Wegbereiter der Ostpolitik (1956–1969)
EIN BRIEF AUS POLEN
Die Straßen waren einmal schön, gesäumt von prächtigen Bürgerhäusern aus der Zeit vor den Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Aber an diesem Tag des Jahres 1963 wirken die Fassaden trist und grau, als eine Autokolonne entlangfährt, Mercedes-Limousinen neuester Bauart mit den modischen Flügeln am Heck. Ihre Kennzeichen beginnen allesamt mit E-RZ. Es ist die Krupp’sche Dienstwagenflotte aus Essen, am frühen Morgen auf dem Weg zur Posener Messe, an Bord Berthold Beitz.
Ein westdeutscher Großindustrieller als Gast der wichtigsten Industrieschau Polens, ja des ganzen Ostblocks – in den Jahren des Kalten Krieges gleicht das anfangs fast dem Besuch eines Außerirdischen. Der Emissär aus Essen entspricht diesem Bild nun keineswegs, als er vor den Kameras und neugierigen Reportern das Wort ergreift und erklärt: »Wissen Sie, ich war in Polen während des Krieges.« Man solle nach allem, was er damals gesehen habe und was geschehen sei, »freundschaftliche Beziehungen« anstreben. Wie zwei alte Freunde ziehen Beitz und Polens Ministerpräsident Józef Cyrankiewcz über die Messe, der Deutsche strahlt Herzlichkeit aus und scheint sich fast wie zu Hause zu fühlen hinter dem Eisernen Vorhang, im Imperium der Sowjetunion, in dem sehr viele Westdeutsche nur das Reich des Bösen, der Kälte, des kommunistischen Feindes sehen.
Später, im Rückblick, wird Beitz einmal über seine Besuche in Warschau und Moskau, Sofia und Bukarest schreiben: »›Die Flagge folgt dem Handel‹ – dieses englische Sprichwort galt auch für unsere Situation; allerdings waren wir nicht in Kolonien unterwegs, sondern in Kulturländern, die die Deutschen ohne Zwang zu Feindesländern gemacht hatten.« Bei Krupp wird Beitz ja anfangs als »der Amerikaner« bezeichnet. Er hat den Konzern im Westen wieder salonfähig gemacht, er liebt New York und den freien Geist der angelsächsischen Welt. Die meisten seiner Reisen führen ihn jedoch nach Osteuropa, und mit Beifall daheim darf er deswegen nicht rechnen.
Es beginnt eigentlich mit einem Brief aus Warschau, der im Juni 1956 auf seinem Schreibtisch in Essen landet. Rührung und viele Erinnerungen überkommen ihn, als er den Absender liest: Peter Ehrlich, sein engster polnischer Mitarbeiter aus Boryslaw. Ehrlich hat in der Zeitung gelesen, dass der junge Direktor aus Boryslaw nun einer der mächtigsten Industriellen Westdeutschlands ist. »Diese Nachricht hat mich besonders erfreut, Ihren Mitarbeiter in der Karpathenoel in Boryslaw. Oft denke ich zurück an diese schwere Zeit und an Ihre uns allen erwiesene menschenfreundliche Hilfe … Mir geht es gut, ich bin Professor, bin auch in der Wirtschaft unseres Landes tätig. Bei uns bessert sich alles von Tag zu Tag, das Land heilt die schweren Wunden, die ihm der Krieg gebracht hat.« Schließlich gibt er Beitz einen Hinweis, der vielleicht so etwas wie eine Initialzündung wird: »Unser Land ist jetzt ein erstklassiges Absatzgebiet für Maschinen und andere Güter der Schwerindustrie, und es bestehen jetzt große Möglichkeiten für den Ost-West-Handel [und] für die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Ländern.« Beitz antwortet herzlich (»Meine älteste Tochter ist schon eine junge Dame«) und hofft, er werde Peter Ehrlich bald »als meinen Gast in Deutschland begrüßen«.
Schon im Jahr darauf kommt Ehrlich nach Essen, ein kleiner, sehr lebendiger und etwas undurchsichtiger Mann. Er ist Professor für Betriebswirtschaft in Kattowitz und gleichzeitig Journalist für ein Wirtschaftsblatt, vor allem aber Kopf eines polnischen Beratergremiums, das eng mit den neuen Machthabern in Warschau verflochten ist. Im Herbst 1956 ist der einst von Stalin gestürzte und eingekerkerte Wladyslaw Gomulka als Chef der polnischen KP an die Macht zurückgekehrt. Er appelliert an das starke Nationalgefühl, leitet eine innenpolitische Liberalisierung ein und schafft bescheidene Freiräume gegenüber dem Kreml.
Ein Jahr später ist Ehrlich Gast in Beitz’ Haus, das Wiedersehen ist herzlich. Der Generalbevollmächtigte stellt ihn auch den leitenden Männern von Krupp vor, wo Ehrlich »in einem ganz kleinen Kreis einmal eine ungeschminkte Darstellung der wirtschaftlichen Verhältnisse in Polen gibt«. Das Land holt in der Schwerindustrie zwar auf – eindrucksvollster Beleg dafür ist das titanische Stahlwerk bei Nowa Huta. Aber noch seien lebende Schweine das wichtigste Exportgut in die Bundesrepublik, »während von Deutschland Lieferungen von Industrieausrüstungen in Frage kämen«. Sprich: Die westdeutsche Wirtschaft soll bei der Modernisierung Polens helfen, eines Landes, das »sich trotz der gegenwärtigen Zugehörigkeit zum Ostblock zu Europa bekenne und besonders bei der Bundesrepublik als natürlichstem Handelspartner um größeres Verständnis für seine Belange werbe«. Ehrlichs Vorschlag lautet daher: »eine Besprechung auf höchster Ebene«, mit der Regierung in Warschau. Er selber werde dies ermöglichen.
ZU GAST BEI FREUNDEN:
CHARMEOFFENSIVE NACH OSTEN
Beitz greift die Idee bereitwillig auf. Schon 1954 hatte das Krupp-Direktorium mehr Engagement auf den Märkten des Ostens beschlossen, und Berthold Beitz stimmt die entsprechenden Schritte mit Bonn ab. Im Dezember desselben Jahres schickte er die drei Krupp-Manager Engelking, Kannt und Weigelt auf die weite Reise nach Moskau, wo sie bei 15 Grad minus fröstelnd durch den Schnee stapften, zähe Gespräche mit einem »bürokratischen und langsamen Außenhandelsapparat« führten und »den Mangel eigener russischer Sprachkenntnisse als nachteilig empfinden«. Der Besuch endete auf Krupp-Seite gleichwohl mit dem vernünftigen Vorhaben, »das russische Geschäft in Zukunft auf direktem Wege zu bearbeiten«, am besten durch einen eigenen Russland-Vertreter.
Zwei Jahre später, im September 1956, besucht Beitz erstmals selbst ein sozialistisches Land, Jugoslawien. In Belgrad regiert Marschall Josip Tito mit harter Hand, und doch lässt sich hier leichter atmen als im Machtbereich Moskaus, von dem Tito sich gelöst hat. Beitz trifft hochrangige Kader und wird später, 1995, in seinem Aufsatz über die Anfänge des Osthandels resümieren: »An eine handfeste wirtschaftliche, gar gewinnträchtige, Zusammenarbeit konnte zunächst gar nicht gedacht werden. Es war also zunächst das Wichtigste, zu den Repräsentanten in Wirtschaft und Politik auf der anderen Seite in eine menschliche Beziehung zu kommen, die ein gewisses vorvertragliches Vertrauensverhältnis zu schaffen erlaubte.«
Ohnehin von Natur aus ein Einzelgänger, misstraut Beitz regierungsnahen Gremien wie dem Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft und bleibt ihnen fern. Schon bald zeichnen sich Konflikte mit der Regierung Konrad Adenauers ab. Der Kanzler duldet keine Alleingänge von Industriellen im Osten, auch und schon gar nicht, als er 1955 nach Moskau reist, um wieder diplomatische Beziehungen mit der Sowjetunion aufzunehmen und endlich die letzten deutschen Gefangenen heimzuholen. Es ist eine Sternstunde für den alten Kanzler. Dennoch findet er in der sowjetischen Hauptstadt die Zeit, sich über die Anwesenheit einer Krupp’schen Wirtschaftsdelegation zu echauffieren; »sehr aufgebracht« schreibt er Alfried Krupp ein Telegramm und fordert ihn auf, die Herren schleunigst abzuziehen, damit »nun nicht die deutsche Industrie durch einen Ansturm auf Moskau die sehr schwierigen politischen Ergebnisse gefährdet«. Mit anderen Worten: erst die Flagge, dann der Handel.
Denn jetzt, Mitte der fünfziger Jahre, herrscht trotz des Adenauer-Besuchs in Moskau die Eiszeit des Kalten Krieges, der die bundesdeutsche Ostpolitik einfrieren lässt. 1953 schlagen sowjetische Panzer den Arbeiteraufstand in der DDR nieder, 1956 die Rebellion in Budapest. Der Kommunismus zeigt sein hässliches, tyrannisches Gesicht, während die Bundesrepublik dank Adenauers Außenpolitik immer mehr ein Teil des Westens wird, so wie die DDR ein Teil des Ostens. Doch die Bonner Regierung macht sich abhängig von einer unerfüllbaren Forderung, der Wiedervereinigung zu ihren Bedingungen. Die Wiederherstellung der Einheit und die Freiheit für die DDR sind ein berechtigter Wunsch, realistischerweise aber nur ein Wunschtraum; und aus Träumen erwächst oft schlechte Politik.
Deren Ausdruck ist die 1955 von Außenamts-Staatssekretär Walter Hallstein entworfene und nach ihm benannte Doktrin: Demnach kann es nur einen Vertreter des geteilten Deutschlands geben, nämlich die Bundesrepublik, die im Gegensatz zu dem »Regime von Pankow« demokratisch legitimiert ist, und Bonn wird keine diplomatischen Beziehungen zu Staaten unterhalten, welche die DDR anerkennen. 1957 bricht die Bundesrepublik aus diesem Grund die Beziehungen zu Jugoslawien ab. Selbstbewusst soll das wirken, souverän und als Ausdruck von Grundsatztreue gegenüber einer guten Sache. Andererseits verstreicht so die große Gelegenheit, den Wandel im Ostblock in den Jahren nach dem Tod des Tyrannen Stalin 1953 zu nutzen. In keinem Staat hinter dem Eisernen Vorhang, mit Ausnahme der Sowjetunion, unterhält Bonn vor 1970 eine Botschaft.
Vor allem Polen bleibt ein Feindbild – Polen, das auf Kosten der eigenen Ostgebiete von Stalin die deutschen Ostgebiete erhielt und deren noch verbliebene Bewohner gewaltsam aus der Heimat vertrieb. Umso mehr gilt das Land in den fünfziger und sechziger Jahren einer bundesdeutschen Regierung, die diese Gebietsverluste nicht akzeptieren will, als Inbegriff eines kommunistischen Zwangsregimes; die Deutschen sehen sich als Opfer. Der Publizist Peter Bender wird das später auf den Punkt bringen: »Die Peinlichkeit, die in alldem lag, wurde kaum empfunden. Es war Hitlers Krieg, der den Polen den Kommunismus verschafft hatte – nun bestraften die Westdeutschen die Polen dafür, daß sie den Kommunismus hatten.«
Dabei ist jenseits von Grenztürmen und Stacheldraht so vieles im Wandel: Chruschtschow erschüttert die sowjetische Nomenklatura 1956 durch seine berühmte Geheimrede, in der er die Verbrechen des Stalinismus schonungslos beim Namen nennt. In den Ländern der von den Sowjets Unterworfenen und mit ihnen Verbündeten beginnen sich Eigenständigkeiten zu regen, man spricht von »Tauwetter«, das freilich jederzeit wieder in eine Eiszeit umschlagen kann.
Es ist dies die Stunde der Außenseiter – von Männern wie dem Stahlhändler Otto Wolff von Amerongen, der schon 1954 Kontakte nach Moskau und Peking aufnimmt und vier Jahre später Vorsitzender des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft wird. Und wie Berthold Beitz, der die einzigartige Machtfülle, die ihm Alfried Krupp verliehen hat, mit Geschick und Chuzpe zu nutzen weiß. Der Inhaber selbst überlässt die Ostreisen vollständig seinem Generalbevollmächtigten und billigt, ohne sich oft dazu zu äußern, das Geschäft mit den kommunistischen Staaten.
Am 10. Februar 1958 reist Beitz erstmals seit dem Krieg wieder nach Polen. Vierzehn Jahre ist es her, dass er hier war. Verstörend nah müssen die Erinnerungen sein. Boryslaw gehört nicht mehr zu Polen, es liegt nun in der Sowjetunion, die sich den Osten des Landes nach 1945 einverleibt hat. Er wird den Ort niemals mehr aufsuchen, obwohl ihm das trotz aller Grenzen gewiss möglich gewesen wäre – kein einziges Mal.
Trotzdem ist Boryslaw allgegenwärtig. Jeder, den Beitz in Polen trifft, ist gut darüber informiert, dass dieser Gast ein anderer Deutscher ist als jene, die während der Zeit der Besatzung Mord und Vernichtung über das Land gebracht haben. »Nur dieser persönliche Hintergrund macht verständlich, warum ich bereits bei meiner ersten Reise nach Polen … von Außenminister Rapacki und Außenhandelsminister Trampczynki empfangen wurde«, schreibt Beitz im Rückblick.
Mit Adam Rapacki spricht er über Wirtschaftsfragen, aber auch über die große Politik. Der selbstbewusste KP-Funktionär hat im Jahr zuvor einen Abrüstungsplan für Mitteleuropa entwickelt, der im Westen auf einigen Widerhall gestoßen ist, zumal bei den Teilnehmern der Massendemonstrationen in Westdeutschland, die »Kampf dem Atomtod« predigen. Polen und die beiden deutschen Staaten sollten, so Rapacki, zur atomwaffenfreien Zone werden. Nichts könnte freilich weniger im Sinne Konrad Adenauers und seines Verteidigungsministers Franz Josef Strauß sein. Die Regierung betrachtet den polnischen Vorschlag als kommunistisches Täuschungsmanöver, zu dem Zweck, die Westdeutschen unter dem schützenden Schirm der Nato hervorzulocken. Strauß dagegen würde die Bundeswehr am liebsten mit Atomwaffen ausrüsten, die den Deutschen untersagt sind.
Beitz glaubt dagegen, dass Rapackis Hauptmotiv Polens Sehnsucht ist, sich nach Stalins Tod »eine gewisse Eigenständigkeit von der Sowjetunion und ihrer Rolle in der Konfrontation des Kalten Krieges zu verschaffen«. Dennoch konfrontiert er Rapacki mit der Frage, ob nicht eine atomwaffenfreie Zone in Mitteleuropa ein erdrückendes Übergewicht des hochgerüsteten Warschauer Paktesbei den herkömmlichen Waffen zur Folge hätte, bei den Panzern, Geschützen und Kampfjets. Der Pole aber hält geschickt dagegen: Sein Plan könne später doch »auch zu einer Vereinbarung über die Verminderung konventioneller Waffen führen«, und überhaupt komme es auf die Ausgestaltung an. Gewiss, in einem »atomwaffenfreien Raum haben die konventionellen Waffen selbstverständlich ein Übergewicht, je nachdem, ob man Frankreich oder die UdSSR aufnähme. Nähme man Frankreich auf, die UdSSR aber nicht – dann läge doch das Übergewicht beim Westen.«
Es wird nie etwas werden aus dem Rapacki-Plan und dem polnischen Alleingang. Dennoch ist ein bedeutsamer Anfang gemacht. Die Polen haben mit Beitz einen deutschen Gesprächspartner gewonnen, den sie für bedeutend genug halten, um ihn als Mittler zwischen den Welten zu akzeptieren. Beitz seinerseits wirbt um ihr Vertrauen, mit Charme und Humor, als einer der ersten Deutschen, die nach dem Krieg überhaupt Interesse an den Opfern von einst zeigen. Sein Protokollchef Carl Hundhausen notiert: »Viele rein persönliche Bemerkungen und Gesprächsphasen haben zu einer ganz offenen und positiven Aussprache von außerordentlichem zeitlichem Ausmaß geführt.« Und das ist wohl der wichtigste Ertrag dieser ersten Reise.
Die beste Bühne für Kontakte zum Osten sind die Industriemessen, ob in Ost oder West. Krupps großes Schaufenster ist die Hannover-Messe, genauer der eigene Pavillon dort, streng orchestriert von Beitz und seinem besten Mann für besondere Aufgaben – Kurt Schoop. Im April 1958 sitzen hier, wie beschrieben, Anastas Iwanowitsch Mikojan, der stellvertretende Ministerratsvorsitzende der Sowjetunion, Beitz und Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard im Krupp-Pavillon beieinander. Erhard pafft an seiner Zigarre und staunt nicht nur über Beitz’ Nonchalance, »Kinder statt Kanonen« als Konzernpolitik auszugeben, sondern gewiss noch mehr darüber, dass Mikojan den Krupp-Mann daraufhin nach Moskau einlädt.
Schon Ende Mai 1958 fliegt Berthold Beitz in die Sowjetunion. Moskaus Botschafter in Bonn, Andrej Smirnow, hat die Visite in enger Abstimmung mit Beitz geplant, den er im Vorfeld in Essen besucht. Eine Woche lang ist Beitz nun Ehrengast der sowjetischen Regierung, speist mit Mikojan und besichtigt große Kombinate und die Zeugnisse des erfolgreichen Wiederaufbaus.
Natürlich ist Mikojans Einladung nicht allein persönlicher Sympathie zu verdanken. Der Kreml hat erst im April 1958, also wenige Wochen vor Beitz’ Reise, mit der Bundesrepublik einen Vertrag über den Waren- und Zahlungsverkehr geschlossen, und Moskau möchte mehr: ein ordentliches Handelsabkommen, wie es zwischen souveränen Staaten üblich ist. »Es muß gar nicht verschwiegen werden«, schreibt Beitz später, »daß aus Sicht der deutschen Industrie ein großes wirtschaftliches Interesse an solchen Kontakten bestand.« Zur gleichen Zeit wie Beitz hält sich deshalb eine andere Krupp-Delegation in der Stadt auf, die über die Lieferung von Chemieausrüstungen nach Russland verhandelt. »Der sowjetische Markt«, erklärt Beitz anschließend, »bietet der westlichen Welt viele Möglichkeiten für gute Geschäfte.« In jedem Fall finden die russischen Gesprächspartner in Beitz einen verständnisvollen Zuhörer. Viel zu verständnisvoll aus Sicht von Konrad Adenauer.
»NATIONAL UNZUVERLÄSSIG«:
KONFLIKT MIT KANZLER ADENAUER
Der Kanzler hat das Treiben des Generalbevollmächtigten mit wachsendem Grimm verfolgt. Allein schon Ton und Auftreten von Beitz in Moskau haben jedermann spüren lassen, dass er nichts von der Bonner Strategie hält, »das wirtschaftliche Entgegenkommen gegenüber der Sowjetunion für politische Zugeständnisse in der Repatriierungsfrage und der Deutschlandfrage zu verwenden«. Beitz hält eine solche »politische Instrumentalisierung von Wirtschaftsbeziehungen … jedoch für verfehlt«.
Adenauer weiß, dass die Sowjetunion zwar Sputniks ins All schießen kann und einen bedrohlichen Militärapparat aufgebaut hat, dass sie aber wirtschaftlich weit von ihren Zielen entfernt ist. Hilfe verspricht sich der Kreml vom Handel mit dem Westen. Der alte Kanzler ist indessen fest entschlossen, bessere Handelsbeziehungen nur um den Preis deutschlandpolitischer Zugeständnisse zu dulden. Smarte Krupp-Industrielle, die wie Staatsgäste über den Roten Platz geführt werden, kann er dabei überhaupt nicht gebrauchen. Das Auswärtige Amt vermutet gar schon seit längerem eine »Anfälligkeit gegenüber dem Osten seitens FK [Krupp; J. K.]«. Außenminister Brentano nimmt 1956 in einem Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter in Kauf, »daß durch das Fehlen eines Handelsabkommens vielleicht manche wertvolle Beziehung für die deutsche Wirtschaft nicht entwickelt werden kann«; doch werde sich das nicht ändern, »solange nicht die zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR offenen politischen Fragen einer Lösung näher gebracht worden sind«.
Adenauer entschließt sich nun zu einem gezielten Warnschuss gegen Berthold Beitz. Dieser neige zu Alleingängen, ohne die Bundesregierung auch nur zu informieren. Jüngstes Beispiel: der Moskau-Besuch vom Mai 1958. Angesichts dieses Verhaltens, schimpft Adenauer, bestünden leider »Zweifel an der nationalen Zuverlässigkeit« des Herrn Beitz. Das ist typisch Adenauer – ein kerniger Vorwurf, vorgebracht mit einem Gestus des gerechten Zorns. Dabei hat der Kanzler den Zeitpunkt der Attacke und das Publikum sehr genau gewählt. Er spricht am 12. Juni 1958 vor der konservativen Staatsbürgerlichen Vereinigung in Bonn; dabei ist auch BDI-Präsident Fritz Berg, der die Auslassungen Adenauers erfreut verfolgt. Krupp hat nur einen Vertreter entsandt, den leitenden Angestellten Christian Külbs. Es kommt zu einem kleinen Eklat, als dieser die Veranstaltung erzürnt verlässt. Anderntags schreibt Külbs dem Kanzler: »Ihr persönlicher Angriff … gegen den Generalbevollmächtigten des Hauses Krupp … ließ mir keine andere Wahl, da eine Entgegnung in diesem Kreise nicht möglich war … Im Sachlichen voneinander abweichende Auffassungen mit persönlichen Angriffen zu verbinden, ist schlechter politischer Stil.«
Külbs zeigt Courage, und er weist Adenauer Unrichtigkeiten nach. Sehr wohl seien das Auswärtige Amt wie auch das Wirtschaftsministerium vor der Reise unterrichtet worden. Aber der Affront ist geschehen, und Beitz steht allein da – fast allein. Der BDI, der Ost-Ausschuss, das Gros der Industriellen, der mächtige Wirtschaftskreis um Adenauer – sie alle halten seine ostpolitischen Alleingänge für einen Fehler, wenn nicht gar für Schlimmeres. Alfried Krupp aber stellt sich demonstrativ hinter seinen Mann und schreibt dem Kanzler zwei Tage nach dem Vorfall einen langen persönlichen Brief: »In besonderem Maße bin ich, Herr Bundeskanzler, über den Vorwurf betroffen, daß in bezug auf die Firma Krupp, d. h. also in bezug auf meine engsten Mitarbeiter und mich Zweifel an der nationalen Zuverlässigkeit angebracht seien. Meine Herren haben sich in Moskau aller politischen Äußerungen genauso enthalten, wie ich dies auf meinen zahlreichen Auslandsreisen getan habe. Ich glaube deshalb keine Gründe finden zu können, die diesen schweren Vorwurf rechtfertigen.« Nicht ohne Ironie fügt er hinzu: »Ich darf auch darauf hinweisen, daß die Einladung zu dieser Reise meiner engsten persönlichen Mitarbeiter von dem Herrn stellvertretenden Ministerpräsidenten Mikojan anläßlich seines Besuchs auf der Messe in Hannover in Gegenwart des Herrn Vizekanzlers und Bundeswirtschaftsministers Professor Erhard ausgesprochen worden ist und daß über sie das Auswärtige Amt durch Herrn Beitz persönlich unterrichtet worden ist.«
Falls Adenauer gehofft haben sollte, den lästigen Beitz in die Schranken weisen zu können, so sieht er sich nun getäuscht. Ein öffentlicher Streit mit Deutschlands wichtigstem privatem Konzernherrn kann dem Kanzler nicht von politischem Nutzen sein, zumal seine Argumente mehr als dürftig sind. Geschickt rudert der Regierungschef daher in seinem Antwortbrief an Krupp zurück. Mit rheinischer Großzügigkeit bei der Interpretation strittiger Vorgänge bestreitet er schlicht, je etwas gesagt zu haben, »was überhaupt die Möglichkeit eines Zweifels an Ihrer nationalen Zuverlässigkeit zulassen würde. Herrn Dr. Pferdmenges, der anwesend war, habe ich gefragt, ob ich etwas derartiges gesagt hätte. Er hat das absolut verneint.« Nun hat er ja nicht an Alfried Krupps »nationaler Zuverlässigkeit« gezweifelt, sondern an der von Berthold Beitz. Aber den erwähnt er in dem Schreiben gar nicht erst. Im Übrigen beklagt er weiterhin, dass die Firma Krupp zumindest das Bundeswirtschaftsministerium nicht ausreichend über die Reise informiert habe. Es ist ein Rückzieher von sehr geringer Glaubwürdigkeit.
»ICH BIN EIN VORKÄMPFER«: MOTIVE
Der Konflikt mit dem Kanzler legt die Frage nach den Motiven nahe, die Beitz gegen so viele Widerstände die Nähe des Ostens suchen lassen. Was will er auf all den Reisen seit 1958 in Moskau, beim abendlichen Wodka auf der Messe in Posen, auf der Braunbärenjagd in den rumänischen Karpaten? Seine offizielle Antwort ist stets jene, die er 1961 dem Polen-Korrespondenten Hansjakob Stehle gibt: »Ich bin Vorkämpfer für ein Ostgeschäft, ich betreibe keine Politik. Ich stelle nur meine Kenntnisse und meine Beziehungen in den Dienst der Politik, wenn sie gebraucht und angefordert werden.«
Da ist also, natürlich, zuerst einmal das Geschäft. In den fünfziger und sechziger Jahren ist Krupp dringend auf neue Märkte angewiesen. Alfried Krupp lehnt es bekanntlich ab, wieder Waffen herzustellen. »Deswegen«, so Beitz heute, »hatte ich das große Glück, dass ich meine Kontakte in den Osten nutzen konnte. Ich habe viele Aufträge hereingeholt, und wir wurden auch gut bezahlt.«
Dennoch: Die treuherzige Aussage, er »betreibe keine Politik«, ist nur die halbe Wahrheit. Wenn einer der mächtigsten Industriellen der Bundesrepublik das Kanzleramt offen provoziert und mit den Staatenlenkern des Ostens verhandelt, ist das sehr wohl ein Politikum, wie Beitz später zugeben wird. Der tiefere Grund seiner versöhnlichen Einstellung zu Osteuropa liegt in einem verletzten Gerechtigkeitsgefühl. Beitz hat den Horror deutscher Besatzung in Polen über Jahre aus nächster Nähe erlebt. »Meine politische Einstellung entspringt meiner Erfahrung im Krieg«, wird er Jahrzehnte später sagen, »deshalb wollte ich nach 1945 einen Neuanfang in Osteuropa.«
Er gehört keineswegs zu den zahlreichen Träumern dieser Jahre, gleich ob von links oder von rechts, welche die Integration der Bundesrepublik in den Westen, Adenauers Lebenswerk, in Frage stellen. Allerdings lehnt er die übliche Verteufelung des Ostens ab, die in der Adenauer-Ära mit der Westbindung einhergeht und vielleicht sogar deren Kitt ist. Und es ist gewiss nicht so, dass ausgerechnet der starke Mann von Krupp Sympathien für den Kommunismus und seine Schattenseiten hegte. Beitz ist freilich Realist genug, um die Dinge sehr früh so pragmatisch einzuschätzen, wie es die neuen Ostpolitiker ein Jahrzehnt später tun werden, allen voran Willy Brandt, der sagt: »Wir werden nichts preisgeben, was nicht schon verspielt worden ist, und zwar von einem verbrecherischen Regime, dem Nationalsozialismus.«
Die Ost- und zumal die Polen-Politik der Bundesrepublik unter Adenauer scheint aus Beitz’ Sicht diese harten Realitäten auszublenden und daher überwiegend nutzlos, weltanschaulich verblendet, ja verlogen zu sein. Beitz glaubt, dass der Bundeskanzler, der doch so viel für die Aussöhnung mit Israel und den Juden getan hat, die moralischen Verpflichtungen Polen gegenüber ignoriert.
»Adenauer war zögernd. Er wollte nicht den großen Schwung«, sagt er 1977 zu Golo Mann. »Ich habe ihm gesagt, Herr Bundeskanzler, die Polen sind sehr stolz. Was passiert ist, sitzt bei ihnen tief drin. Das ist doch erst zehn, fünfzehn Jahre her, habe ich gesagt. Das können Sie nicht so wegwischen.« Adenauer sei ihm wie der Inbegriff einer sehr vergesslichen Nachkriegsgesellschaft vorgekommen. »Das waren die Rolling Fifties, die Industrie lief wieder auf vollen Touren, die EWG kam, Adenauer und die Versöhnung mit Frankreich. Da haben wir gedacht: Ach, die Polen … arm, verlaust, verdreckt, alles Kommunisten. Und gar nicht wissend, daß die Polen katholisch sind und darauf warteten, daß man ihnen die Hand gab.«
Daher unterstützt er einen alten Bekannten, den Bundestagsabgeordneten und Hamburger CDU-Vorsitzenden Erik Blumenfeld, als dieser sich 1965 in seiner Partei unbeliebt macht. Der Auschwitz-Überlebende Blumenfeld, in seiner Partei einer der wenigen Befürworter eines Kurswechsels im Osten, rügt die Union dafür, dass deutschlandpolitisch keine Fortschritte zu erreichen seien, solange die Bundesrepublik als Voraussetzung die Rückgabe der Ostgebiete von Polen fordere. In einem Brief an Beitz vom November fasst er seine öffentliche Kritik zusammen: »Wer die Wiedervereinigung von Bedingungen abhängig macht, die sich vielleicht nicht verwirklichen lassen, der verzichtet praktisch auf die Wiederherstellung der Einheit, Freiheit und Selbstbestimmung für alle Deutschen.« Blumenfeld muss eine Flut von Schmähungen seiner Parteifreunde über sich ergehen lassen. Beitz dagegen stärkt ihm den Rücken: »Ich bin mit Deiner Stellungnahme völlig einverstanden.«
Vor allem aber hat Beitz im Osten eine Mission gefunden. Wenn Völker wie die Polen vergebens auf eine ausgestreckte Hand der Versöhnung warteten, dann wollte er diese Hand reichen – mit den Mitteln des Handels und des Geschäfts. Denn jemanden, mit dem man verhandelt, nimmt man als Gesprächspartner ernst.
DIE POLNISCHE MISSION (1958–1962)
Das Land, das Beitz am meisten am Herzen liegt, ist Polen, wo er die Nachtseite der menschlichen Seele gesehen hat. Schon im Juni 1958, also ganz kurz nach dem umstrittenen ersten Moskau-Besuch, tritt er auf der Posener Industriemesse auf. Von Vertretern der Bundesregierung ist nichts zu sehen. In Posen baut er seine Ostkontakte erstmals in DDR-Regierungskreise aus, denn dort trifft er Heinrich Rau, den stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates.
Erneut kommt es ihm vor, als besuche er alte Freunde. Fast so etwas wie freundschaftliche Nähe verbindet ihn mit dem polnischen Ministerpräsidenten Józef Cyrankiewicz (1911–1989), einem kräftigen, jovialen Mann mit Halbglatze, der um vieles gelöster wirkt als etwa die verkrampft auftretenden SED-Kader um Walter Ulbricht. Der Pole hat Auschwitz und Buchenwald überlebt – und Beitz ist Ende der fünfziger Jahre der einzige Deutsche, den er kennt, bei dem er für diese Leidensgeschichte echtes Verständnis erwarten darf. Das Ganze ist eine jener intuitiv entstandenen Männerfreundschaften von Beitz, die sich nicht scheren um all das, was die Herren tatsächlich trennt, nämlich buchstäblichdie beiden Welten des Kalten Krieges. »Das waren denkwürdige Begegnungen«, sagt Beitz heute, »mit dem Cyrankiewiczkonnte ich sehr gut. Wir haben oft miteinander verhandelt, abends gemeinsam gegessen, ganz ohne Protokoll und Formalitäten. Das wäre heute gar nicht mehr denkbar.« Daher weiß er auch: »Józef Cyrankiewicz hatte zwei wirkliche Leidenschaften: schnelle Autos und schöne Frauen – nun, das ist ja beides nicht verwerflich.«
Die Kontakte zur polnischen Regierung bekommen schon bald eminente politische Bedeutung, als Konrad Adenauer am 1. September 1959, zum 20. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen, eine Radioansprache hält, in der er zwar »Achtung und Sympathie« dem polnischen Volk gegenüber bekundet, dessen Regierung aber gar nicht erst erwähnt. Was versöhnlich klingen soll, empfindet man in Warschau als Affront. Von einem deutschen Zugeständnis in der Grenzfrage war ebenfalls nichts zu hören.
Noch am Tag der Adenauer-Rede scheucht Beitz seinen Kommunikationsdirektor Hundhausen telefonisch in dessen Sommerfrische in Bad Gastein auf. Man müsse jetzt sondieren, »ob die Polen nach diesen Äußerungen überhaupt noch mit uns reden«. Hundhausen wird aktiv und trifft eine Woche später in Wien den polnischen Botschafter Kuryluk, der ihn seinerseits fragt: »Wie können Herr Beitz und die Firma Krupp helfen, die Dinge voranzutreiben?« Nicht viel, für den Moment. Zwar fliegt Hundhausen in Beitz’ Auftrag nach Warschau, wo ihm dessen alter Freund Peter Ehrlich immerhin einen Termin bei Handelsminister Witold Trampczynki verschafft. Der aber hat die Adenauer-Rede so interpretiert, dass der Kanzler gute Beziehungen zu Polen erst herstellen wolle, »wenn das gegenwärtige Regime verschwunden sei«. Weitere Kontakte über Beitz »seien zwecklos, denn es geht in dieser Situation um offizielle Kontakte«. Und eben die wollen die Polen, sie verlangen von der Bundesregierung die Anerkennung als gleichwertige Gesprächspartner. Diplomatische Beziehungen lehnt die Bundesrepublik nämlich nach wie vor ab.
Zurück in Essen, berichtet Hundhausen Beitz von diesen wenig ermutigenden Auskünften. In den folgenden Tagen sucht der Generalbevollmächtigte den Kanzler dann persönlich auf und rät ihm, auf die Polen zuzugehen. Adenauer aber, so erzählt Beitz anschließend Hundhausen, habe ihm erklärt: »Er werde 500 000 Wählerstimmen verlieren, wenn er jetzt Polen gegenüber einen solchen Schritt tun würde.«
Es war nicht das letzte Wort. 1960 stattet Cyrankiewicz dem Krupp-Stand in Posen einen Besuch ab. »Wann kommen Sie mal zu uns?«, fragt der Ministerpräsident Beitz. Der antwortet: »Aber ich bin doch hier!« – »Nein, außerhalb der Messe, dann haben wir Zeit, miteinander zu sprechen.« – »Dann müssten Sie mich einmal einladen.«
Das Signal ist eindeutig: Beitz könnte der Mann sein, dem die Polen mehr mitzuteilen haben als Geschäftstalk über die Exportaussichten der Firma Krupp. Vorsichtshalber setzt Beitz den Bundeskanzler dieses Mal davon in Kenntnis, dass er reisen wird; er fragt sogar schriftlich an, ob Adenauer Einwände habe. Die Antwort des Kanzlers: »Ich habe keine Bedenken gegen Ihre Reise, wäre Ihnen jedoch dankbar, wenn Sie mir über die Eindrücke, die Sie in Polen gewonnen haben, eventuell berichten wollten. Mit vorzüglichster Hochachtung, Adenauer.«
Am 6. Dezember 1960 fliegen Else und Berthold Beitz mit einer Privatmaschine nach Warschau. Der Pilot des himmelblauen Krupp-Flugzeugs nimmt, um jede Brüskierung der DDR zu vermeiden, nicht den Weg über ostdeutsches Territorium, sondern über die Ostsee. Am Flughafen in Warschau warten bereits SIS-Staatskarossen und der Privatsekretär des Ministerpräsidenten, einen rosa Nelkenstrauß in der Hand. Ohne jede Pass- und Zollkontrolle geht es hinein in die geheime Welt der polnischen Nomenklatura. »Einen solchen Empfang«, schreibt Hansjakob Stehle in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, »bereitete man noch keinem westdeutschen Besucher nach dem Kriege.« Eine Woche bleibt das Paar, ein eigener Salonzug steht ihnen zur Verfügung. Im Regierungsschloss Natolin empfängt sie Premier Cyrankiewicz, es gibt ein Dinner mit Kapaun und jugoslawischem Riesling, weiße Rehe stehen im verschneiten Park. Und drinnen begrüßt der Ministerpräsident in exklusiver Runde »einen Mann, der seit zwanzig Jahren ein Freund Polens ist«.
Die Gespräche mit der polnischen Regierungsspitze sind von bemerkenswerter Offenheit. Cyrankiewicz beklagt die »Krokodilstränen« Adenauers über das Leid der Polen während des Krieges – gemeint ist jene Rundfunkrede von 1959 –, die »weitere Verwendung alter Pgs [NSDAP-Parteigenossen; J. K.] in Beamten-, Richter- und Regierungsstellen« der Bonner Republik und den Einfluss der Vertriebenenverbände auf die CDU/CSU. Beitz, vermerkt Hundhausen, »widerspricht nachdrücklich den Vorwürfen des Revanchismus«, er verweist auf die NS-Prozesse in Westdeutschland, deren Ernsthaftigkeit der Pole sogar anerkennt. Das Gros der Westdeutschen »will gute Beziehungen zu Polen«.
Karikatur aus der Neuen Ruhr Zeitung vom 12. Januar 1961.
Beitz’ Bericht an Adenauer, den er persönlich am 20. Dezember 1960 über die Gespräche informiert, fällt zuversichtlich aus. Und tatsächlich notiert der Kanzler: »Der Ministerpräsident Cyrankiewicz habe die Frage der Herstellung von Beziehungen zwischen Polen und der Bundesrepublik angeschnitten. Er habe dabei gesagt, daß man ja zunächst konsularische Verbindungen herstellen könne. Auf den Einwand von Beitz, daß Polen bisher den Austausch von Botschaftern verlangt habe, habe der Ministerpräsident erwidert, das habe Rapacki getan, nicht er, man könne auch die Frage der Oder-Neiße-Grenze bei den Verhandlungen ausklammern. Es müsse einmal ein Strich unter die Vergangenheit gemacht werden.« Für Beitz sind das »Töne, wie wir sie noch niemals aus Warschau vernommen hatten. Die Friedenshand war ausgestreckt, man brauchte nur zuzugreifen.«
Beitz selbst schreibt im Rückblick: »Für mich war dieses Gespräch [mit Adenauer; J. K.] eine Genugtuung, weil es bewies, daß wir auf dem richtigen Weg waren und daß Adenauer seine Vorbehalte von 1958 zurückgenommen hatte.« Er ist, nach der Rückkehr aus Polen, nun doch mittendrin in der Politik. Und er gibt Konrad Adenauer zu verstehen, dass die Polen diesmal erst recht eine Antwort erwarten. Immerhin sind sie von ihren Maximalforderungen abgerückt, die bis dato lauteten: keine Verbesserung der Beziehungen ohne Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und Austausch von Botschaftern. Cyrankiewicz’ Botschaft bewegt sich vielmehr auf der Linie der kleinen Schritte, wie sie Beitz für realistisch hält: Eröffnung von Konsulaten, eines deutschen Kulturhauses in Warschau, intensiverer Handel, Blick nach vorn. Adenauer wiederum beauftragt Beitz, »die Möglichkeit der Errichtung fester Handelsbeziehungen unterhalb der Generalkonsulatsbeziehungen zu erkunden«. Es ist der »richtige Weg«, wie Berthold Beitz glaubt. Doch leider führt er in ein diplomatisches Desaster.
Es beginnt damit, dass Adenauer der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag ausführlich die Reise von Beitz schildert und erklärt, er halte es für wünschenswert, dass »es zu einer Verbesserung der Beziehungen zu Polen komme«. Die Abgeordneten reagieren kühl. Ausgerechnet des Kanzlers Pressechef Felix von Eckardt teilt den Journalisten im Anschluss mit, der Kanzler habe »nur allgemein gesprochen«. Und Außenminister von Brentano lässt seinen Staatssekretär, den späteren Bundespräsidenten Karl Carstens, der in Warschau wegen seiner früheren NSDAP-Mitgliedschaft wenig Ansehen genießt, vor dem Auswärtigen Ausschuss erklären, die Bundesregierung denke nicht daran, konkrete Schritte zur Herstellung besserer Beziehungen zu Polen zu unternehmen. Schließlich scheint Adenauer selbst die Beitz-Mission eher als innenpolitischen Versuchsballon zu nutzen. Jedenfalls orakelt er, »zunächst müssen wir wissen, was wir wollen, und dann, was die Polen wollen«. Theo Sommer schreibt in der Zeit, die Bundesregierung mache »böse Miene zum guten Spiel«.
Wenn schon die Bundesregierung nicht beweglich ist, der kommunistische Parteiapparat ist es erst recht nicht, und im Kalten Krieg erfrieren Frühlingsblüten schnell unter neuem Frost. Beitz, der schon am 23. Januar 1961 erneut nach Warschau fliegt, bekommt das zu spüren. Diesmal gibt es keinen Riesling im Gartenschlösschen, sondern nur eine Arbeitssitzung in einem nüchternen Konferenzzimmer des polnischen Ministerrates. Beitz’ Vertrauter Hundhausen, abermals dabei, registriert beinahe erschrocken, »daß sich die ganze Gesprächssituation sehr stark verschlechtert hat. Schlechter als jemals.« Inzwischen ist keine Rede mehr von Konsulaten als erstem Schritt zur Annäherung. Cyrankiewicz, von dem die Idee doch stammte, sagt nun: »Konsulate können als Ersatz für diplomatische Beziehungen ausgelegt werden … und wir wollen keinen Ersatz.«
Frustriert fliegt Beitz zurück nach Bonn, nur um dort zu erfahren, was Kanzlersprecher von Eckardt diesmal vor der Bonner Bundespressekonferenz von sich gegeben hat. Ob der Industrielle im Auftrag des Kanzlers reise, wollten die Journalisten wissen. Von Eckardt: »Nein, Herr Beitz hat keinen Auftrag.« Adenauer distanziert sich einmal mehr von seinem unglücklichen Sprecher und lässt ein Schreiben an die Presse schicken, das er in Beitz’ Anwesenheit verfasst hat: »Herr Berthold Beitz hat mit Billigung des Bundeskanzlers und des Auswärtigen Amtes zwei Reisen nach Warschau unternommen. Nach Rückkehr hat er dem Bundeskanzler berichtet. Es ist vorgesehen, daß nunmehr weitere Besprechungen zwischen amtlichen Stellen stattfinden.« Im Bundeskabinett sagt er wiederum, der Essener sei »mit seiner Zustimmung, aber nicht im amtlichen Auftrage« gereist.
Beitz hat die Situation freilich ganz anders in Erinnerung. Wie er heute berichtet, sei er schon im Vorfeld der zweiten Warschau-Reise, also jener vom Januar 1961, vom nordrhein-westfälischen CDU-Innenminister Josef Hermann Dufhues gewarnt worden: »Vorsicht, Herr Beitz! Der Alte bescheißt Sie!« Daraufhin habe er Adenauer um eine schriftliche Bestätigung gebeten, dass er in seinem Auftrag nach Polen reise. »Och, das ist nicht nötig«, habe der Kanzler in jovialem Rheinisch erwidert, aber auf Beitz’ Drängen dennoch ein entsprechendes Schreiben aufgesetzt. Als sich Beitz nach seiner Rückkehr bei Adenauer über das Dementi des Pressechefs beklagte, habe der Kanzler »erst einmal laviert«. Da, so Beitz, »habe ich ihm sein eigenes Schreiben unter die Nase gehalten und gesagt: Ich habe schon eine Interviewanfrage vom Fernsehen. Und wenn ich gefragt werde, ob ich in Ihrem Auftrag da war, dann sage ich nichts, sondern halte einfach Ihren Brief vor die Kamera. – Das hat gewirkt.«
Beitz ist noch eine andere Episode in Erinnerung. Nach seinem Besuch bei Adenauer Ende 1960 verlässt er das Kanzleramt über den Hinterausgang. »Wir sind über die Hintertreppe hinausgegangen, damit uns die Journalisten nicht bemerken. Da kommt mir der Globke entgegen und sagt: ›Ach, Herr Beitz, jetzt fahren Sie ja in unserem Auftrag nach Warschau, sagen Sie doch den Polen, wie sehr auch ich für eine Verbesserung der Beziehungen bin.‹ Der war ja ein alter Nazi und wollte die Gelegenheit nutzen, auch im Osten zu punkten.« Kanzleramtsminister Hans Globke ist als juristischer Kommentator der Nürnberger Rassegesetze von 1935 die peinlichste und umstrittenste Besetzung im Kabinett Adenauer, aber der Alte hält eisern an ihm fest.
Der Besuch in Warschau löst ein erhebliches Presseecho aus; Beitz erhält auch viele böse Briefe, zum Beispiel den eines Vertriebenen aus Breslau, der ihm vorwirft, »den roten Osten in seiner Kriegsindustrie indirekt [zu] unterstützen«.
Beitz erfährt aber durchaus auch Zustimmung. So schreibt ihm der Bundestagsabgeordnete Ferdinand Friedensburg, ein kluger alter Nazigegner und Mitbegründer der CDU: »Lassen Sie es sich nicht verdrießen, wenn die Kritik auch gerade an Ihrer persönlichen Initiative geübt wird. Die Befriedung unseres Erdteils und die Wiederherstellung unseres geteilten Landes wird ja nicht mit einer genialen Sensation zu erreichen sein, sondern durch ein mühsames und sorgfältiges Aneinanderführen einzelner Mosaiksteinchen. Sie haben von diesen Steinchen ein besonders wichtiges legen dürfen.«
Beitz wird weiter solche Steinchen legen, wenngleich nicht mehr in politischem Auftrag. Davon hat er seit der gescheiterten Warschau-Mission genug. Im folgenden Frühjahr, 1962, trifft er im »Essener Hof« den Zeit-Reporter Reinhart Holl. Beitz, so stellt der Journalist fest, »ist natürlich ein Mann ohne Zeit. Also fand unser Gespräch bei Lady Curzon, Seezunge, Fruchtsalat, Mokka statt«, ein schnelles Arbeitsessen zwischen zwei Terminen. Ohne die Hauptspeise anzurühren, soll der Generalbevollmächtigte in eine Suada des Zorns ausgebrochen sein. »Die Bonner Haltung gegenüber Polen ist eine Kette von verpassten Chancen«, schimpft er. »Ich fahre für Bonn nicht wieder nach Polen. Ich denke nicht daran, Türen zu öffnen, die dann achtlos und dumm wieder zugeworfen werden.«
Freilich hat Beitz mit der polnischen Mission auch eigene Interessen verfolgt. Am 13. Februar 1961 schreibt er an Alfried Krupp: »Der Polenrummel hat sich inzwischen gelegt. Ich war ein zweites Mal im Auftrage von Adenauer in Warschau und habe dann offiziell meine Demission als ›Sonderbotschafter‹ eingereicht. Herr Adenauer hat sich bei mir bedankt und hat auch dem Kabinett zum Ausdruck gebracht, daß er mit meiner Arbeit sehr zufrieden gewesen wäre. Ich habe die berechtigte Hoffnung, daß die ganze Aktion unseren ›Aufhebungsbemühungen‹ sehr förderlich gewesen ist.«
Das wirft ein interessantes Licht auf die Sache. Beitz hat also jenseits aller hehren Motive auch einen Vorteil für Krupp aus der Warschau-Mission ziehen wollen, nämlich ein Entgegenkommen Bonns beim Ringen um eine Aufhebung der alliierten Verkaufsauflage. Auch für Adenauer hat die an sich gescheiterte Visite Vorteile gebracht, demonstrierte er damit doch dem Favoriten für die US-Präsidentschaftswahl im November 1960, John F. Kennedy, guten Willen in der Ostpolitik und vor allem gegenüber Polen. In den USA haben die Polen von jeher gute Freunde, viele Amerikaner haben polnische Wurzeln, und im Wahlkampf hat Kennedy diese Gruppe sehr umworben. Nach 1945 ist ein großes Unbehagen darüber zurückgeblieben, dass man das Land, zu dessen Rettung England und Frankreich 1939 in den Krieg eingetreten sind, am Ende in stalinistischer Unterdrückung zurückgelassen hat. Bald nach Beitz’ Rückkehr aus Warschau trifft Außenminister Heinrich von Brentano am 17. Februar 1961 in den USA den inzwischen gewählten Kennedy, und der fragt rundheraus, »ob die Initiative zu den Gesprächen von Beitz vom Kanzler oder vom Minister ausgegangen sei oder von diesem selbst«, wie es in einem von dem polnischen Autor Krzysztof Ruchniewicz überlieferten Bericht über die Begegnung heißt. »Der Minister erwiderte, daß es die Initiative von Beitz selbst gewesen sei, daß er sich aber vor seiner Reise mit dem Kanzler konsultiert habe. Der Präsident fragte dann, ob weitere solche Gespräche geplant seien, weil die USA lebhaft an einer Verbesserung der polnisch-deutschen Beziehungen interessiert seien.«
Brentano bejaht zwar, ist aber durchaus besorgt um die deutsche Position, welche von Polen die Wiederherstellung der Grenzen von 1937 fordert. In den USA ist das Interesse an den nationalen Träumen der Deutschen gering, selbst wenn Chruschtschow in seinen Reden herausfordernd sagt, man müsse »endlich fixieren, was im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges geschehen« sei, nämlich die deutsche Teilung und Polens Westgrenze. Aus Sicht von Peter Bender empfahl er damit, »einen Zustand rechtlich zu bestätigen, über den zwischen den Siegermächten längst unausgesprochen Einigkeit herrschte«.
Kennedy wird Beitz übrigens im Juni 1963 bei seinem Deutschlandbesuch noch kennenlernen und hinterher sagen: »Endlich mal ein unverkrampfter Deutscher.« Beitz lacht, wenn er daran zurückdenkt: »Na ja, ich war ganz locker, ich hatte keinen Grund, verkrampft zu sein.« Sie vereinbaren ein weiteres Treffen. Wenige Wochen vor dem tödlichen Attentat auf Kennedy in Dallas 1963 kommt Beitz zu einem halbstündigen Gespräch ins Weiße Haus, wo sie »Wirtschaftsfragen« erörtern und wohl auch die Verkaufsauflage und die ökonomischen Beziehungen des Westens zu Polen. Da ist Adenauer schon abgetreten, und Beitz sieht Hoffnung, die diplomatische Selbstlähmung der Bonner Regierung Warschau gegenüber zu lockern, zumal der US-Präsident am Schicksal Polens engen Anteil nimmt.
In eigener Sache kehrt Berthold Beitz bereits im Juni 1961 nach Polen zurück – auf die Posener Messe, wie stets. In Berlin zeichnet sich derweil die nächste Krise zwischen Ost und West ab – die SED-Führungsclique um Ulbricht plant heimlich den Bau der Mauer. Aus Posen berichtet der Veteran der deutschen Polen-Korrespondenten, Hansjakob Stehle, ausführlich von einem Treffen zwischen Beitz, Cyrankiewicz und dem mächtigsten Mann im Land, Parteichef Gomulka: »Berthold Beitz, mit verschränkten Armen auf dem Krupp-Stand harrend, blickte den Polen mit zuversichtlichem Lächeln entgegen. Dann die alljährliche Szene: Den linken Daumen lässig in der Westentasche, trat Beitz erst dann genau zwei Schritte vorwärts, als Cyrankiewicz schon seinen Fuß auf den Krupp-Stand setzte und die Hand ausstreckte. Eine unnachahmliche Kombination von Würde und Pose, nichts von Beflissenheit. Im allgemeinen Gedränge lotste Beitz fast unbemerkt die Polen durch eine Glastür seines Standes. Es gelang uns gerade noch durch diese Tür zu kommen, ehe sie sich schloß, von handfesten jungen Leuten mit den drei Krupp-Ringen am Rockaufschlag bewacht. Doch schon verschwand Beitz mit seinen Gästen hinter einer zweiten Tür. Eine Leuchtschrift flammte auf: ›Nicht eintreten‹.«
Nicht nur die Presse bleibt draußen. Ein Spiegel-Reporter bemerkt einen kleinen, älteren Herrn, der nervös vor der verschlossenen Tür auf und ab geht, aber nicht eingelassen wird. Schließlich resigniert er und trinkt mit den Bodyguards Gomulkas Fruchtsaft am Krupp-Stand. Es ist Edgar Schulz-Finke, Ministerialrat aus dem Bonner Wirtschaftsministerium, den die bundesdeutsche Regierung nach Posen entsandt beziehungsweise zu Beitz ins Flugzeug gesetzt hat. Der unglückliche Beamte ist nicht offiziell avisiert worden, da die Hallstein-Doktrin Kontakte auf Regierungsebene mit Ostblockländern untersagt. Beim abendlichen Essen fragt Beitz die Gastgeber, wo denn der Ministerialrat abgeblieben sei. »Wir haben nichts mit ihm zu tun«, lautet die Antwort.
Im Gespräch mit den polnischen Regierungsspitzen unterbreitet Beitz einen interessanten Vorschlag. Die Polen wollen westdeutsche Industriegüter einführen; diese, so Beitz, könnten doch über Westberliner Niederlassungen geliefert werden, im Gegenzug könnten die Polen die westliche Exklave mit Überschüssen aus ihrer großen Landwirtschaft versorgen, ein Geben und Nehmen über das Gebiet der DDR hinweg. Beitz sieht in dem Szenario eine »doppelte Sicherung« gegen eine erneute Blockade Berlins. Und wäre der Plan Wirklichkeit geworden, vielleicht, so spekuliert Beitz, »hätte der 13. August ganz anders ausgesehen«.
Die Zeit ist nicht reif für seinen Vorschlag. Die Posener Messe ist noch nicht vorüber, als Adenauer sogar die Planungen für einen Handelsvertrag mit Polen platzen lässt. An die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Warschau ist ohnehin bis auf weiteres nicht zu denken. Es gibt zwar einen gewissen Handel auf Firmenebene, und ein Vertrag würde den Geschäften amtliche Weihen geben und viele bürokratische Hindernisse aus dem Weg räumen. Voraussetzung dafür wäre allerdings, dass man überhaupt offiziell mit den Polen spricht. Ebendas scheint dem Kanzler kurz vor den Bundestagswahlen im September 1961 mit Blick auf die konservative Wählerschaft zu riskant. Entsprechend bitter fällt der Abschied aus. KP-Chef Gomulka bittet Beitz, »den Genossen Adenauer« zu grüßen: »Wir haben nichts wieder aus Bonn gehört, Herr Beitz. Wir haben es nicht nötig zu warten. Wir haben genug Freunde in der Welt.«
Der Bau der Mauer am 13. August 1961 ist naturgemäß ein schwerer Rückschlag für alle Versöhnungsversuche gegenüber dem Osten. Beitz: »Unter diesen Bedingungen schienen die deutschen Ostkontakte kaum fortsetzbar zu sein, und wir waren damals durchaus unsicher, ob diese ersten Reisen nicht nur Episode bleiben würden.« Er lässt Hundhausen die Teilnahme aller Krupp-Firmen an der Leipziger Frühjahrsmesse 1962 absagen: »Die Leute drüben können sich doch nicht so aufführen. Jetzt ist die Grenze erreicht, über die wir nicht gehen können.« Doch jenseits der DDR knüpft er seine Fäden unverdrossen weiter.
KRUPPS MANN IM KREML:
DER BESUCH BEI CHRUSCHTSCHOW
Dabei setzt Beitz auf einen neuen Mann in Bonn, den hochbegabten, einzelgängerischen CDU-Außenminister Gerhard Schröder (1910–1989), der nach der Bundestagswahl im Herbst 1961 dem Hardliner Brentano folgt. Schröder wird bis zur Großen Koalition 1966 im Amt sein und unternimmt, von 1963 an durchaus mit Unterstützung von Adenauers Nachfolger Ludwig Erhard, erste kleine Schritte und Versuche der Annäherung Richtung Osten. Schröder gilt als »Atlantiker«, also als Fürsprecher einer engen Anlehnung an die USA, was aber auch bedeutet, dass er Kennedys Haltung teilt, besonders Polen entgegenzukommen. Die USA haben in der Berlin-Krise 1958 und beim Mauerbau 1961 eines klar demonstriert: Sie werden den Westen Deutschlands und Berlins im Notfall zwar beschützen, aber wegen Ostberlin und der DDR keine bewaffnete Auseinandersetzung mit Moskau riskieren. Schröder und mit Abstrichen auch Erhard erkennen das und versuchen eine »Politik der Beweglichkeit«.
Unverhofft kommt es zu einer Begegnung, die den Wirtschaftsdiplomaten Beitz zum Verdruss seiner Gegner enorm aufwerten wird, und zwar während seiner zweiten Moskau-Reise im Mai 1963. Er will, begleitet von Krupp-Direktor Hans Moll und dem Osteuropa-Beauftragten Joachim Wrede, zwei aus Essen gelieferte Kunstfaserfabriken in Tula und Kursk besichtigen und mit Mikojan über Folgeaufträge verhandeln. Da erhält er jäh eine Einladung in den Kreml – Chruschtschow möchte ihn kennenlernen.
Das ist auch für Beitz überraschend. Er kennt Chruschtschow nicht persönlich und war nicht dabei, als der Herr des Kreml 1959 am Krupp-Stand der Leipziger Frühjahrsmesse auftauchte und einen Toast auf die Firma Krupp und die guten Beziehungen mit ihr aussprach. Damals musste Beitz dem Druck des Auswärtigen Amtes nachgeben: Keinesfalls dürfe er dort den sowjetischen Staatschef treffen, da »dies unsere politische Linie störe«. Beitz fügte sich, da er keinen weiteren Großkonflikt mit dem Kanzler provozieren wollte. Das alles geschah zu einer Zeit, da der selbstbewusste Chruschtschow das kommunistische Lager durch immer neue Kraftproben mit dem Westen stärken wollte, wie durch die Berlinkrisen von 1958 und 1961; 1962 führt der Versuch des Kreml, Atomraketen auf der Revolutionsinsel Kuba zu stationieren, die Großmächte an den Rand eines bewaffneten Konflikts.
In der Kubakrise siegte am Ende das Durchhaltevermögen Kennedys, in Europa aber hat der barbarische Berliner Mauerbau das sozialistische Lager konsolidiert. Die DDR ist nun eine, wenn auch eingezäunte, Realität, es gibt keine Flüchtlingsströme mehr, die deutsche Frage ist im wahrsten Sinne des Wortes einzementiert. Der Ost-West-Konflikt beginnt sich zu entschärfen. Kennedy bringt das in einer Grundsatzrede vor der American University, zwei Wochen vor seinem berühmten Besuch in Berlin Ende Juni 1963, auf den Punkt: »Wenn wir unsere Differenzen jetzt nicht überwinden können, können wir doch dazu beitragen, daß die Welt reif wird, die Unterschiedlichkeit auszuhalten!« Das Tauwetter hat eingesetzt.
Das ist der politische Hintergrund jenes Tages in Moskau, an dem eine Tschaika-Staatskarosse vor dem Hotel »Sowjetskaja« vorfährt. Der Wagen bringt Beitz zum Kreml, der alten Zarenfestung, an deren Haupttor die Wachposten grüßen und das Fahrzeug durchwinken. Niemand will Papiere sehen, niemand hält sie auf. Am Tor des gelben Palais steigt Beitz aus und wird von einem Offizier in Empfang genommen. Um drei Uhr nachmittags steht er in Chruschtschows Arbeitszimmer.
Mehr als zwei Stunden sitzen sie sich nun an einem Tisch gegenüber, es gibt keine Unterbrechungen und keine Getränke. Nur der Dolmetscher ist dabei. Chruschtschow, im hellen Anzug mit weißer Krawatte, beginnt mit einer jovialen Frage: »Was haben Sie uns Gutes aus Bonn mitgebracht, Herr Beitz?« Der Deutsche hat vor seiner Reise ausführlich mit Außenminister Schröder gesprochen, der ihm als Botschaft mitgab, dass er »Entwicklungen im Handel mit den osteuropäischen Ländern begrüßen würde«. Beitz fügt hinzu: »Krupp und ich vertreten diesen Kurs schon lange.« Und, mit bemerkenswerter Offenheit: »Adenauer tritt ab, und mit dem neuen Kanzler wird sich höchstwahrscheinlich auch die Möglichkeit eröffnen, eine neue Etappe in unserem Verhältnis zu beginnen.«
Der Sowjetherrscher legt seinem Gast nun ausführlich dar, dass die Bonner Ostpolitik aus seiner Sicht an Realitätsverlust leide: »Die Existenz zweier deutscher Staaten wurde zum vollendeten Faktum … Adenauer hoffte, daß die BRD, sobald sie sich in der Position des mächtigeren deutschen Staates befindet, die Sowjetunion zum Abzug und zum Verzicht auf die Schutzbefugnis über die DDR zwingen kann.« Beitz schränkt ein: »Adenauer hat genügend Verstand, um zu wissen, daß er dieses Ziel nicht allein durch das Einsetzen von Macht erreichen wird.« Manchmal, kontert Chruschtschow, »tun auch kluge Leute Dummheiten … Deshalb spreche ich über den völligen Mißerfolg einer Politik, die erklärtermaßen das Ziel verfolgt, die DDR aus der sozialistischen Gemeinschaft herauszureißen, sie als Staat zu liquidieren und eine kapitalistische Gemeinschaft zu bilden, die sich auf Macht und die Verbündeten stützt.«
Sie sprechen eine Weile über die inneren Probleme der DDR. Chruschtschow behauptet sogar, vor der Mauer habe »der Westen die Möglichkeit« gehabt, »Menschen in die DDR zu schleusen, um ihre Wirtschaft zu stören« – ein reines Propagandaargument angesichts der moralischen Bankrotterklärung eines Regimes, das seine Staatsbürger einsperren muss.
»Jetzt aber«, so Chruschtschows Reaktion, »ist dieser Prozeß gestoppt, und die DDR gewinnt an Stabilität … Pläne, die das Problem der Wiedervereinigung durch den Zusammenbruch der DDR zu entscheiden hofften, können jetzt zu Grabe getragen werden.« Das ist der entscheidende Punkt – die Botschaft an eine neue Generation in Bonn, an Erhard, Schröder und all jene, welche die Zeit nach dem greisen Adenauer gestalten werden. »Denn Adenauer«, so Chruschtschows Suada weiter, habe »weder die Möglichkeit noch die Zeit«, seine Politik »mit Abstand zu betrachten«. Und Beitz ergänzt: »… noch die Courage«. Es ist ein bemerkenswert offenes Gespräch.
Auf die Erfahrungen des Krisenjahres 1961 anspielend, sagt Chruschtschow, dass auch die westlichen Verbündeten Bonns, also die USA, England und Frankreich, »keine Wiedervereinigung wollen«, in Paris habe ihm Präsident Charles de Gaulle selbst gesagt: »›Laßt uns die Verhältnisse in Deutschland nicht anrühren. Möge die DDR im sozialistischen Lager bleiben, und die BRD – bei uns.‹ … Er fürchtet Deutschland.«
Dann wieder fragt er den Gast in einer Mischung aus Zorn und Drohung, wozu die Westdeutschen aufrüsteten und die Bundeswehr ihre zwölf Divisionen aufstelle. »Wenn der Dritte Weltkrieg ausbricht und es nukleare Waffen gibt, welche Bedeutung wird dann noch die Zahl der vorhandenen Divisionen in der BRD haben? Es genügen doch zehn Atombomben, um ganz Deutschland aus den Angeln zu heben. Und wenn es 100-Megatonnen-Bomben sind, dann genügt eine. Seien Sie nicht beunruhigt, wir werfen keine solche Bombe auf Deutschland, weil es in diesem Fall schwer wäre, die Sicherheit unserer Truppen zu gewährleisten. Diese Bomben müssen in weitem Abstand geworfen werden. Aber die 50-Megatonnen-Bombe wird für Deutschland vollkommen ausreichend sein.«
Beitz weist höflich darauf hin, dass »die Explosion einer solch großen Bombe eine Bedrohung der Bevölkerung der DDR, der Tschechoslowakei, Polens und anderer benachbarter Länder darstellen würde, die an sich selbst die Folgen radioaktiver Strahlung erleben würden.« Begütigend erwidert der Regierungschef: »Darum habe ich auch gesagt, daß wir keine 100-Megatonnen-Bombe abwerfen.« Er wolle bloß »die Unsinnigkeit der Politik zeigen, die die BRD gegenüber der DDR verfolgt«. Die USA und die Nato hielten Bonn von einer Verbesserung der Beziehungen zu Moskau ab, doch wer habe den Schaden? Die Bundesrepublik.
Als jüngstes Beispiel führt er das Röhrenembargo an. 1962 haben die westlichen Staaten unter Führung der USA beschlossen, den Export von Großröhren für den Bau von Öl- und Gaspipelines in den Ostblock zu untersagen. Der Warschauer Pakt dürfe seine Energie- und Treibstoffversorgung, die schließlich auch militärisch von großer Bedeutung sei, nicht mit westlicher High-Tech modernisieren. Eine Reihe von großen Ruhrkonzernen wie Mannesmann und Hoesch wird dadurch hart getroffen; Krupp stellt solche Röhren nicht her. Chruschtschow: »Sie sagten diese Lieferung ab, wir werden ihnen [den Deutschen; J. K.] keine Aufträge mehr geben. So kann es auch mit anderen Waren passieren. Das Ergebnis ist, daß der Bereich der Zusammenarbeit sich verkleinern wird.« Der Staats- und Parteichef beendet seine langen Ausführungen mit den Worten: »Durch Stärke werdet ihr uns nicht von unseren Positionen vertreiben. Wir sind kein Kind, dem man die Hose herunterziehen und es verhauen kann. Das Kind ist groß geworden und hat Kraft gesammelt. Es kann selbst einen derartigen Fußtritt geben, daß Ihr nicht mehr auf den Beinen stehen könnt.« Immerhin: »Wir wollen den Zweiten Weltkrieg zu Grabe tragen und unsere Beziehungen von Neuem beginnen.« Dafür aber müsse die Bundesrepublik »eine rechtskräftige Anerkennung« der Kriegsergebnisse leisten, eben der DDR und der polnischen Westgrenze.
Beitz kontert, indem er den Ball aufgreift und den Russen mit einem Vorschlag verblüfft. Wenn denn Frieden und Zusammenarbeit das Ziel der sowjetischen Politik seien, dann, so Beitz, »habe ich nicht verstanden, warum Sie nicht versuchen, den Weg der wenigen freundschaftlichen Gesten einzuschlagen, die Sie nichts kosten und die den Boden bereiten für die Verwirklichung von all dem, worüber Sie sprechen.« Er als Privatmann verstehe nicht, »warum meine Verwandten nicht aus der DDR hinauskönnen, um mich zu besuchen«, warum die DDR nicht großzügiger gegenüber den deutschen Familien sei, die durch die Grenze getrennt sind, warum Westdeutsche ihre Verwandten drüben nicht besuchen dürften. Außerdem lebten noch fast 9000 Deutsche in der UdSSR. »Warum schickt man sie nicht in ihr Vaterland? Das würde großen Eindruck machen, weit mehr als fünf außenpolitische Reden … Ich kenne die Deutschen, ich kenne ihre Gefühle, ihre Besonderheiten, angefangen von meinem Chauffeur bis hin zum Generaldirektor.« Sie alle, so Beitz, würden sagen: »Schaut, die Sowjetunion zeigt Bereitschaft, mit ihr kann man Verhandlungen führen.«
Es folgt eine lebhafte Debatte, in der Chruschtschow, von dieser Wendung des Themas überrascht, schlicht bestreitet, dass die erwähnten Deutschen in der Sowjetunion existierten. Das ist natürlich wenig glaubwürdig, da es in der UdSSR viele Deutsche gibt, etwa solche aus dem nördlichen Ostpreußen – das nun zur Sowjetunion gehört –, die nach 1945 aus unterschiedlichen Gründen nicht vertrieben wurden, oder Deutsche, die 1945 verhaftet und in die UdSSR verschleppt wurden. Das Schicksal der Hunderttausenden Russlanddeutschen, also der von Stalin häufig in die östlichen Landesteile deportierten Nachfahren früherer Einwanderer aus Deutschland, ist nicht Thema dieses Gesprächs. Beitz bleibt unbeirrt: »Warum wollen Sie, Herr Vorsitzender, ein Mensch mit solchen großzügigen Ansichten … Ihr Einverständnis zur Ausreise von Deutschen, die in der Sowjetunion leben, nicht geben?« Der Staatschef lehnt eine humanitäre Geste schließlich rundheraus ab: Er halte eine »Verbesserung des politischen Klimas« für nötig, aber »nicht auf dieser Grundlage«. Beitz bestätigt schließlich, dass auch er eine neue Offenheit gegenüber dem Osten fordert: »Bei manchen Menschen bei uns reichen zuweilen Vernunft und Mut nicht aus.«
Trotz der wenig diplomatischen Art des Kremlchefs versteht Beitz dessen Botschaft: Nach Adenauer könnte ein Zeitalter der Entspannung anbrechen, wenn die Bundesrepublik auf obsolete Forderungen an Moskau verzichtet. Umgekehrt wolle die UdSSR keine Gefahr für Westdeutschland sein, sondern suche Kooperation, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet. Daher wird Beitz das Gespräch später manches Mal auf den Nenner bringen, Chruschtschow habe sinngemäß gesagt: Wir haben die Rohstoffe, ihr habt die Technik, und zusammen sind wir unschlagbar. Chruschtschow weiß um die ökonomische Rückständigkeit seines Imperiums und will sie mit Hilfe westlicher Firmen verringern. Dass er all dies dem Industriellen Berthold Beitz mitteilt, ist 1963 eine Sensation. Darüber hinaus ist die Versöhnungsgeste so kurz nach dem Bau der Mauer und der Kubakrise bemerkenswert genug.
Die sowjetische Staatspresse berichtet ausführlich über die Beitz-Reise. Vor Reportern sagt der Deutsche, er sei sicher, dass die Russen ihre Großröhren künftig selbst herstellen würden und dass der westliche Boykott wenig bringe. Dann kehrt er – im Gepäck ein signiertes Foto des Treffens mit Chruschtschow und ein geschenktes russisches Jagdgewehr – zurück nach Deutschland, direkt hinein in die Bonner Gerüchteküche. Worüber hat er mit Chruschtschow gesprochen? Ist er der geheime Mittler einer Einladung des Kreml an Wirtschaftsminister Erhard, unter Umgehung Adenauers? Schon am Flughafen umzingeln ihn die Fotografen, doch Beitz versucht, die Aufregung zu dämpfen: »Zur angeblichen Reise des Bundeswirtschaftsministers Erhard in die Sowjetunion kann ich nur sagen, daß die Journalisten gewiß zu viel Phantasie haben. An diesem Gerücht ist nichts dran.« Tatsächlich war beim Zweiergespräch im Kreml keine Rede davon gewesen. Fünf Tage später, am 27. Mai 1963, berichtet Beitz, der weitere öffentliche Erklärungen vermieden hat, Erhard ausführlich davon, was der Kremlchef vom designierten Nachfolger Adenauers erwartet. Die Spekulationen schießen erneut wild ins Kraut.
Unmittelbare politische Folgen hat das Gespräch von Beitz im Kreml nicht. Gleichwohl symbolisiert es den Übergang zu sanfteren Tönen gegenüber der Bundesrepublik nach der gewaltsamen Konsolidierung der DDR 1961. Auch für die Firma Krupp entstehen keine Vorteile daraus, wie Beitz 1964 enttäuscht einräumt. Krupps Geschäft mit der Sowjetunion bleibt schwankend. Beitz hegt den Verdacht, politisch als Vorzeigedeutscher aus dem »Friedenslager« missbraucht zu werden. Zeitweise will er sogar das Krupp-Büro in Moskau schließen, verwirft den Plan jedoch wieder. Aber schon 1965 kommt er mit weiteren deutschen Spitzenmanagern zur Chemiemesse in den Moskauer Sokolniki-Park, unter ihnen Wolff von Amerongen, Hoesch-Boss Willy Ochel und Peter von Siemens.
Zu denen, die Beitz den spektakulären Kremlbesuch nicht verzeihen, gehört sein Freund Axel Springer, dessen zahlreiche Blätter, allen voran die Bild-Zeitung, publizistisches Sperrfeuer gegen den Ostblock schießen. Freilich hat Axel Springer selbst einmal davon geträumt, der Mittler zwischen den verfeindeten Welten zu sein. Vom »Bewusstsein der eigenen Sendung erfüllt«, so sein Biograph Hans-Peter Schwarz, fuhr der Medien-Tycoon 1958 nach Moskau, um dem sowjetischen Staatschef einen »Wiedervereinigungsplan in fünf Phasen« zu unterbreiten, der die Neutralität Deutschlands und den Abzug aller fremden Streitkräfte vorsah. Doch Chruschtschow ließ Springer auf demütigende Weise spüren, dass sein Interesse an dessen politischen Visionen mehr als begrenzt war. Der Deutsche wartete geschlagene 17 Tage im Moskauer Hotel »National« auf die Audienz, die sich dann zum Desaster auswuchs. Der Kremlherr wollte nichts von dem Plan wissen und hielt lieber einen seiner gefürchteten Monologe. Kanzleramtsminister Globke schrieb daraufhin schadenfroh an Adenauer, Springer sei wie ein »begossener Pudel« heimgekehrt. Seitdem also führt der Verleger in seinen Blättern einen Rachefeldzug, der ins Ideologische umschlägt, und für seine Reaktion gegenüber Beitz dürfte Neid nicht das unwichtigste Motiv sein. Nach dem Fiasko in Moskau sei Springer »ja plötzlich ganz auf Anti-Ost-Kurs gegangen«, sagt Beitz heute. Der alte Freund jedenfalls wünscht Beitz zu dessen 50. Geburtstag 1963, »daß Du nicht Schaden nehmen möchtest am Osthandel, dessen Ausmaß und Form ich Dir verüble«. Später versöhnen sich die beiden wieder.
In der Politik erkennt Beitz immerhin leise Zeichen eines Wandels. Außenminister Schröder verfasst ein Memorandum zugunsten des Osthandels, ganz im Sinne von Beitz’ Strategie, das Verhältnis zu Osteuropa auf dem einzigen Weg zu entspannen, der ohne diplomatische Beziehungen gangbar ist. Zu diesem Zeitpunkt sind bereits viele Vertreter der Industrie von Adenauers Politik gegenüber dem Osten enttäuscht. Beitz selbst macht im Juni 1963, nur wenige Wochen nach dem Kremlbesuch, erneut Schlagzeilen. Auf der Posener Messe gibt er der ARD ein Fernsehinterview, in dem er eine »grundsätzliche Änderung der deutschen Osthandelspolitik« fordert und die Bundesregierung bezichtigt, auf die Schritte der Industrie in Osteuropa »ohne Enthusiasmus« zu reagieren. Dabei sei es diese doch, welche der Politik dort den Weg bahne.
Im Juli 1963 lädt Adenauer daraufhin die Spitzen der deutschen Industrie, darunter Beitz, zu »eingehenden Überlegungen über die Gestaltung unserer Osthandelspolitik« ins Bundeskanzleramt. Die Regierung wird durch den Kanzler selbst sowie die Minister Erhard (Wirtschaft), Schröder (Außen) und Dahlgrün (Finanzen) vertreten, die Wirtschaft unter anderem durch den BDI-Chef Berg, den Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Hermann Josef Abs, sowie all die Pioniere des Osthandels: Beitz, Wolff von Amerongen und außerdem Ernst Wolf Mommsen von Phoenix Rheinrohr, alle drei vehemente Gegner des Röhrenembargos. Es wird eine kontroverse Aussprache, bei der Adenauer weiterhin auf Zurückhaltung setzt, während Schröder, unterstützt von den Wirtschaftsvertretern, für engere Handelsbeziehungen votiert. Von einem Durchbruch kann so keine Rede sein.
Schröder setzt nach Adenauers widerwilligem Rücktritt im Oktober 1963 gegenüber Osteuropa die Politik der kleinen Schritte und damit endlich die Gründung von wechselseitigen Handelsmissionen mit Polen, Rumänien, Ungarn und Bulgarien durch. Er steht bald auf freundschaftlichem Fuß mit Beitz, der dem Minister an warmen Kampener Sommerabenden auf der Terrasse seines Ferienhäuschens eines seiner berühmten Steaks grillt.
Im November 1964, als Konrad Adenauer – zwar schon ein Jahr im Ruhestand, aber immer noch einflussreich – Schröder wegen zu großer Nachgiebigkeit gegenüber Moskau scharf rüffelt, spricht Beitz dem zur Kur weilenden Außenminister durch einen für seine Verhältnisse geradezu epischen Brief von einer Textseite Länge Mut zu:
Die Art und Weise, in der Dr. Adenauer die Regierung und besonders Sie angreift, veranlaßt mich, Ihnen zu sagen, daß die Sympathien für Sie dadurch sehr gestiegen sind. Dieser alte Mann sollte endlich begreifen, daß er abtreten muß und daß es äußerst unfair ist, als ehemaliger Regierungs-Chef der jetzigen Regierung Knüppel zwischen die Beine zu werfen … Ich hoffe nur, daß Sie sich in Ihrer Politik durch solche Dinge nicht stören lassen werden. Sollten Sie aber den ganzen Kram satt haben und die ›Brocken hinschmeißen‹, was ich im Interesse der deutschen Politik für äußerst nachteilig hielte, stehe ich Ihnen jederzeit für ein Gespräch zur Verfügung.
Der Brief trägt, so scheint es, mehr zum Wohlbefinden des Außenministers bei als die warmen Bäder im Sanatorium; jedenfalls schreibt Schröder zurück: »Die Politik ist das härteste Gewerbe der Welt, die teuerste Leidenschaft, die es gibt. Deshalb darf man sich weder wundern noch beklagen. Es ist aber sehr gut und tröstlich zu wissen, daß es am Ende doch Freunde gibt, die auch in der Bedrängnis verläßlich bleiben.«
Zum Ausgleich für das wechselhafte Russland-Geschäft ist Krupp und damit Beitz in praktisch allen Staaten des Ostblocks aktiv. Selbst die Betonkommunisten in Bulgarien laden ihn zur Jagd ein und bekunden das Interesse an Krupp’schen Walzwerken zum Aufbau ihrer Industrie. Für die Satellitenstaaten Moskaus ist jeder Westkontakt auch ein kleines Stück Eigenständigkeit gegenüber dem Kreml. Es sind jedenfalls Otto Wolff von Amerongen und vor allem Beitz, die Außenminister Schröder beim Aufbau der osteuropäischen Handelsmissionen »Geburtshilfe« leisten, im Falle Ungarns sogar als Postbote für ein streng vertrauliches Petitum der Budapester Regierung nach Bonn. Was 1961 noch scheiterte, der Aufbau erster bilateraler Institutionen, wird nun doch Wirklichkeit. Und wie wichtig solche Schritte sind, zeigt sich gleich nach Chruschtschows Absetzung im Oktober 1964: KP-Chef Leonid Breschnew und Ministerpräsident Kossygin verhindern ein ähnliches Abkommen der Westdeutschen mit Prag. Der Zugriff Moskaus auf die Satellitenstaaten wird wieder fester.
Gewissermaßen stellvertretend für Botschaften sind die auch mit konsularischen Rechten ausgestatteten vier Handelsmissionen jedoch sehr bald Orte eines regen diplomatischen Austauschs zwischen Ost und West. Typisch für Beitz’ Ostkontakte ist sein Verhältnis zu Leonard Lachowski, einem kleinen, breitschultrigen Polen, dessen herzliche Ausstrahlung den Politprofi leicht übersehen lässt. Lachowski kommt 1959, erst dreißig Jahre alt, als eine Art inoffizieller Handelsrat nach Frankfurt. Als Halbwüchsiger war er am verzweifelten Aufstand der polnischen Nationalarmee in Warschau 1944 beteiligt gewesen. Nach dessen brutaler Niederschlagung durch Wehrmacht und SS erschießt die Gestapo viele seiner Freunde, er selbst wird als Zwangsarbeiter deportiert und schuftet bis an den Rand des körperlichen Zusammenbruchs – bis er zu einer verwitweten deutschen Bäuerin gebracht wird. Deren Mann ist 1942 in Stalingrad gefallen; sie hat drei Töchter, und auf dem Hof arbeiten auch französische Gefangene. »Ich wurde fast wie ein Mitglied der Familie behandelt«, erzählt Lachowski im Rückblick. »Ich aß, was sie aßen, und die Frau hat sich um mich gekümmert wie eine Mutter, als ich krank war.« So überlebt er den Krieg mit einem Menschenbild, das dem von Berthold Beitz durchaus verwandt ist. »Auf den einzelnen Menschen kommt es an«, meint Lachowski. »Einige Deutsche wollten mich umbringen, und andere waren sehr gut zu mir.«
Als Else und Berthold Beitz 1959 zur Posener Messe fahren, möchten sie auch einen Abstecher nach Krakau machen. Der Führer, den ihnen Cyrankiewicz stellt, ist Lachowski. Es entsteht ein herzliches Verhältnis, das noch enger wird, als der Pole von 1963 an auch als offizieller Leiter der Handelsvertretung seines Staates in der Bundesrepublik fungiert. Sie jagen Wildschweine in der Eifel und trinken Wein in der Jagdhütte. Beitz führt Lachowski beim Diplomaten Helmut Allardt ein, seit 1961 Leiter der Wirtschaftsabteilung im Auswärtigen Amt und später, 1969, Botschafter in Moskau. Gemeinsam organisieren sie den Aufbau der bilateralen Handelsmissionen. »Wir haben immer lange über das Verhältnis von Polen und Deutschen gesprochen«, so Lachowski heute. »Ich sprach darüber, dass wir kein Glück mit unseren Politikern haben, und Herr Beitz darüber, dass die deutschen Politiker ihr Verhältnis zu meinem Land verbessern müssen.«
Lachowski ist schließlich 1963 auch der wichtigste Mittelsmann bei einem Projekt, das Beitz’ nächster Coup werden soll: ein deutsch-polnisches Joint Venture, in dem Zeit-Chefin Marion Gräfin Dönhoff ein »kühnes Modell wirtschaftlicher Verflechtung« sieht, den Vorreiter »eines sehr viel vollständigeren Europa« als der Europäischen Gemeinschaft im Westen. Gedacht ist an eine Fabrik in Polen, die Getriebe und andere Mechanik herstellt. Es wäre die erste Produktionsgemeinschaft zwischen Partnern, die völlig verschiedenen ideologischen und wirtschaftlichen Blöcken angehören. Aus innenpolitischen Rücksichten stellt Beitz lediglich die Bedingung, dass die Fabrik nicht in den ehemaligen deutschen Ostgebieten errichtet werden solle. Um den Plan der amerikanischen Regierung vorzustellen, reist er Ende 1965 sogar eigens zu Vizepräsident Hubert Humphrey und zu Senator Robert Kennedy, dem Bruder des 1963 ermordeten Präsidenten. Als der Journalist Werner Höfer Beitz fragt, ob der Plan »noch Wirtschaft ist oder schon Politik«, antwortet der: »Die Wirtschaft ist ein Bestandteil der Politik. Man kann beides nicht trennen.«
Aber die Politik ist noch nicht so weit, auf beiden Seiten nicht. Das Projekt scheitert bald an zahllosen Hürden, etwa an der Frage der Eigentumsverhältnisse, des Zolls, der Bezahlung und so fort. Es tritt ein, was Beitz befürchtet hat: »Der Teufel steckt im Detail.« Und auch die Tatsache, dass Erhard den alten Kanzler Adenauer im Oktober 1963 abgelöst hat, befreit die deutsche Ostpolitik noch immer nicht von ihren Fesseln.
Immerhin gibt es nun die vier erwähnten Handelsmissionen in Polen, Rumänien, Bulgarien und Ungarn. Diese haben jedoch einen Geburtsfehler, wie Hansjakob Stehle schreibt: »Nach den Vorstellungen der Bundesregierung dürfen sie nicht sein, was sie doch ersetzen sollen: echte diplomatische Vertretungen.« Nach wie vor ist, um im Bilde zu bleiben, der Handel der Flagge weit voraus. Dabei ist und bleibt der Umgang mit den Partnern jenseits des Eisernen Vorhangs keineswegs einfach. Im Rückblick schreibt Beitz: »So konnte ich in meinen Gesprächen nicht oft genug darauf hinweisen, daß ich als Interessenvertreter von Fried. Krupp und keineswegs als Regierungsbeauftragter unterwegs war. Diese Unterscheidung nachzuvollziehen, fiel meinen Gesprächspartnern als Funktionären von Staatshandelsländern naturgemäß schwer.«
Dennoch werden Auftritte im Osten nun auch für andere Industrielle selbstverständlicher – ein Verdienst von Beitz, da ist sich Lachowski sicher: »Er hat immer gewusst, wie er auch andere wichtige Deutsche nach Warschau bringt.« So fliegt Beitz 1965 mit seinem Freund Max Grundig und dem VW-Vorstandsvorsitzenden Heinrich Nordhoff zur Posener Messe, wo die polnische Regierungsspitze schon auf sie wartet. Grundig will in Polen Tonbandgeräte bauen lassen, als Modellfall für die geplanten Joint Ventures. Doch auch daraus wird nichts. Immerhin, so Lachowski: »Herr Grundig hat mir einen Fernseher geschenkt. Aber ich hatte schon einen.«
Im selben Jahr verabschieden die deutschen katholischen Bischöfe, unter ihnen der Beitz gut bekannte Ruhrbischof Hengsbach, ihre Ostdenkschrift, in der sie neue Schritte zur Versöhnung mit Polen fordern, die das Beharren auf unerfüllbaren Rechtspositionen überwinden sollen. 1966 kommt es in Bonn zur Großen Koalition, der Sozialdemokrat Willy Brandt wird Außenminister und bereitet jene von Berthold Beitz erhoffte Politik der Entspannung vor. Vieles von dem, was Beitz denkt und wünscht, wird erst lange später Gemeingut werden: die Einsicht in die deutsche Schuld gegenüber Polen, der Wille zur Versöhnung, das Ende der Arroganz gegenüber den verachteten Völkern des Ostens, gegenüber den »Polacken, die unser Land geraubt haben«, wie es in einem Hassbrief an Beitz heißt. Für vieles von dem, was er erreichen will, ist es zu früh, ist er seiner Zeit zu weit voraus. Gleichwohl ist er, wie er später sagen wird, »bis an die Grenzen des Möglichen gegangen«. Dadurch wurde er für die Osteuropäer das Gesicht eines anderen Deutschland. »Bei der Vorbereitung der Entspannung«, sagt Lachowski heute, »hat er eine entscheidende Rolle gespielt. Unsere Regierung hat viel erfahren, wie die Deutschen denken, und gespürt, dass es auch Deutsche gibt, die Versöhnung wollen.« Beitz selbst fasst das Ganze später so zusammen: »Wir waren damals zugleich wirtschaftliche Akteure und politische Pioniere. Ich möchte daher für alle, die diese Pionierarbeit geleistet haben, feststellen, dass erst die mehr oder weniger funktionierenden Wirtschaftsbeziehungen die politische Verständigung und die Entwicklung einer deutschen ›Ostpolitik‹ ermöglicht haben.«
»ICH BITTE SIE …«: HUMANITÄRE AKTIONEN
Die Ostkontakte von Berthold Beitz zwischen 1956 und 1969, die Karsten Rudolph treffend als »Wirtschaftsdiplomatie« bezeichnet, haben noch eine Seite, von der fast niemand erfährt und die bis heute kaum bekannt ist: Dem Krupp’schen Generalbevollmächtigten gelingt es dank seiner Kontakte immer wieder, Menschen aus dem Ostblock herauszuholen, die verzweifelt ausreisen wollen: Frauen, die von ihren Männern getrennt sind, Väter, deren Familien auf der falschen Seite des Eisernen Vorhangs leben, sogar Westdeutsche, die in die Mühlen der kommunistischen Justiz geraten sind. Seit seine Warschau-Reise 1961 durch Presse, Funk und Fernsehen gegangen ist, schreiben ihm Verzweifelte; meist handelt es sich um Deutsche aus den ehemaligen Ostgebieten, die jetzt zu Polen gehören. Es sind so viele Briefe, dass Beitz sie gar nicht alle persönlich beantworten kann, fast täglich kommen neue. Er arbeitet in diesen Angelegenheiten mit dem Hamburger Rechtsanwalt Kurt Behling zusammen, der viele Fälle betreut. Es ist sehr schwer, den Betroffenen zu helfen. In dieser Spätphase des Kalten Krieges, in den Jahren nach dem Bau der Berliner Mauer von 1961, sind die Bürger die Leidtragenden: Je mehr die Staaten sich anfeinden, desto weniger sind humanitäre Erleichterungen möglich.
Kaum aber macht Beitz als Handelsreisender zwischen den Blöcken Schlagzeilen, richten sich viele Hoffnungen auf ihn. So schreibt ihm der Frankfurter Oberkirchenrat Johannes Bartelt, ob Beitz nicht dazu beitragen könne, einigen Angehörigen der kaschubischen Minderheit in Polen zu Aussiedlungsgenehmigungen zu verhelfen. Aber Beitz’ Büro muss antworten: »Es tut Herrn Beitz außerordentlich leid, Ihnen auf Ihre Bitte keinen positiven Bescheid geben zu können. Bei allem Verständnis für den von Ihnen geäußerten Wunsch bittet Herr Beitz Sie doch, zu verstehen, daß er angesichts der privaten Natur seiner Reise keine Möglichkeitsieht, sich in die Behandlung der Umsiedlungsfrage einzuschalten, die allein in der Zuständigkeit polnischer Regierungsstellen liegt.«
Das sind keine Ausflüchte. In großem Stil kann Beitz schon allein deshalb nicht helfen, weil die polnische Regierung damit zugeben würde, dass sie zahlreiche deutschstämmige Bürger widerrechtlich an der Ausreise hindert. Mehr noch, Warschau bestreitet offiziell, dass das Problem überhaupt existiert, und so ist es in allen Staaten des Ostblocks. Beitz muss daher bei seinen Reisen sehr diskret und sensibel vorgehen, wenn er in Einzelfällen etwas erreichen will. Und tatsächlich: Auf diese Weise gelingt ihm das immer wieder.
Sein Kontaktmann nach Polen ist auch in diesen Fragen Handelsrat Lachowski, der sich lebhaft erinnert: »Da hat er sich an niemanden anders gewandt, immer an mich, und gesagt: ›Lachowski, wir müssen was tun.‹« Er berichtet davon, wie sie manchmal an einer Westberliner Brücke standen, direkt an der Sektorengrenze, und jemand von drüben herüberkam – in den Westen, in die Freiheit, freigekommen durch Beitz. Lachowski will »ganze Listen mit Namen« gehabt haben: »Manche Leute darauf haben ihn um Hilfe gebeten, andere auch mich direkt. Wir haben versucht zu helfen.«
Da ist etwa 1963/64 der Fall von Günther und Reinhold Bartum aus Oppeln, nun Opole. Beitz hat Lachowski um seine »freundliche Unterstützung bei der Rückführung der Familie des Herrn Reinhold Bartum« gebeten, eines »menschlich sehr tragischen Falls«. Günther Bartum, der in Duisburg lebt, hat in den Wirren des Zusammenbruchs bei Oppeln, in den nunmehr polnischen Ostgebieten, den Kontakt zu seiner Frau und seinem Sohn Reinhold verloren; sie bleiben verschollen. Nach fünf Jahren, 1950, lässt er seine Frau für tot erklären. Zehn Jahre später, längst hat er eine neue Familie gegründet, erfährt er auf Umwegen eine dramatische Neuigkeit: Reinhold lebt. Jahrelang versucht er, bei der Oppelner Woiwodschaft die Ausreise des Sohns und dessen Familie zu erreichen, um dann im November 1963 resigniert an Dobbert zu schreiben: »Schließlich wurde unsere ganze Hoffnung zunichte gemacht, denn die Ausreise wurde ohne Begründung abgelehnt.«
Mangels offizieller Kanäle wenden sich auch Politiker an Beitz; in der Causa Bartum ist es der nordrhein-westfälische Landtags-Vizepräsident Alfred Dobbert: »Ich sehe in Ihnen denjenigen, der, wenn nicht helfen, so doch einen guten Rat geben kann.« Beitz möge prüfen, ob er »persönlich eine Verbindung zu Gomulka herstellen« könne. Beitz bringt den Fall, »der eine besonders menschliche Anteilnahme verrät«, bei Gomulka in Warschau zur Sprache, offenkundig mit Erfolg: Reinhold Bartum und seine Familie dürfen 1966 in den Westen ausreisen.
Ein weiteres Beispiel. 1966 schreibt Iris H. aus Nordhorn an Beitz: »Hoffentlich erreicht Sie dieser Brief. Sie sind vielleicht der einzige, der helfen kann.« Ihr Verlobter, Ingenieur auf einem deutschen Erzfrachter, ist im Dezember 1965 auf einem Landgang in Gdansk/Danzig festgenommen worden und wegen angeblicher polenfeindlicher Äußerungen und »Verherrlichung faschistischer Verbrechen« in einer Hafenkneipe zu vier Jahren Haft verurteilt worden. Der Seemann hat einen guten Leumund, es erscheint sehr unwahrscheinlich, dass er in polnischen Wirtschaften betrunken »Schweine Polen« brüllt. Offenkundig sind diese Vorwürfe frei erfunden. Beitz lässt der Verlobten durch sein Büro ausrichten, er werde sich für den Mann einsetzen: »Dies kann allerdings nur durch ein persönliches Gespräch und aus Anlaß eines Besuches von Herrn Beitz geschehen.« Kurz vor Weihnachten 1966 kommt der Ingenieur tatsächlich frei, und Iris H. dankt Beitz »herzlichst für Ihre Bemühungen«. Als einmal zwei Westdeutsche in Polen unter Spionageverdacht festgenommen werden, halten Beitz’ Rechtsberater eine Fürsprache allerdings für aussichtslos. Solche Fälle sind politisch zu brisant.
Mit den Polen ist es schwer genug, für Beitz aber noch am einfachsten: Hier hat er die besten Verbindungen – wegen seiner Vergangenheit, wegen seiner Freundschaft zu Cyrankiewicz und dank des hilfsbereiten Leonard Lachowski in Frankfurt. Weitaus problematischer sind humanitäre Verhandlungen mit der UdSSR, da, wie ihm das Auswärtige Amt wiederholt schreibt, »die Sowjets in Rückführungsfragen leider sehr wenig guten Willen zeigen«. Freilich trägt auch hier Beitz’ beherzter Vorstoß bei Chruschtschow Früchte, bei dem er den Kremlchef zu einer Geste »des guten Willens« aufgefordert hat. Chruschtschow hat, wie geschildert, das Ansinnen des Kapitalisten, gleich Tausende von Ausreisewilligen gen Westen ziehen zu lassen, zwar rundheraus abgelehnt, ist aber dafür im Einzelfall bemerkenswert zugänglich. Beitz hat während der Russlandreise 1963 dem Ministerpräsidenten Kossygin Kopien von fünf abgelehnten Ausreiseanträgen mitgebracht. Wenige Wochen später schreibt Chruschtschow persönlich an den sowjetischen Botschafter in Bonn: »Entsprechend der Bitte von B. Beitz über die Ausreise von 5 Personen der deutschen Nationalitätausder Sowjetunion in die Bundesrepublik … sind die zuständigen sowjetischen Stellen zu einem positiven Entschluß gekommen.« Fünf Menschen dürfen somit auf direkte Intervention des russischen Staatschefs hin in den Westen zu ihren Angehörigen. Ihre Namen werden zusätzlich auf die »Liste der 40« gesetzt, welche die Russen nach Beitz’ Besuch im Kreml zugestanden haben, nämlich vierzig Härtefälle, für die es Ausreisegenehmigungen gibt.
Auf der Liste steht unter anderem Ida G. Weihnachten 1945 ist sie als 23-Jährige von der Roten Armee in Berlin festgenommen und nach Sibirien gebracht worden. Als ihr Mann aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrt, ist die junge Frau fort; der anderthalbjährige Sohn ist in Berlin zurückgeblieben und wächst nun beim Vater auf. Peter G. macht den Aufenthaltsort seiner Frau ausfindig und versucht fast zwanzig Jahre lang, sie freizubekommen. Vergeblich. Schließlich schreibt er Beitz, der ihm antwortet: »Ich versuche, Ihnen zu helfen. Viel Hoffnung geben kann ich Ihnen nicht.« Doch tatsächlich lassen die Russen die Frau gehen. Am 21. Juli 1964 empfängt Peter G. seine Frau im Durchgangslager Friedland, wie er Beitz in einem Dankesbrief mitteilt: »Die Freude der Familie, daß nun nach fast 20jähriger Trennung alle wieder vereint sind, können Sie sich vorstellen. Sie kam gleich ins Krankenhaus. Anschließend kam sie zu einem Erholungsaufenthalt nach Grafenhausen im Schwarzwald. Ich durfte sie dorthin begleiten, da ihr seelischer Zustand es erforderte.« Beitz’ Erfolg ist so ungewöhnlich, dass ihm der zuständige Ministerialdirigent im Auswärtigen Amt 1963 schreibt: »Bei dieser Gelegenheit möchte ich meiner Freude darüber Ausdruck geben, daß Sie als erster repräsentativer Besucher aus der Bundesrepublik das Problem der Repatriierung gegenüber den Sowjets angeschnitten und dabei einen beachtlichen Erfolg erzielt haben.«
Am schwersten sind vergleichbare Hilfsversuche in der DDR. Hier stößt auch Beitz an Grenzen, denn das SED-Regime macht in den Jahren unmittelbar nach dem Bau der Mauer kaum Ausnahmen von der Regel, die eigene Bevölkerung einzusperren. Entsprechend wenig kann Beitz ausrichten. Nicht einmal im Fall eines alten Greifswalder Klassenkameraden ist Hilfe möglich.
Die Briefe von Betroffenen rühren noch heute an; häufig sind sie krakelig und fehlerhaft, manchmal in Schönschrift verfasst – allesamt Zeugnisse menschlicher Tragödien wie jener von Werner B. aus Nürnberg, der alte Fotos seiner noch sehr kleinen Kinder beilegt. Beim Bau der Mauer am 13. August 1961 befand sich B., damals DDR-Bürger, zu Besuch in Westdeutschland; über Nacht war er von seiner Familie getrennt. Sechs Jahre hat er versucht, sie herauszubekommen, die Kinder wachsen ohne Vater auf. Aber Beitz kann nicht helfen, obwohl er es – unter anderem sogar über den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt – versucht.
Im Vergleich zur DDR sind die Hardliner in Rumänien geradezu entgegenkommend, die Beitz über ihren Bonner Handelsvertreter Nicolae Vaduvescu um humanitäre Gesten bittet. So gelingt es ihm in einem direkten Gespräch mit Staatspräsident Maurer, die 32-jährige Gräfin Elisabeth T. freizubekommen, deren Familie im Westen ihn um Hilfe gebeten hat. Das alles geschieht im Stillen, nur selten berichtet die Presse darüber, etwa über das Wiedersehen eines Ehepaars aus Warendorf: »Ihr Glück begann zum zweitenmal.« Der Name Beitz fällt nicht. Er legt Wert auf Diskretion, allerdings nicht immer mit Erfolg. Das Ehepaar F. aus Ungarn, das er freibekommt, wendet sich statt eines Dankes an die Boulevardzeitungen und bietet seine Geschichte feil. Rechtsanwalt Behling versucht, die Freigelassenen per Eiltelegramm zu bremsen: »Beglückwünsche Sie herzlich zur Heimkehr. Bitte Sie jedoch dringend im Interesse gleichgelagerter Fälle gegenüber allen Personen und Stellen weitgehende Zurückhaltung bezüglich des Verfahrens und Ihrer sonstigen Erlebnisse zu üben.« Beitz schreibt er, es sei zu befürchten, dass es sich »um ausgesprochen törichte Leute handelt«. Zum Glück sind das Ausnahmen.
Konrad Adenauer hat einmal auf die rote Nelke in der Brusttasche von Beitz’ Anzug gezeigt und süffisant angemerkt: »Sie sind ja schon ein halber Kommunist.« Wäre der Krupp-Generalbevollmächtigte wirklich blind für die dunklen Seiten des Kommunismus gewesen, hätte er nicht dessen Opfer zu befreien versucht. Wie viele Menschen Beitz in der Phase vor der eigentlichen Entspannungspolitik, die ab 1969 einsetzt, freibekommen hat, lässt sich nicht mehr feststellen; er selbst weiß es auch nicht: »Es waren einige, aber ich habe sie nicht gezählt.«