Alfried Krupp: Der stille Stahlkönig

EIN MÄDCHEN AM MEER

Später ist Berthold Beitz oft gefragt worden: War das wirklich Zufall? War er, Beitz, nicht längst ein Kandidat für die Spitze des größten deutschen Industriekonzerns, nur eben, ohne davon zu wissen? Aber das stimmt nicht, versichert Beitz: »Die Begegnung mit Alfried Krupp war ein reiner Zufall.«

Und tatsächlich, eine Kontaktaufnahme auf solchen Umwegen ließe sich schwerlich planen. Die Geschichte beginnt in Kampen auf Sylt und mit der spontanen Idee, eine Skulptur für den Erweiterungsbau der Iduna-Germania in Hamburg zu schaffen. Und am besten, denkt Beitz, wäre doch die Iduna selbst, die Namensgeberin, Göttin der Jugend aus der nordischen Mythologie. Sein Freund Jean Sprenger übernimmt die Sache. Den 30-jährigen Essener Bildhauer und Bonvivant, Sohn einer Industriellenfamilie, hat Beitz im Kampener Lokal »Kupferkanne« kennengelernt, einem beliebten Treffpunkt des Sylter Freundeskreises. Wie es der Zufall will, ist die junge Frau, die Beitz als Iduna-Modell im Auge hat, die Schwester von Sprengers Freundin.

Ein paar Wochen später steht Beitz in Sprengers Essener Atelier. Er will die Figur anschauen, die künftig sein Hauptquartier verschönern soll. Als der Bildhauer die Plastik stolz enthüllt, fühlt sich der Besucher verpflichtet, zur Ehrenrettung des lebenden Vorbilds ein kritisches Wort anzubringen: »Herr Sprenger, die Beine sind zu dick.«

Da öffnet sich die Tür, und ein Mann kommt herein, »groß, schmal und sehr blass«, so Beitz. Die beiden stellen sich vor: »Krupp«, »Beitz«. Es ist der Beginn einer Beziehung, die deutsche Industriegeschichte schreiben wird. Aber davon kann Berthold Beitz natürlich noch nichts wissen, als Krupp ihn und Sprenger zum Abendessen einlädt. Beim Gespräch im Restaurant betrachtet er den Mann, dem Deutschlands bekanntester Konzern gehört und der nun mit ihm am Tisch sitzt: »Da war er ganz schüchtern, sehr ruhig.« Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, im Jahr 1952 Alleineigentümer des Konzerns und einer der reichsten Männer Deutschlands, sein jüngerer Bruder Berthold und Jean Sprenger sind alte Bekannte. Sie alle haben das Real-Gymnasium Essen-Bredeney besucht, und Sprenger wird nie vergessen, wie demonstrativ einfach die Kinder der mächtigen Familie aus der Villa Hügel, dem Sitz der Industriellendynastie, gekleidet waren. Alfried und Jean ruderten gemeinsam, studierten in Berlin. Manchmal kommt Alfried Krupp von Bohlen und Halbach abends bei Sprenger vorbei und bleibt auf das eine oder andere Glas Whisky, Reval in Kette rauchend, wortkarg. Der Künstler ist sensibel genug, den alten Freund nicht mit Anliegen oder Wünschen zu behelligen, wie es sonst so viele tun. Dietrich Otzen schreibt in seinem Abriss über Sprengers Leben: »Die gegenseitigen Geschenke bewegten sich auf dem Niveau eines Picknick-Korbes oder ausgewählter Schallplatten.« Auch manche Reise unternehmen sie gemeinsam.

Nach jener ersten Begegnung kommt Alfried Krupp wiederholt nach Hamburg und besucht Beitz bei der Iduna-Germania an der Rabenstraße. Der freilich rätselt, was der stille Mann von der Ruhr denn bei ihm wollen könne: »Ich saß in meinem schicken Büro an der Alster, alles aus Glas, ganz modern gebaut. Und im Sessel saß Alfried Krupp, wir sprachen über dieses und jenes. Aber was ihn eigentlich herführte, das verriet er nicht.« Beitz fragt sich: Will er Geld? Will er einen Kredit? Das wird es sein: »Wir Lebensversicherer hatten Geld, wir waren damals reiche Leute.« Aber Krupp fragt nicht nach Geld.

EIN MANN MIT VERGANGENHEIT

Beitz informiert sich über den rätselhaften Gast, und sein Freund Axel Springer lässt ihm ein Archivdossier zusammenstellen.

Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, geboren 1907, ist der älteste Sohn von Gustav und Bertha Krupp von Bohlen und Halbach und Alleininhaber der Firma Krupp. Von seinen sieben Geschwistern sind die Brüder Claus und Eckbert im Krieg umgekommen. Alfrieds Kindheit in der Villa Hügel, dem zyklopischen Familiensitz in Essen, ist geprägt von väterlichen Strafen, von Strenge, Gefühlskälte und den Erwartungen an ein künftiges Mitglied der industriellen Führungsschicht. Alfrieds Wünsche und Gefühle haben sich der Rolle zu fügen, die von Anfang an festgelegt ist. »Mein Leben hat nie von mir selbst abgehangen«, wird er später einmal sagen. Er studiert in Aachen und München. Die gemeinsame Studienzeit mit Jean Sprenger im Vorkriegs-Berlin ist eine kurze Flucht. In Berlin verliebt er sich und heiratet gegen den Willen der Eltern 1937 die schöne, lebenslustige, bereits geschiedene und persönlich unstete Annelise Bahr. Ob die Verbindung nun nicht standesgemäß genug für die Familie ist oder ob Annelise Bahr sich nicht einfügen mochte in den Familienclan, jedenfalls ist die Ehe früh zerrüttet. Schon 1939 ist er von Annelise und dem gemeinsamen kleinen Sohn Arndt getrennt. »So endete Alfried von Bohlens erste Ehe«, schrieb Golo Mann in seiner unvollendeten, unveröffentlichten Biographie Alfried Krupps, »ein flüchtiger Ausflug in Unabhängigkeit und Glück.« Im Dezember 1943 rückt er schließlich an die Spitze des Konzerns.

Die Firma Krupp gehört, wenn auch in geringerem Umfang als während des Ersten Weltkriegs, in den Jahren von 1939 bis 1945 zu den führenden Rüstungsproduzenten Deutschlands. Hitler spricht von der »Waffenschmiede des Reiches«. »Hart wie Kruppstahl« müsse die deutsche Jugend werden, schreit der Diktator gern in seinen ekstatischen Ansprachen; allein dadurch entrückt der Name Krupp ins Mythische, das mit der Realität nur teilweise zu tun hat. Für den Essener Großkonzern bauen 1939 schon 125 000 Arbeiter Panzer, schwere Artillerie und Waffen aller Art – aber in noch größerem Maße zivile Produkte wie zuvor. Im Laufe des Kriegs regieren die Nazis, vor allem Hitlers oberster Rüstungsplaner Albert Speer, immer direkter in die Firmenpolitikhinein. Ein Konzern wie Krupp kann und darf sich dem Kriegnicht entziehen, Gustav Krupp will es auch nicht. Gustav Krupp, überzeugt davon, dass die Firma im Erbfall weiterhin in einer Hand bleiben müsse, setzt 1943 mit der »Lex Krupp« durch, dass die Aktiengesellschaft wieder in ein Familienunternehmen mit einem einzigen Inhaber umgewandelt werden konnte. Doch der zweitälteste Sohn, Claus von Bohlen, Liebling des Vaters, der vielen als möglicher kommender Erbe galt, ist schon 1940 als Piloteines Jagdflugzeugs der Luftwaffe abgestürzt. Um die Gesundheit des Vaters steht es schlecht, und so kommt die Reihean Alfried.

Seine Rolle bis zur Kapitulation 1945 ist zwiespältig und entbehrt gewiss nicht persönlicher Tragik. Er ist ein Herr, kein Bonze, die Naziideologie spricht ihn nicht an. Er tut, wozu man ihn erzogen hat und was er als seine Pflicht versteht. Er sorgt wiederholt für eine bessere Behandlung von Zwangsarbeitern und fordert doch solche an. Er unterscheidet sich durch höfliche Umgangsformen und elegante Zivilkleidung geradezu demonstrativ von seiner uniformversessenen Umgebung, zugleich aber bemüht er sich, so effizient wie möglich die Forderungen der NS-Rüstungsplaner um Albert Speer zu erfüllen. Und obgleich seit 1937 Mitglied der Partei, gehört er andererseits nicht zur Nomenklatura des Dritten Reiches. In den Staaten der Kriegsgegner kennt jedes Kind den unheilvoll klingenden Namen Krupp, der Konzernchef gilt als überaus mächtiger Mann. Und doch kann nicht einmal er verhindern, dass die Gestapo Gustav Krupps geschätzten Schwager Tilo Freiherr von Wilmowsky nach dem Attentat des 20. Juli 1944 als verdächtigen Regimegegner verhaftet und ins Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert. 1945 schließlich ist Alfried Krupp, was er nie hat sein wollen: das Gesicht des Krupp-Konzerns, jedenfalls in den Augen der Sieger. In Deutschland dagegen, so der Historiker Lothar Gall, wurde er in der NS-Zeit eigentlich »neben der dominierenden Figur seines Vaters kaum wahrgenommen«, er »blieb passiv, er ergriff keine Initiativen und nur selten das Wort«. Um Krupp scheint es geschehen zu sein, als US-Militärpolizisten am 11. April 1945 vor der Villa Hügel vorfahren und Alfried Krupp von Bohlen und Halbach ohne weitere Höflichkeiten abführen. Daran ändert auch der um Wahrung der Würde bemühte Krupp’sche Hausverwalter nichts, der das Verhaftungskommando begrüßt, als sei es zu einer Teestunde mit dem Herrn des Hauses vorgefahren: »Herr von Bohlen erwartet Sie. Würden Sie bitte nähertreten?«

Wie selbst angelsächsische Zeitungen mit dem Abstand von einigen Jahren schreiben werden, gerät Alfried Krupp »überwiegend aus symbolischen Gründen« auf die Nürnberger Anklagebank. Der Mann, der wesentlich mehr zu erzählen gehabt hätte als sein Sohn, sitzt derweil teilnahmslos in einem Sessel im Posthaus neben seinem Schloss Blühnbach, weit entfernt von der Welt, die er nicht mehr versteht. Die Demenz ist bei Gustav Krupp 1945 schon weit fortgeschritten. Er hat mehrere Schlaganfälle erlitten und spricht, wenn überhaupt, nur noch unzusammenhängend. Man wird ihn nicht mehr vor Gericht stellen können. Dabei ist er es gewesen, der, obwohl kein Freund der Naziideologie, wie so viele geblendet war von der Macht und den außenpolitischen Erfolgen des Regimes. Er ist es gewesen, der Krupp nolens volens nah an den NS-Staat herangeführt und vor der Werksbelegschaft verkündet hat: »Hitlers gedenken wir in Verehrung und Glauben, in Liebe und Dank.« Gustav Krupp von Bohlen und Halbach ist im Jagdgut Blühnbach bei Salzburg untergebracht, seit 1916 im Besitz der Familie, Ferienhaus und Sommerresidenz, von den Besatzungstruppen requiriert. Berthold Beitz erinnert sich, was ihm Alfried Krupp berichtet hat: »Der Vater saß in Blühnbach, auf einem Stuhl, und hat immer nur geschaut, vor der Tür, in der Sonne. Einmal hat ein Jäger, ein alter Freund von ihm, gesagt: Herr Baron, da ist ein Hirsch, den können Sie schießen. Aber er hat nur gesagt: Wo? Ich sehe nichts. Er hat den Hirsch gar nicht mehr gesehen.« Bis zu seinem Tod 1950 bleibt Gustav Krupp dort in Blühnbach, ein Denkmal seiner selbst, in tiefer Umnachtung.

Krupp, der kurze, einprägsame Name, ist in Westeuropa der Inbegriff der Kumpanei zwischen mächtigen Industriellen und einem Regime ohne Gewissen. In dieser Wahrnehmung spielt es keine Rolle, dass Krupp nur eines, wenn auch ein sehr großes deutsches Unternehmen unter vielen im Dienst der Kriegsproduktion gewesen ist. Vor allem aber hat Krupp im Krieg gar nicht die Schlüsselrolle gespielt, an welche die Alliierten glaubten. Der Konzern galt Hitlers Kriegsplanern als Waffenhersteller mit scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten – dabei war die kleinteilige, auf eine Vielzahl von Produkten ausgelegte Fertigung gar nicht geeignet, den Wünschen der Nazis gerecht zu werden. Diese träumten bis zuletzt von gewaltigen Anlagen, die modernste Waffen am Fließband ausspuckten wie Autos bei Ford in den USA. Wie der Historiker Werner Abelshauser schreibt, haben die Krupp-Manager im Bemühen um Privilegien und Aufträge durch das Regime sogar selbst den Eindruck erweckt, kein Unternehmen sei besser als Krupp auf den Bau von Waffen für den Krieg vorbereitet. Diese, »im Wesentlichen unzutreffende Darstellung mussten der Krupp-Konzern und sein Inhaber freilich teuer bezahlen« – nach 1945. Das alliierte Tribunal in Nürnberg verurteilt Alfried Krupp 1948 vor allem wegen des Einsatzes von Zwangsarbeitern durch das Unternehmen und der Ausbeutung von besetzten Gebieten zu zwölf Jahren Haft und der Einziehung seines gesamten Vermögens.

Sosehr Alfrieds Schwager Tilo von Wilmowsky, der als KZ-Häftling die Todesmärsche nur knapp überlebt hat, Alfried Krupp später in Schutz nimmt (»Strafprozesse werden doch nicht gegen Ideologien und Legenden, sondern gegen Menschen geführt«) – frei von Verstrickung in das Regime und seine Verbrechen sind weder Alfried Krupp noch seine Firma gewesen, denn immerhin war er noch für anderthalb Kriegsjahre Herr des Konzerns. Wenn es eine Ungerechtigkeit gibt, dann ist es die Fixierung auf Krupp als Symbol des Bösen beziehungsweise auf einen Mann, der keineswegs ein überzeugter Nationalsozialist war. Die Wahrheit über die deutsche Wirtschaft im Dritten Reich ist im Grunde viel schlimmer, als die Prozesse gegen einzelne Träger großer Namen es zeigen können. Wie viele Bereiche der Gesellschaft hat ein Großteilder Unternehmerschaft das Regime mitgetragen, von ihm profitiert und sich mit Schuld beladen; sie hat die besetzten Staaten ausgebeutet, von Kriegsaufträgen profitiert und Sklavenarbeiter aus allen Ländern schuften lassen.

Sechs Jahre sitzt Alfried Krupp im Landsberger Kriegsverbrechergefängnis ein, jenem düsteren früheren Festungsgefängnis der Kaiserzeit, in dem schon Adolf Hitler nach dem missglückten Münchner Putsch von 1923 ein paar – freilich nicht allzu beschwerliche – Monate verbracht hat. Die schwer bewachte Anlage, konzipiert für Hunderte von Häftlingen, ist ein Universum für sich, der freundlichen Kleinstadt mit ihren Tortürmen, Bürgerhäusern und bunten Fassaden am Lech sehr nah und doch sehr weit von ihr entfernt. Zweimal am Tag werden die Gefangenen zur Arbeit geführt, für je vier Stunden, und jedes Mal danach gründlichen Leibesvisitationen unterzogen. Alfried Krupp betätigt sich als Schlosser. Im Besuchssaal der Anstalt trifft er gelegentlich seine Direktoren, die in seiner Abwesenheit die Trümmer des Konzerns zu verwalten suchen. »Nennen Sie mich Krupp«, antwortet er einem Aufseher, der ihn höflich fragt, wie er angesprochen werden wolle, »wegen dieses Namens sitze ich hier.«

In einem streng abgeschirmten Seitentrakt der Anstalt sind die »Rotjacken« untergebracht, die zum Tode Verurteilten, unter den Häftlingen so benannt nach ihrer Kluft: etwa Otto Ohlendorf, Leiter der SS-Einsatzgruppe D, die hinter der Front im Osten Zehntausende Menschen umgebracht hat. Oder Hans-Theodor Schmidt, der Adjutant des Lagerkommandanten aus Buchenwald. Verglichen mit ihnen, den Mördern, scheint der Industrielle aus Essen wie aus einer anderen Welt zu kommen.

Alfried Krupp hat in Landsberg viel Zeit zum Nachdenken. Es geht ihm nicht gut, er grübelt, blickt auf ein freudloses, an Schicksalsschlägen und falschen Entscheidungen nicht armes Leben zurück. Vor allem aber ist er allein, wie fast immer. Von der Familie Krupp fühlt er sich verlassen. Die Frau, die er einmal geliebt hat, ist ihm seit langem entfremdet. Arndt, der gemeinsame, 1938 geborene Sohn, weilt im Landerziehungsheim Stein in Oberbayern.

Die Wende bringt ausgerechnet ein neuer Krieg, weit entfernt auf der koreanischen Halbinsel. Am 25. Juni 1950 überrennen Soldaten des kommunistischen Nordkorea die Grenze nach Süden, und aus dem Kalten Krieg der längst entfremdeten Siegermächte in Ost und West entwickelt sich ein blutiger Stellvertreterkonflikt. Der Koreakrieg hat für Deutschland ungeahnte Folgen: Aus Geschlagenen und Geächteten werden unversehens Bündnispartner, und die Zerschlagung westdeutscher Konzerne rückt auf der politischen Prioritätenliste zumal der USA endgültig um etliche Plätze nach unten. Die Wirtschaft an der Ruhr wird wieder gebraucht – und damit auch Alfried Krupp von Bohlen und Halbach.

Hinzu kommen Zweifel an der Gerechtigkeit des Urteils. »He was not the real Krupp«, sagt der alliierte Hochkommissar John McCloy 1951, als er ihn und viele andere Landsberger Häftlinge begnadigt: Er war nicht der wirkliche Krupp, sprich, nicht einfach gleichzusetzen mit seinem Vater. Daher sei es nicht gerechtfertigt, »diesen Mann weiterhin im Gefängnis einzusperren, hauptsächlich deswegen, weil sein Name Krupp ist«.

Am 3. Februar 1951 öffnen sich die Tore der Landsberger Haftanstalt, es ist ein nebliger, frösteliger Morgen. Alfried Krupp tritt hinaus in die Freiheit, dazu weitere 28 Begnadigte. Ohlendorf und andere SS-Massenmörder hingegen bleiben hinter Gittern und werden bald hingerichtet, denn auch die neue Großmut der Sieger hat Grenzen, trotz peinlicher Gnadenappelle deutscher Politiker. Die nun Freigelassenen tragen Skihosen und dunkle Jacken, nur nicht Alfried Krupp, der in dunklem Anzug und Krawatte erscheint, hochgewachsen und schmal. Es bleibt ihm kein Moment des Durchatmens. Die Objektive vieler Kameras richten sich auf ihn, Reporter aus aller Welt haben in der Kälte vor dem Hauptgebäude mit seinen seltsam verspielten Zwiebeltürmen gewartet. Er ist ein freier Mann, sechs Jahre vor der Zeit, die seine Richter vorgesehen hatten. Und er ist ein reicher Mann, denn McCloy hat angeordnet, Krupps Vermögen freizugeben, das beschlagnahmt war. Vor allem aber ist Alfried Krupp ein erschöpfter, misstrauischer Mann, der mit 43 Jahren aussieht, als sei er ein Jahrzehnt älter. Sein Bruder Berthold wartet auf ihn, einen Strauß Tulpen und Narzissen in der Hand.

In einem Landsberger Hotel gibt Alfried Krupp eine Pressekonferenz, auf der viele Journalisten ungläubig eine Art Schwur hören. Ob er nun wieder Waffen produzieren werde? Krupp antwortet: »Ich habe nicht den Wunsch und nicht die Absicht. … Ich hoffe, es wird für Krupp nie wieder nötig sein, zum Waffengeschäft zurückzukehren.«

Kaum einer der Anwesenden, die hektisch ihre Berichte über die Rückkehr des Krupp-Herrn in die Welt hinaustelegrafieren, vermag sich indes vorzustellen, dass er es ernst meint. Alfried Krupp wird es nicht leicht haben in Freiheit.

EIN NÄCHTLICHER HANDSCHLAG

Das also ist der Mann, der nun, im Herbst 1952, immer wieder Kontakt zu Berthold Beitz sucht. Aber warum?

Am 25. September 1952 trifft sich eine größere Runde im Hamburger Hotel »Vier Jahreszeiten«. Mit seiner weißen Jugendstilfassade, der weiten Fensterfront zur Binnenalster, den herrschaftlichen Räumen, dem gediegenen Rot der Kaminzimmer, den Bars und dem Restaurant ist das Hotel wieder, was es vor der Beschlagnahmung durch die Briten gewesen ist: ein Treffpunkt der gehobenen Hamburger Gesellschaft. Der Bildhauer Jean Sprenger ist da, Alfried Krupp stößt hinzu, begleitet von seiner zweiten Frau Vera. Eine Kapelle spielt auf. Ernst sitzt Alfried Krupp in der Runde, so ernst, wie Gastgeber Beitz ihn inzwischen kennt. Es ist spät am Abend, als der Gast aus Essen ihn plötzlich fragt: »Haben Sie einen Augenblick Zeit, Herr Beitz?« Und Beitz, überrascht, denkt bei sich: Aha! Jetzt will er Geld haben.

Die beiden treten hinaus in die Nacht, es regnet, die Lichter des Jungfernstiegs spiegeln sich im dunklen Wasser der Binnenalster. Krupp und Beitz machen einen Spaziergang entlang des Ufers, als der stille Stahlkönig unvermittelt eine weitere Frage stellt: »Möchten Sie nach Essen kommen und mir helfen, den Konzern wiederaufzubauen?« Beitz schweigt kurz. Welch eine Gelegenheit. Dann aber antwortet er: »Nein, Herr von Bohlen, das muss ich leider ablehnen. Ich habe hier eine schöne Position als Generaldirektor, wir wohnen in einem schönen Haus, ich fühle mich wohl in Hamburg.« Krupp lässt jedoch nicht locker: »Sie bekommen Generalvollmacht, Sie können handeln wie ein Eigentümer und machen, was Sie wollen. Ich würde Sie gern als Generalbevollmächtigten in Essen haben.« Schließlich sagt Beitz: »Gut.« Im Rückblick berichtet er: »Es gab nichts Schriftliches – nur einen Handschlag zwischen zwei Männern.«

Natürlich fragt nicht nur Else Beitz ihren Mann, sondern dieser auch sich selbst – und das manchmal bis zum heutigen Tag: »Wie bist du eigentlich dazu gekommen, vor der Tür des Vier Jahreszeiten ja zu sagen?« Ging es um Geld? »Nein«, so Beitz heute. »Ich habe bei der Versicherung gut verdient, und wir haben damals an der Alster gar nicht über Geld gesprochen. Später hieß es dann, ich hätte gleich ein Gehalt von einer Million Mark im Jahr bekommen, aber das stimmt nicht. Es lag anfangs zwischen 300 000 und 400 000 Mark« – für die fünfziger Jahre eine erkleckliche Summe, gewiss, aber dann doch wieder nicht der Grund, das Leben so radikal zu ändern.

War es der Ruhm? Heute sagt Beitz: »Nein, ich war ja für meine jungen Jahre in Hamburg ein angesehener Mann, ich kannte die Größen der Stadt, war gesellschaftlich anerkannt.« Auf ein bestimmtes, leicht erklärbares Motiv lässt sich seine Zusage selbst im Abstand von mehr als fünf Jahrzehnten also nicht zusammenfassen. Vielleicht spielte auch der Mythos Krupp eine Rolle. Gewiss aber war es, wie so oft in seinem Leben, eine Frage der Intuition, das Gespür für das Richtige, die Entscheidung aus dem Bauch heraus – für einen Posten, der ihm garantierte, was ihm so überaus wichtig ist: die Freiheit des Handelns, die ihm die Vollmacht über den Großkonzern bieten wird.

Der Spaziergang, der aus Beitz einen der wichtigsten Industriellen der Bundesrepublik machen wird, hat übrigens keine Viertelstunde gedauert. Als die beiden durchnässten Männer zurück in das Restaurant des »Vier Jahreszeiten« treten, spielt die Kapelle einen Tusch. Es wirkt fast so, als gratulierten die Musiker. »Was ist los?«, fragt Krupp verblüfft. Berthold Beitz lacht: »Ich habe heute Geburtstag.«

Er hatte an sich nicht so lange bleiben wollen. Aber nun sitzen sie noch lange beisammen: Beitz, Krupp, Sprenger und andere. Es ist nach zwei Uhr, als Beitz nach Hause kommt. Else Beitz, die mit ihrem Mann am nächsten Abend seinen Geburtstag feiern will, ist wenig erbaut: »Wo kommst du denn jetzt her? Wir haben heute Gäste zu deinem Geburtstag eingeladen.« Worauf Beitz antwortet: »Ich will dir noch etwas sagen: Wir gehen nach Essen.«

Er ist jetzt 39 Jahre alt und dachte, es eigentlich schon weit gebracht zu haben. Dabei hat seine Karriere eben erst begonnen.