer meint nämlich, wer eine solche ›amerikanische Karriere‹ gemacht habe, solle sich auch jenseits des großen Teichs umschauen.«

Das große Angebot aber, das Berthold Beitz’ Leben für immer ändern soll, kommt nicht aus den USA. Es kommt aus Essen, dem Reich der Kohle, Schlote und Ruhrbarone.