Zur Einführung: In Jerusalem, 1990
Selbst an heißen Sommertagen bringt der leichte Wind noch etwas Kühlung rund um den Herzl-Berg. Hier im Westen Jerusalems liegt Yad Vashem, jene eindrucksvolle Stätte, in der das Volk der Juden all der Toten gedenkt, der sechs Millionen Ermordeten, der Shoah. Die hebräischen Worte Yad Vashem bedeuten »Denkmal (aber auch: Mahnmal, Hand) und Name«, abgeleitet aus einem Spruch des Propheten Jesaja aus dem Alten Testament: »Ihnen allen errichte ich in meinem Haus und in meinen Mauern ein Denkmal, ich gebe ihnen einen Namen, der mehr wert ist als Söhne und Töchter: Einen ewigen Namen gebe ich ihnen, der niemals getilgt wird.«
Zu den Gästen, die sich am 7. Mai 1990 im »Hain der Gerechten« versammelt haben, gehört auch ein junger Mann aus New York. Robert Ziff wird in wenigen Jahren mit seinen beiden Brüdern Dirk und Daniel eines der erfolgreichsten Investmentunternehmen der USA leiten, aber jetzt steckt er mitten in den Uni-Prüfungen. Er hat es gerade noch rechtzeitig vom Flughafen nach Jerusalem geschafft, und beim Abflug in den USA hatte er nicht unbeträchtliche Schwierigkeiten, dem Sicherheitspersonal der El Al darzulegen, warum er für genau 14 Stunden nach Jerusalem fliegen wolle. Robert Ziff soll am nächsten Tag in New York sein Examen ablegen. Aber diese Stunde im Hain der Gerechten will er nicht versäumen.
Denn der hochgewachsene, trotz der Sonne in einen eleganten dunklen Anzug gekleidete Mann, der ganz vorn steht und dem diese Feierstunde gewidmet sein wird, ist sein Großvater: Berthold Beitz. Yad Vashem gibt den Opfern einen Namen und ein Denkmal, ihnen und jenen, die geholfen haben in einer Zeit, in der so viele Hilfe suchten und das so oft vergeblich. Einer dieser Helfer der Verfolgten war Berthold Beitz.
Die Ehrung ist Israels höchste Auszeichnung für Nichtjuden, eine Geste des Dankes und der Anerkennung. Beitz wirkt gefasst. Was in ihm vorgeht, kann man anfangs nur ahnen. Aber das bleibt nicht so. Vor der Zeremonie hat ihn Israels Staatspräsident Chaim Herzog empfangen und mit Handschlag begrüßt. In Yad Vashem sinken Beitz alte Frauen in die Arme und weinen, sie drücken ihm Zettel in die Hand: »Lieber Herr Beitz, zur Erinnerung an meinen Vater Markus Kleiner und Ihre Freundschaft mit ihm.« Er begegnet Menschen wieder, die er Jahrzehnte nicht mehr gesehen hat. Und die ohne ihn längst tot wären. Und ihren Kindern und Enkeln, die es ohne ihn gar nicht geben würde.
Ganz hinten in der Gruppe steht Jerzy Rotenberg aus Haifa. Er spricht fließend Deutsch und Englisch und könnte, gleich vielen anderen, nach vorne kommen und Berthold Beitz fragen: Wissen Sie noch, damals? Als Sie mir den rettenden Ausweis gegeben haben? Aber er tut es nicht. Dabei ist alles wieder ganz nah, wie es war, damals, in Boryslaw. Jerzy Rotenberg, der damals Jurek hieß, war noch ein Junge, als Beitz ihn vor der SS rettete. Und jetzt ist er hier: »Ich wollte ihm danken, indem ich einfach nach Jerusalem gekommen bin. Es war nicht nötig, ihn anzusprechen.« Zu viele Menschen, zu viele Fragen, die auf Beitz einstürmen. Nach der Feier verlässt Rotenberg still den Hain und fährt nach Hause, zurück in die Gegenwart und sein Leben. Er weiß, wem er es verdankt.
Der Berthold Beitz, den die drei Ziff-Brüder aus den Essen-Besuchen ihrer Kindheit kannten, war der mächtige Lenker des Krupp-Konzerns, aber auch der Großvater, der aussah wie ein Schauspieler, eine gewaltige Sammlung von Jazzplatten besaß, abends aus dem Dienstwagen stieg und noch im Anzug und feinen Schuhen mit den Enkeln Fußball spielte. »A pretty cool guy« sei dieser Großvater für sie gewesen, sagt Dirk Ziff, ein ziemlich cooler Typ. Aber diese eine, für sein Leben so prägende Geschichte kannten sie nicht: Beitz hatte in den Jahren 1942 bis 1944 Hunderte von Verfolgten vor dem Holocaust gerettet. Und nun, in Israel, so sagt Beitz in seiner Ansprache, »erlebe ich eine der bewegendsten Stunden meines Lebens«.
So viele Jahre sind vergangen, fast ein halbes Jahrhundert, seit ein 28-jähriger Industriekaufmann auf dem Bahnhof der kleinen polnischen Stadt Boryslaw gestanden und mit bewaffneten SS-Männern um das Leben vieler Menschen gerungen hatte, inmitten apokalyptischer Szenen aus Befehlsgeschrei, dem Gebell der Wachhunde, dem Weinen der Kinder, den verzweifelten Schreien der Menschen, die in Viehwagen deportiert wurden, fort in den Tod. Er denkt an die junge Büroangestellte, die er mit ihrer Mutter aus einem Waggon holte, weil sie angeblich unabkömmlich für seinen Ölbetrieb war. Der SS-Mann, der ihn voll Widerwillen betrachtete, fuhr ihn an: »Und die Alte da? Sie muss wieder in den Waggon.« Beitz konnte nichts tun. Da sagte die Tochter, die eigentlich schon gerettet war, zu ihm: »Ist es erlaubt, Herr Direktor? Dann gehe ich auch zurück.« Er hat die beiden Frauen nie wiedergesehen. In Jerusalem erzählt er diese Geschichte als »erschütterndes Zeugnis hoher ethischer Gesinnung in barbarischer Zeit. Es wird mich ein Leben lang begleiten.« Und als Beitz diese Worte spricht, sehen ihn die Enkel erstmals weinen.
Umgeben von kleinen Mauern aus dem hellen Jerusalem-Stein stehen Johannisbrotbäume im »Hain der Gerechten«. Auch Berthold Beitz pflanzt 1990 einen Baum, sein Name wird fortan auf einer Tafel verewigt sein. 2008 wird seine Frau Else, die Vertraute und Verbündete der Rettungsaktionen, ebenfalls als »Gerechte unter den Völkern« ausgezeichnet.
So weht nun die leichte Brise im Tal der Erinnerung durch die Zweige von einigen hundert Bäumen, 476 sind es Anfang 2010. Je ein Baum für einen Namen – für Deutsche, die den Verfolgten geholfen haben. Für den Oberfeldwebel Albert Battel, der seine Soldaten sogar die Waffen auf die SS richten ließ, um die Deportation der Juden von Przemyśl zu verhindern. Für Major Eberhard Helmrich, der gar nicht weit von Boryslaw entfernt auf seinem Landgut jüdische Arbeiter vor den Mördern rettete, aus Berlin unterstützt von seiner Frau Donata.
So wenige Bäume. Und so viele wären es dagegen, wüchse auch irgendwo ein Baum für jeden, der am Holocaust beteiligt war, nicht nur als sadistischer Lagerkapo oder als Polizeireservist bei den Massenerschießungen, nein, auch als Buchhalter des Todes in der Zivilverwaltung, als Reichsbahner, der Deportationszüge nach sorgfältiger deutscher Beamtenmanier rollen ließ, als Wehrmachtssoldat, der in den Wäldern Weißrusslands dem Terrorapparat bei der Suche nach versteckten jüdischen Familienlagern half. Hunderttausende Deutsche waren unmittelbar am Genozid beteiligt, als Täter, Helfer, Profiteure. Und es gab überdies Millionen, die vieles wussten und doch nichts wissen wollten. Ein ganzer Wald wäre das, ein Wald aus Unmenschlichkeit.
Die Täter standen nicht allein, sondern dienten, ob aus Grausamkeit oder Gehorsam, einem mächtigen System, das fast ganz Europa unter seine Stiefel getreten hatte. Sie mussten nichts fürchten, außer vielleicht der Stimme des eigenen Gewissens. Allein standen dagegen Menschen wie Berthold Beitz, fassungslos über die Verbrechen und das aus den Fugen geratene Zeitalter. Beitz hatte keine andere Waffe gegen die Täter als die Kraft des eigenen Willens und die Freiheit des Geistes. »Wer diese Zeit nicht miterlebt hat, kann sich kaum ein Bild davon machen, in welcher Lebensgefahr Herr Beitz geschwebt hat.« Das schrieb, lange nach dem Krieg, Evelyn M. Martin aus den USA, als Evelyn Döring Beitz’ Sekretärin in Boryslaw.
Er hat sich seiner Rettungsaktionen später nie gerühmt. Sehr lange hat er kaum davon gesprochen. Die Menschen um ihn herum haben ihn aber auch nicht gefragt. Dass er damals so viele Juden gerettet hatte, wurde überhaupt erst 1973 über wenige Eingeweihte hinaus bekannt, als ihn Yad Vashem zum »Gerechten unter den Völkern« erklärte. Damals schrieb ihm Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein: »Berthold, Du hast nie darüber geredet. Das rechne ich Dir hoch an.« Beitz hatte geschwiegen. Viele Deutsche seiner Generation haben das auch getan, freilich aus ganz anderen Gründen. Manche haben sich geschämt, vielleicht. Viele andere haben, das ist gewiss, den Mord an den Juden vergessen und verdrängt oder den Angriffskrieg, die Massenmorde, den Holocaust als einen historischen Betriebsunfall hingestellt, an dem einige wenige Schuld trugen, keineswegs aber sie selbst.
Als die Wochenendbeilage der Süddeutschen Zeitung im Februar 2008 ein Interview mit Berthold Beitz über seine Rettungstaten in Boryslaw abdruckte, lautete die Überschrift einfach: Freiheit. Große innere Freiheit ist es nämlich, die den Kern der Beitz’schen Persönlichkeit ausmacht. Er war innerlich frei genug, um sich dem Mordapparat entgegenzustellen. Nur wenige Menschen brachten einen solchen Willen auf, geschweige denn den Mut, die Kraft und die Fähigkeit, ihn durchzusetzen, wenn sich die Gelegenheit dafür bot. Was immer danach kam – Schwierigkeiten, Anfeindungen im Krupp-Konzern und durch die Politik, ökonomische Krisen –, er hatte Schlimmeres erlebt.
Berthold Beitz wurde zu einer der großen Persönlichkeiten der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. Als ihn Alfried Krupp von Bohlen und Halbach 1953 zu seinem Generalbevollmächtigten machte, begann sein rascher Aufstieg. Vor ihm galt der Name Krupp als Synonym für Krieg und Kanonen. Beitz schuf den neuen Konzern, machte ihn zum Synonym für das bundesdeutsche Wirtschaftswunder, und Kanonen wurden nicht mehr gebaut. Als faktischer Lenker von Krupp war Beitz ein mächtiger Mann, einer der mächtigsten des Landes. Zeitlebens ein Einzelgänger, nutzte er die Freiheit, die ihm die Macht verlieh, auch für politische Alleingänge. Schon in den fünfziger Jahren reiste er nach Warschau und Moskau, mitten in der eisigsten Phase des Kalten Krieges, und betrieb dort seine Geschäfte ebenso wie aktive Versöhnung mit den Feinden von gestern. Auf diese Weise wurde er zu einem der Wegbereiter der Entspannungspolitik. Und er machte Krupp, ausgerechnet den im Ausland so übel beleumdeten Konzern, 1959 zum ersten produzierenden deutschen Unternehmen, das freiwillig Wiedergutmachung an ehemalige jüdische KZ-Häftlinge zahlte, die während des Krieges für die Firma hatten schuften und leiden müssen.
Er rettete Krupp 1966, als er Alfried Krupps exzentrischen Sohn Arndt im Auftrag des Vaters zum Erbverzicht überredete und die Grundlage schuf für die Umwandlung des Konzerns vom Familienunternehmen in eine GmbH, deren Alleineigentümerin die Stiftung werden sollte. Als deren Vorsitzender übernahm er nach Alfried Krupps Tod 1967 dessen geistiges Erbe und blieb ihm über Jahrzehnte treu: Als die globale Finanzkrise 2009 auch ThyssenKrupp erschütterte, war es Beitz, der Arbeitgeber und Gewerkschaften wieder an einen Tisch brachte und in der »Essener Erklärung« zu einem gemeinsamen Kampf für die Zukunft des Unternehmens verpflichtete. »Wenn Beitz ruft, dann sagt niemand nein«, erklärte später der Vorsitzende des Betriebsrats, Thomas Schlenz.
Beitz verkörpert den am Konsens orientierten Gedanken, welcher der sozialen Marktwirtschaft zugrunde liegt. Und seine Prinzipien, nämlich sozialer Ausgleich und Verantwortung des Unternehmers, die den Verfechtern des schrankenlosen Marktes eben noch als altbacken galten, sind heute in der globalen Krise aktueller denn je.
Wer Macht hat, hat auch Feinde, und wer die Konventionen missachtet, dem sind Kämpfe mit ihren Hütern gewiss. Beitz ist so streitbar wie umstritten. Bundeskanzler Konrad Adenauer zweifelte wegen dessen Moskau-Reise 1958 öffentlich an seiner »nationalen Zuverlässigkeit«. Die alte Garde der Ruhrindustrie versuchte mehrfach, ihn zu verdrängen, und dem mächtigen Bankier Hermann Josef Abs wäre dies 1967 beinahe gelungen. Die Familie von Bohlen und Halbach hat im Kampf um das Krupp-Erbe mit harten Bandagen und Gerichtsverfahren gegen ihn gestritten. Der Liedermacher Wolf Biermann hat ihn öffentlich beschimpft. Wütende Stahlarbeiter aus Rheinhausen stürmten 1987 die Villa Hügel. Und die Leitartikler der Wirtschaftspresse wollten schon 1966 gewusst haben, dass einer wie Beitz mitsamt seinen sozialen Überzeugungen hoffnungslos von gestern sei. Dreiundzwanzig Jahre später, 1989, behauptete ein Fachblatt angesichts der Querelen um seinen Abschied als Krupp-Aufsichtsratsvorsitzender, sein »letztes Gefecht« sei nun aber wirklich angebrochen.
Und doch – wir schreiben inzwischen das Jahr 2010 – ist er immer noch da, »der letzte Patriarch« der deutschen Industrie, wie das manager magazin schrieb, faktisch auf Lebenszeit Vorsitzender der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung. Er residiert in unmittelbarer Nähe der Villa Hügel, dem Ort des Aufstiegs wie der Nemesis der Familie Krupp. Nur selten gibt er noch Interviews. Oft aber empfängt er Besucher, die im Speisezimmer der Stiftung bewirtet werden und die in dem alten Herrn noch immer einen präsenten, geistreichen Gastgeber erleben.
Er hat nie Memoiren verfasst, obwohl ihn viele dazu aufforderten. Als ihm die Ruhr-Universität Bochum 1999 die Ehrendoktorwürde im Fach Geschichtswissenschaft verlieh, sagte der damalige Bundespräsident und Beitz-Vertraute Johannes Rau in seiner Laudatio: »Wäre ich mächtiger, als ich bin, würde ich den Versuch machen. Ich würde Berthold Beitz mit der Ehrendoktorwürde ein zusätzliches Geschenk machen und es an Bedingungen knüpfen. Das Geschenk wäre ein handliches kleines Diktiergerät und ein Kasten mit vielen Kassetten. Und dann würde ich sagen: Herr Beitz, Sie sind jetzt Ehrendoktor der Geschichtswissenschaft, tun Sie bitte, was Historiker tun, erzählen Sie, und täte er es, dann hätten wir in einigen Monaten und in einigen Jahren aufregende Bücher zu schreiben. Wie oft habe ich Berthold Beitz, wenn er abends etwas erzählte, gesagt: Sie müssen das aufschreiben. Sprechen Sie es wenigstens auf Band.«
Es lag ihm nicht, er wollte nicht über sich selbst sprechen oder gar schreiben, nicht in den Verdacht des Selbstlobs geraten. Er wollte lange auch nicht, dass andere an seiner statt für ihn schreiben. Literatur über ihn selbst und sein Leben ist daher recht rar; lediglich seine Rettungsaktionen für die Juden von Boryslaw und seine späteren Kontakte in den Ostblock sind einigermaßen gut dokumentiert.
Berthold Beitz hat erst spät, in sehr hohem Alter, einer Biographie zugestimmt, diesem Buch. Im vollen Wissen, dass ein solches Werk immer nur eine Annäherung an ein fremdes Leben sein kann, will der Autor – gestützt auf viele Gespräche mit Berthold Beitz, seiner Familie und Zeitzeugen, aber auch auf viele, teils neue schriftliche Quellen – versuchen, sich seiner Hauptperson so unvoreingenommen, einfühlsam und kritisch wie möglich zu nähern. Das vorliegende Buch möchte einen Lebenslauf beschreiben, der ein Jahrhundert umspannt und der all dessen Katastrophen und Errungenschaften widerspiegelt.
Joachim Käppner, im Oktober 2010