Der Pionier: Beitz und das neue Gesicht des Konzerns
»KINDER STATT KANONEN«:
ABSCHIED VON DER WAFFENPRODUKTION
Er war 19 Jahre alt und fühlte sich unbesiegbar, ein Soldat in der stärksten Armee der Welt. Er zog mit den anderen Jungs nach Europa, um für eine gute Sache zu kämpfen, und sie alle waren Teil einer Elite, der Panzertruppe. Windsor S. Miller, geboren 1913 in Dayton, Ohio, sollte kaum ein halbes Jahr später Geschichte schreiben: Im März 1945, als amerikanische Soldaten die Rheinbrücke von Remagen stürmten und der Weg frei war ins Innere des Reiches, war Windsor Millers Sherman der erste und einzige Panzer, der in jener ersten Nacht auf die andere Seite hinüberrumpelte.
Im Spätsommer 1944 aber, erhielt sein jungenhaftes Heldengefühl einen erheblichen Dämpfer. Der Ausbilder an der British Tank and Tech School in London führte die Rekruten hinaus zu einem bewachten Hof. Dort standen einige Panzer, darunter als Prunkstück ein Tiger, »ein Monster aus Stahl«, so Miller, der beste deutsche Panzer mit einem 8,8-Glattrohrgeschütz, dessen Durchschlagskraft kein US-Sherman gewachsen war. Der Tiger wies einige Dellen und Beulen auf. Der Ausbilder erklärte dazu: »Das passiert, wenn eure Kanone den Tiger trifft und ihr nicht ganz genau gezielt habt.« Er zeigte auf einen Sherman gleich daneben, in dem riesige Löcher klafften. Die Panzerung war an drei Stellen einfach durchschlagen. »Und das passiert, wenn der Tiger euch trifft – egal, wohin er zielt.«
Es war eine Lektion, die Windsor S. Miller nicht vergessen sollte und die ihm das Leben rettete, als er im Dezember 1944 auf den verschneiten Straßen eines Dorfes in den Ardennen plötzlich einem Tiger gegenüberstand und gezielt auf eine der wenigen Schwachstellen des Monstrums am Turmansatz feuerte. Er traf genau, der Turm ließ sich nicht mehr drehen, die Besatzung stieg aus und hastete davon. Ebenso wenig vergaß er, was sein Ausbilder noch sagte, als sie vor den Einschusslöchern in dem US-Panzer standen: »From Krupp with love« – Liebesgrüße von Krupp.
Zwar war Krupp beim Bau des Tigers nur Zulieferer, der Tank wurde vor allem von Henschel gebaut. Aber Krupp und Waffen – für alliierte Soldaten, Reporter und Besatzungsoffiziere waren das im Grunde Synonyme, wobei sie die tatsächliche Bedeutung des Konzerns für die Kriegswirtschaft überschätzten. Schon 1851 war es Alfred Krupp gewesen, der mit der ersten Gussstahlkanone das Publikum der Londoner Weltausstellung erschreckte und begeisterte, je nach Sichtweise. Es war Krupp, dessen »Dicke Bertha« im Ersten Weltkrieg mit gewaltigen 42-cm-Geschossen alliierte Stellungen und Bunkersysteme an der Westfront regelrecht in Schutt und Asche legte. Während der Nürnberger Prozesse hat Chefankläger Telford Taylor Alfried Krupp und seinen Direktoren vorgehalten, der Konzern sei seit vier Generationen ein »Händler des Todes«.
Alfried Krupp hat in seiner Zelle viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Noch in Landsberg gibt er jene Pressekonferenz, in der er verkündet, keine Waffen mehr produzieren zu wollen. Noch lange aber schreiben die Zeitungen in London, New York und Washington über Geheimgespräche, verdeckte Waffenpläne und »Krupps Rüstungsverschwörung«.
Doch Krupp hält sein Wort.
Aber bald nach 1950 muss es ihm so scheinen, als stünde die rüstungspolitische Welt plötzlich auf dem Kopf. Auf der einen Seite beharren die Sieger noch immer darauf, dass er die Kohle- und Stahlproduktion verkauft – Krupp soll kein übermächtiges Montanunternehmen mehr sein, dessen Größe und dessen Geld Einfluss auf die Politik haben wie früher. Andererseits herrscht inzwischen der Kalte Krieg, und dieselben Sieger wünschen sich bald einen deutschen Beitrag zu Rüstung und Verteidigung. 1955 gibt es wieder eine deutsche Armee, die innerhalb von zehn Jahren auf eine Truppenstärke von einer halben Million Soldaten anwachsen wird – das Rückgrat der nichtatomaren Verteidigung des Westens gegen den Warschauer Pakt. Die Bündnispartner befürworten den Aufbau der Bundeswehr mit konventionellem High-Tech-Kriegsgerät auch deshalb, weil sonst nur die apokalyptische Perspektive einer atomaren Verteidigung bliebe, wie sie die Nato in beängstigenden Szenarien übt. In der berüchtigten TF 60, der »Truppenführungsvorschrift«, heißt es zu dieser Zeit: »Atomwaffen müssen im Mittelpunkt aller Überlegungen stehen.« In einer derart veränderten Welt wäre das Geschäft mit herkömmlichen Waffen für ein Unternehmen wie Krupp moralisch weit weniger beladen als kurz nach dem Krieg.
1955 bringt der Spiegel eine Titelgeschichte über »Krupp – das tödliche Symbol«. Demnach war das US-Verteidigungsministerium interessiert daran, Krupp in die Aufrüstung der Nato einzubinden, sprich, wieder Waffen herstellen zu lassen. Logischerweise, insinuierte das Nachrichtenmagazin, würde in diesem Fall die Verkaufsauflage aufgehoben. Aber Alfried Krupp will davon nichts wissen. Und dabei bleibt es, egal, wie oft – und sie tun es sehr oft – die Reporter ihn noch fragen.
Drei Jahre später, im April 1958, als sich wie jedes Jahr wieder verdiente Firmenjubilare in ihre besten Anzüge werfen und zur Ehrung auf die Villa Hügel kommen, sagt Krupp: »Gerade an dieser Stelle will ich noch einmal betonen, daß wir Erfolge nur mit der Produktion von Friedensgütern suchen. Waffen irgendwelcher Art beabsichtigen wir nicht herzustellen.«
1956 will die junge Bundesmarine fünf Zerstörer bauen lassen, hochwertige, schnelle, mit modernster Technik ausgerüstete Schiffe. Bundesverteidigungsminister Hans Blank ist mit dem Vorstand der AG Weser, einer traditionsreichen Bremer Werft in Krupp’schem Besitz, schon fast im Geschäft, und über die beachtliche Dimension des Auftrags hinaus wäre es der Präzedenzfall. Krupp würde tun, was Krupp immer getan hat: Waffen bauen in engem Zusammenspiel mit der Regierung, gleich welcher. Doch Alfried Krupp lehnt ab, zum großen Verdruss der Politik.
Kurz darauf, am 8. August 1956, treffen sich unter anderem die Direktoren Johannes Schröder und Hans Herrmann mit Vertretern der AG Weser in der Essener Hauptverwaltung. Noch am selben Tag ist ein Termin auf der Hardthöhe angesetzt, dem weitläufigen Neubaukomplex im Bonner Westen, in dem neuerdings das Verteidigungsministerium residiert. Auch Alfried Krupp nimmt an der Essener Besprechung seiner Direktoren teil – und winkt ab. »Von seiten Alfried Krupps wurde die Ansicht vertreten, daß man dem Bundesministerium für Verteidigung bei den großenSchwierigkeiten, in die dieses durch unsere Ablehnung gekommen ist, auf irgendeine Weise bei dem Problem für die Entwicklung der Zerstörer helfen müsse, was aber nicht bedeute und auch nicht bedeuten sollte, daß wir uns an dem Bau der Zerstörer beteiligen würden«, notiert das Protokoll ebenso umständlich wieinderSache eindeutig. Krupp wird keine Kriegsschiffe bauen. Ein Jahr später erklärt schließlich noch einer der Direktoren, Friedrich Wilhelm Hardach: »Die Krupp-Werke werden niemals mehr einen Rüstungsauftrag ausführen, selbst wenn man uns eines Tages der Sabotage an der europäischen Wiederaufrüstung bezichtigen sollte.«
Gewiss, ganz unbeteiligt an der Rüstungsproduktion wird das Unternehmen auf Dauer nicht bleiben. Nach Alfried Krupps Tod 1967 versucht der neu gegründete Firmenvorstand besser ins Geschäft zu kommen. In einem Brief vom 22. Juli 1967 an den Vorsitzenden des Bonner Verteidigungsausschusses, Friedrich Zimmermann (CSU), und seine Kollegen heißt es: »Der Krupp-Konzern ist, was sicher nicht allgemein bekannt sein dürfte, auf dem Rüstungssektor in vielseitiger Form tätig.« Man offeriert Radargeräte, Spezialstahl, Lenksysteme für die Marine – all das gilt nach hauseigener Definition nämlich nicht als »Waffe«. Knapp wie stets erläutert Krupp-Vorstandschef Günter Vogelsang, im Zweiten Weltkrieg Flak-Oberleutnant, dem Spiegel 1968: »Eine Waffe ist, was bumm-bumm macht.«
Niemand wird behaupten können, dass Bergungspanzer, Stahlhüllen für Kleinst-U-Boote oder Bauteile des Starfighters »bumm-bumm machen« – alles Dinge, die Krupp in den sechziger Jahren herstellt, also noch zu Lebzeiten des letzten Alleininhabers. Seit 1964 gehören Krupp zudem große Anteile der Firma MaK, die den Leopard I-Panzer sowie Navigationssysteme für die Marine mitentwickelt. Beitz’ eigene Definition ist je nach Sichtweise feinsinnig oder »haarsträubend« (Spiegel), entspricht aber der Vogelsang’schen Bumm-bumm-Theorie: Waffen, also Kanonen, Panzer oder Raketen, stellt Krupp nicht her. Im Rüstungsbusiness ist das Geschäft mit Militärmaterial jenseits solch »eigentlicher« Waffen aber mindestens genauso bedeutend, und hier beginnt Krupp einzusteigen. Im Grunde ist es so, als würde eine mittelalterliche Schmiede einem Ritter den schützenden Kettenüberwurf für sein Schlachtross herstellen, sich aber aus ethischen Erwägungen weigern, ihn auch noch mit Schwert und Lanze auszustatten.
Das alles sind dennoch, verglichen mit früheren Zeiten, nur Nebengeschäfte. Entscheidend für diesen Wandel war, so Berthold Beitz im Rückblick, »dass Alfried keine Waffen mehr bauen wollte. Das war für ihn eine conditio sine qua non. Und für den Konzern eine Herausforderung: Es war schwer, nach dem Krieg aus dem Rüstungskonzern einen Betrieb zu machen, der nur noch zivile Produkte herstellte.« Und beide Männer wissen: Wer einmalwirklich ins Waffengeschäft eingestiegen ist, kommt nicht mehr so schnell hinaus. Die Investitionskosten sind enorm und zwingen deshalb zu einem Engagement auf lange Sicht. Mit Blick auf Alfried Krupps Weigerung, in den Marineschiffbau einzusteigen, sagte Beitz gleichwohl später mit einem Ton leichten Bedauerns zu Golo Mann, dort habe man »den Fehler gemacht und vielleicht zu konsequent gedacht«. Beitz selbst war es freilich auch, der damals ins Bundeskanzleramt nach Bonn fuhr und Konrad Adenauer erklärte, dass ausgerechnet Krupp sich weigere, Kriegsschiffe zu bauen: »Und das, obwohl wir die ganze Mannschaft noch hatten, das Knowhow und die Werfteinrichtungen.« Aber Alfried Krupps Haltung ist eindeutig, und Beitz trägt sie, loyal wie stets, mit.
Zugleich erkennt Beitz die Chance, die Krupps Abneigung gegen Waffen für den Konzern bietet. Kein Thema ist besser geeignet, den Konzern neuen Typs zu illustrieren, den Abschied von den Kanonenkönigen, vom Totenkopf-Image in den westlichen Ländern, das zu zerstreuen Beitz’ vornehmste Aufgabe ist. Ein Jahr nach dem geplatzten Zerstörer-Deal mit der Hardthöhe erklärt er dem Time-Magazin: »Warum in aller Welt sollten wir denn Kanonen produzieren? Schauen Sie doch unsere zivilen Aufträge an. Und nebenbei: Welcher Krieg würde heute noch mit Kanonen ausgetragen?«
Beitz trägt diese Botschaft um die Welt: Krupp ist kein Händler des Todes mehr. »Was immer geschehen mag, ob wir wachsen oder uns auf Geschäftsfelder konzentrieren«, sagt er einmal, »eines ist sicher: Wir werden niemals wieder Waffen in unsere Produktpalette aufnehmen.«
Für das Image des Unternehmens ist der neue Kurs Gold wert. Ohne ihn wäre Beitz niemals in der Lage gewesen, sich als gern gesehener Gast und als Vorreiter der Entspannungspolitik in den Staaten des Ostblocks zu bewegen. Beitz selbst, der sich stets darauf versteht, große Entscheidungen in griffige Bilder zu fassen, zeigt 1958 auf der Hannover-Messe dem stellvertretenden sowjetischen Ministerpräsidenten Anastas Mikojan das Bild seiner neugeborenen Tochter Bettina und erklärt dazu: »Ich bin für Kinder statt Kanonen.«
Die Entscheidung gegen die Rüstungsproduktion ist in ihrer ganzen Tragweite oft unterschätzt worden. Krupp hat durch sie auf lukrative, langfristige Märkte verzichtet. Dabei wäre die Entscheidung für die Rüstungsproduktion politisch leichter und weniger umstritten gewesen als je zuvor: Immerhin hätte es gegolten, das Bündnis der westlichen Welt gegen den Kommunismus mit Waffen zu beliefern, und der Segen aus Bonn wäre dem Geschäft sicher gewesen. Getroffen aber hat die Entscheidung der Inhaber selbst. Über seine Motive spricht er kaum. Beitz jedoch weiß, dass dies Alfried Krupps Weg ist, sich von seiner Vergangenheit zu lösen, von jenen unseligen Monaten gegen Kriegsende, als er den Konzern führte. Er mag ein König im Stahlrevier sein, aber kein König der Kanonen mehr.
GEGEN ALLE WIDERSTÄNDE:
BERTHOLD BEITZ UND DIE ENTSCHÄDIGUNG
FÜR JÜDISCHE KZ-HÄFTLINGE (1959)
Als Rose Szego nach Essen kam, hatte sich ihr Leben bereits in einen Albtraum verwandelt. Sie stammte aus Tapolca in Ungarn, aus einer jüdischen Familie. Das Land war zwar mit dem Deutschen Reich verbündet, hatte seine große jüdische Minderheit aber weitgehend unbehelligt gelassen. Das alles änderte sich dramatisch im Frühjahr 1944, als die Wehrmacht Ungarn besetzte, unterstützt von der faschistischen »Pfeilkreuzler«-Bewegung des Landes. SS-Leute verschleppten Rose Szego und ihre beiden Kinder Susanne und Thomas zunächst ins Budapester Ghetto. »Wir haben dort einen Monat auf der Erde gelebt«, schrieb sie viel später, 1991, an den Essener Historiker Ernst Schmidt, der ihre Spur in Kanada gefunden hatte. Doch das war nur der Anfang. Tag für Tag wich die deutsche Front im Osten zurück, zu spät aber für die Familie Szego. Die SS räumte das Ghetto, und die Maschinerie der Vernichtung lief weiter, mit deutscher Präzision. Fünf Tage lang fuhr der Güterzug. Es war eine Reise in den Tod. An der Rampe in Auschwitz sah Rose Szego den berüchtigten Arzt Josef Mengele, der die Selektion der verängstigten und entkräfteten Opfer persönlich überwachte. Es war der 21. Mai 1944. An diesem Tag sah Rose Szego ihre Kinder zum letzten Mal.
Die SS ließ die traumatisierte Mutter kahl scheren und bald wieder abtransportieren. Sie galt als »arbeitsfähig«. Über das Konzentrationslager Buchenwald kam sie im August 1944 nach Essen, zu Krupp, ins Zwangsarbeiterlager an der Humboldtstraße, bewacht von der SS. Inzwischen waren die Alliierten in der Normandie gelandet, hatte die Rote Armee im Osten die Heeresgruppe Mitte zertrümmert. Doch im Walzwerk II lief die Kriegsproduktion noch immer auf Hochtouren. Jeden Tag ging Rose Szego mit den anderen dorthin, mitten durch die Stadt. Es wurde Herbst, es war kalt. Als sie sich beklagte, weil sie keine Schuhe mehr hatte, verprügelten die Wächter sie mit dem Stock.
Als Alfried Krupp 1947 auf der Anklagebank des Nürnberger Justizgebäudes saß, sprach das Gericht ihn vom Vorwurf des Angriffskriegs und der Verschwörung mit dem NS-Regime frei. Verurteilt wurde er hauptsächlich wegen etwas anderem: der »Sklavenarbeit« und der »Plünderung«. Und es war besonders das Schicksal von 520 Jüdinnen aus Ungarn, darunter Rose Szego, das zu den zwölf Jahren Haftstrafe beitrug. Das Gericht ging davon aus, dass die meisten der Frauen umgekommen seien – ein folgenschwerer Irrtum, wie sich noch zeigen sollte.
Das Los der ungarischen Zwangsarbeiterinnen war hart und oft grausam. Rose Szegos Leidensweg ist nur einer von vielen. Sie stapften barfuß durch die Trümmerlandschaft der Stadt, schufteten im Walzwerk bis an den Rand der Erschöpfung, hausten in Baracken voller Ungeziefer. Was in Essen geschah, war nur ein winziger Mosaikstein eines gewaltigen Bildes, das zeigt, wie das Deutsche Reich und die überwältigende Mehrzahl seiner Unternehmen mehr als acht Millionen Bewohner der unterjochten Länder als Zwangsarbeiter in der Kriegswirtschaft ausbeuteten. Das Gros stellten zunächst Kriegsgefangene und verschleppte Arbeiter aus den Besatzungsgebieten. Erst in der Spätphase des Krieges, als der Arbeitskräftemangel immer dramatischer wurde, zog man auch viele Juden aus den Konzentrationslagern heran. Das änderte freilich nichts am Hauptziel des Regimes, so viele Juden wie möglich zu ermorden. Aus dieser widersprüchlichen Gemengelage entstand der Begriff der »Vernichtung durch Arbeit«, und obwohl es selbst in der Logik der moralisch enthemmten Kriegsplanung sinnlos war, Arbeitskräfte zu ermorden, entsprachen die Zustände in den Arbeitslagern für jüdische KZ-Häftlinge nur zu genau diesem Wort.
Das Lager in der Essener Humboldtstraße war klein und nur eines von über 1000 sogenannten KZ-Außenlagern mitten in deutschen Städten und Dörfern. Ihre Insassen wurden von der SS bewacht, die auch den Lohn einkassierte, den die Firmen abführten. Wirklich profitiert hat Krupp von den 520 entkräfteten jüdischen Frauen, die harte Männerarbeit leisten mussten, wohl kaum. Im Werk arbeiteten Zehntausende Menschen, darunter Anfang 1945 mehr als 12 000 Kriegsgefangene oder verschleppte Zivilarbeiter.
Der Historiker Ulrich Herbert, der beste deutsche Kenner der Zwangsarbeiter-Materie, schreibt über die Rolle des Essener Konzerns: »Mit einiger historischer Distanz verliert Krupp diese Aura des ganz besonders Verwerflichen. Und es stellt sich heraus, dass sich Krupp in seinem Verhältnis zum nationalsozialistischen Staat und in seinen kriegswirtschaftlichen Aktivitäten gar nicht von anderen deutschen Großbetrieben unterschied.« Umgekehrt war Krupp natürlich auch nicht besser als die anderen. Die Personalleitung des Unternehmens hatte im Juli 1944 bei der SS Häftlinge aus Konzentrationslagern angefordert, allerdings primär Männer und wohl kaum jene »zarten, feingliedrigen Geschöpfe«, die der darüber verärgerte Krupp-Beauftragte Walter Trockel bei einer ersten Besichtigung der unfreiwilligen Arbeitskräfte vorfand.
Die Arbeit im Werk war sehr schwer. Nicht nur das Wachpersonal der SS, auch manche Betriebsleiter und Beschäftigte von Krupp schikanierten und misshandelten die ungarischen Arbeiterinnen. Ein besonders berüchtigter Peiniger im Walzwerk ließ es nicht zu, dass sich die in der Winterkälte frierenden Arbeitssklavinnen aufwärmten. Andere Arbeiter und Nachbarn des Lagers aber halfen ihnen, steckten ihnen Essen oder Kleidungsstücke zu, mehrere versteckten sogar geflüchtete Jüdinnen.
Im März 1945 gelang auch Rose Szego die Flucht, als britische Flugzeuge einmal mehr nachts die Werke bombardierten. Ein Bauer nahm sie auf. Nach langen Irrwegen fand sie ihren Mann wieder, 1946 brachte sie noch einen Sohn zur Welt. Die Familie emigrierte 1957 nach Kanada. Zur Weihnachtszeit 1959 liest Rose Szego nun in der Zeitung, dass sich die Firma Krupp mit der Jewish Claims Conference darauf verständigt hat, sechs Millionen Mark an ehemalige jüdische Zwangsarbeiter zu zahlen. Ausgehandelt hat dies ein Mann, dessen Namen sie bis dahin wohl noch nie gehört hat: Berthold Beitz.
Vier Jahre zuvor, Essen 1955. Die bundesdeutschen Unternehmen können sich der Einsicht nicht länger erwehren, dass ihre Rolle während des Krieges, vor allem die Ausbeutung von Zwangsarbeitern, nicht folgenlos bleiben wird. Während das Ganze für die ehemaligen Zwangsarbeiter und ihre Vertreter eine klare Angelegenheit von Schuld und Sühne ist, will die deutsche Seite in den fünfziger Jahren von Sühne nichts wissen und gesteht Schuld, wenn überhaupt, nur in kleinsten Dosen ein. Die Zwangsarbeiter und vor allem die überwiegend jüdischen KZ-Häftlinge unter ihnen blicken auf ein grauenvolles Schicksal zurück; die deutsche Gesellschaft aber wird noch Jahrzehnte brauchen, bis sie dieses Schicksal überhaupt in seinem ganzen Ausmaß begreift.
Mitte der fünfziger Jahre jedenfalls verlangen immer mehr einstige Opfer Entschädigung von jenen Firmen, bei denen sie hatten schuften müssen. Die deutsche Industrie baut eine Abwehrfront auf, nach deren Logik sie eigentlich gar nichts dafür gekonnt habe, dass sie Zwangsarbeiter beschäftigte: Das Regime habe sie vielmehr dazu gezwungen. Man stützt sich überdies auf eine juristische Krücke, die sich dem Londoner Schuldenabkommen von 1952 verdankt: Im totalitären Staat, heißt es, habe sich die Industrie der Vereinnahmung durch die Diktatur nicht erwehren können, also unter Zwang als »Agentur« der NS-Regierung gehandelt. Damit sind Wiedergutmachungsansprüche Sache der Bundesrepublik Deutschland, des juristischen Nachfolgers des Deutschen Reiches.
Im selben Jahr aber, 1953, gelingt Norbert Wollheim, einem früheren Zwangsarbeiter der IG Farben in Auschwitz, ein juristischer Durchbruch. Das Landgericht Frankfurt erkennt ihm Anspruch auf Schmerzensgeld zu. Nachdem sich das Wollheim-Verfahren trotzdem noch jahrelang hinzieht, kommt es 1957 zu einem viel beachteten Vergleich. Dieser bestätigt zwar die eben erwähnte Theorie, wonach sich Unternehmen den Vorgaben der staatlichen Rüstungskontrolle nicht entziehen konnten, auch nicht bei der Zuweisung von Arbeitskräften. Andererseits, so das Landgericht, lasse das nicht den Schluss zu, dass sich die betreffenden Firmen nicht um das Wohl der Zwangsarbeiter kümmern mussten.
In der deutschen Industrie bricht ein Sturm der Entrüstung los. Die Wirtschaftszeitungen warnen vor »einem neuen Kollektivschuldprozess«, so als hätten die ehemaligen KZ-Häftlinge den Firmen ein Leid angetan und nicht umgekehrt. Gustav Stein, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), schreibt 1956 ans Kanzleramt, er befürchte, »daß ein gefährliches Präjudiz für die gesamte deutsche Wirtschaft geschaffen wird … an erster Stelle kommt wohl Krupp in Frage«.
Berthold Beitz hat eine andere Sicht der Dinge. Er hat selbst erleben müssen, was es bedeutet, wenn Menschen zu Sklaven werden, zu rechtlosen Objekten, hilflos einem bösen Willen ausgeliefert. Er hat dagegen angekämpft und dabei sein Leben riskiert – für seine Beschäftigten in Galizien bedeutete die Arbeit im Ölbetrieb die Rettung. Und so ist er es, der Alfried Krupp nahelegt, zu zahlen, als erste Forderungen laut werden. »Meine Erlebnisse in Polen sind natürlich der Hintergrund dieser Entscheidung gewesen«, sagt er heute, »ich dachte: Mehr können wir leider nicht tun, wir können die ermordeten Menschen ja nicht mehr lebendig machen.«
Beitz ergreift die Initiative, als John J. McCloy, der inzwischen als Bankpräsident arbeitet, einen Brief an Alfried Krupp schreibt. McCloy, der als Alliierter Hochkommissar Krupp begnadigt hat, legt diesem nahe, von sich aus die ehemaligen KZ-Häftlinge zu entschädigen, »damit die deutsche Industrie ihren guten Namen in der Welt dadurch behalten möge, daß sie alles tut, was billig und gerecht erscheint, um die Auswüchse des Naziregimes wiedergutzumachen«. Ein Freund, Jacob Blaustein, der Vizepräsident der Jewish Claims Conference (JCC), hat McCloy um Hilfe gebeten. Zu diesem Zeitpunkt haben schon fast 400 Juden Entschädigungsansprüche bei der Firma Krupp angemeldet.
Im September 1958 fliegt Beitz nach New York, wo er auch McCloy trifft. Er bringt gute Nachrichten mit: Krupp sei zahlungswillig. Es klingt, als sei der Durchbruch bereits geschafft. Die Firma Fried. Krupp ist demnach bereit, ehemalige jüdische KZ-Häftlinge zu entschädigen. Gleichzeitig entwerfen die Konzernjuristen einen Vorschlag, wie das zu geschehen habe: Blaupause ist das Abkommen über die Zahlung von 30 Millionen Mark an frühere jüdische Sklavenarbeiter aus den Konzentrationslagern, das die IG Farben schließlich mit der Jewish Claims Conference nach dem Fall Wollheim geschlossen hat. Freilich haben sich Beitz und McCloy auf eines verständigt: Krupp zahlt im Gegensatz zur IG Farben freiwillig und aus eigener Initiative.
Bis es so weit kommt, dauert es noch. Die Schwierigkeiten häufen sich. Nach wie vor liegen die Positionen der Verhandlungspartner weit auseinander, viel zu weit gewiss aus Sicht der jüdischen Seite. Für die Opfer und ihre Vertreter ist eine Entschädigung eine moralische Selbstverständlichkeit. »Wiedergutmachung« im Sinne des Wortes könnten selbst höhere Zahlungen nicht leisten, denn das, was diesen Menschen widerfahren ist, lässt sich nicht wiedergutmachen. Mit anderen Worten: Sie fordern nur ihr Recht.
Was in den USA so klar erscheint, ist in Deutschland alles andere als selbstverständlich. Beitz hat dementsprechend alle Mühe, sein Projekt durchzusetzen. Die Krupp-Direktoren zaudern; bei einer Sitzung, an der Beitz nicht teilnimmt, lehnen sie sogar eine Fondslösung der deutschen Wirtschaft ab. Und der BDI warnt: Sollte Krupp einen freiwilligen Alleingang wagen, wäre dies ein Präzedenzfall mit unabsehbaren Folgen für die deutsche Industrie. Gewichtiger noch ist der Widerspruch aus Bonn: Auch die Bundesregierung, namentlich das Auswärtige Amt, warnt ausdemselben Grund dringend vor einem Alleingang.
Und dann ist da natürlich der Mann, der letztlich zu entscheiden hat, ob Krupp die ehemaligen Zwangsarbeiter entschädigt, und der just ihretwegen lange Jahre im Gefängnis gesessen hat: Alfried Krupp. Der Konzernherr ist gewiss nicht der Mann, der öffentlich Zeugnis ablegen würde über seine Vergangenheit und das, was er daraus gelernt haben mag, über Selbstzweifel und Selbstverständnis. Noch weniger wird er jemals an die Öffentlichkeit gehen und verkünden: Ja, ich war Unternehmenschef, als diese KZ-Häftlinge in unseren Werken vieles erlitten haben. Es ist nur recht und billig, dass wir zahlen. Gleichwohl handelt er so. Er tut, was er nicht tun müsste: Er zahlt.
Bei einem Gespräch mit Beitz vor dessen New-York-Reise 1958 gibt Krupp schließlich sein Einverständnis: »Herr Beitz, ich habe sechs Jahre eingesessen. Diese Jahre kann mir keiner zurückgeben. Aber es ist richtig. Machen Sie das.« Beitz hat Alfried Krupp von Bohlen und Halbach überzeugt. Entscheidend sind einerseits moralische Argumente: Krupp will mit seiner Vergangenheit brechen, so wie in der Waffenproduktion. Andererseits wollte er, wie Beitz heute sagt, »Amerika davon überzeugen«, dass Krupp heute und Krupp gestern zwei sehr verschiedene Dinge sind: »Und er hat natürlich geglaubt, wenn ausgerechnet er, der in Nürnberg verurteilt wurde, als einer der Ersten Entschädigungen an jüdische KZ-Häftlinge zahlt, würde er endlich auch in die USA reisen dürfen. Das durfte er wegen seiner Verurteilung nicht.«
Zunächst aber geht wenig voran. Im Juni 1959 schreibt Beitz, gebremst von der hauseigenen Rechtsabteilung, an den Frankfurter Rechtsanwalt Frank Katzenstein, der die JCC in Europa vertritt. Obwohl es bei den Zahlungen um »eine humanitäre Frage« gehe, sei »eine positive Stellungnahme« noch nicht möglich, solange ein laufendes Revisionsverfahren vor dem Bundesgerichtshof nicht entschieden sei. Dabei geht es, im Fall von AEG-Telefunken, um die Grundsatzfrage, ob die westdeutschen Unternehmen überhaupt haftbar gemacht werden können. Zuvor hätte ein Alleingang von Krupp »auch rechtlich präjudizielle Bedeutung«.
Katzenstein ist überrascht, Benjamin Ferencz, Deutschland-Direktor der JCC, sogar entsetzt. Ferencz kommt es vor, als betrachte Beitz die Entschädigungsfrage im Vergleich zu seinen weltweiten Geschäften »wie eine Fliege, die einen Elefanten stach – eine geringfügige Störung, die am besten aus dem Weg geräumt wird«. Als Katzenstein einmal in Essen über Details verhandelt, gerät Beitz in Zeitnot. Er hat einen Termin im Kreml, mit dem sowjetischen Außenminister. Ferencz wiederum interpretiert die Situation so, als lasse »Beitz wissen, dass er Wichtigeres zu tun habe«. So schreibt er später in seinem Buch Lohn des Grauens.
Diese Sicht ist freilich ungerecht, eine grobe Verkennung des deutschen Verhandlungspartners und seiner Motive. Ohne Beitz gäbe es 1959 gar keine Verhandlungen über Entschädigungszahlungen. Er ist es, der die Abwehrfront der deutschen Industrie durchbricht, obwohl er, anders als Ferencz in seinem Buch suggeriert, dazu nicht gezwungen ist. Gewiss möchte er mögliche Klagen nach dem Vorbild Wollheims vom Konzern abwenden. Die JCC hat bereits Testfälle gegen Krupp vorbereitet. Aber die Gefahr schlechter Publicity und möglicher Klagen droht auch anderen deutschen Großunternehmen, ohne dass diese oder ihre Verbände bereit wären, sich zu ihrer historischen Schuld zu bekennen. Dass Krupp es dennoch tut, ist Beitz’ Verdienst.
Die JCC und besonders Ferencz versuchen durch Druck auf das US-Außenministerium, den Hebel der Verkaufsauflage zu nutzen, die Krupp verpflichtet, die Kohle- und Stahlproduktion zu veräußern. Das Unternehmen soll spüren: Wenn ihr nicht nachgebt, könnte die starke Hand der Sieger euch die wirtschaftliche Grundlage nehmen. Aber das ist eine Illusion. Den westlichen Mächten fehlt nun, während des Kalten Krieges, längst der Eifer, das Mehlemer Abkommen durchzusetzen.
Beitz’ Lage ist alles andere als einfach. Er muss die Interessen Alfried Krupps vertreten, dem Druck der Bundesregierung und des BDI standhalten und noch dazu die eigenen Hausjuristen zügeln, die auf die Bremse treten und ihn dringend auffordern, erst das Urteil des Bundesgerichtshofs abzuwarten. Daher der Brief an Katzenstein, der aber nicht mehr ist als ein kurzer Aufschub. Denn Beitz will am Ende doch nicht auf den BGH warten. Im November 1959 reist er nach New York, zu Nahum Goldmann, dem Präsidenten der JCC. Er will eine Einigung, und er will sie bald.
Das Vorgehen in der Entschädigungsfrage und mehr noch seine Visite bei Goldmann sind bezeichnend für die Art und Weise, in der Berthold Beitz Entscheidungen fällt und durchsetzt, gleichgültig, wie verzwickt die Einwände, wie kompliziert die Streitigkeiten um Paragraphen oder wie einflussreich seine Gegner sind. Er folgt seinem Instinkt – dem Instinkt, das Richtige zu tun und dabei vielen anderen an Entschlusskraft und Willensstärke überlegen zu sein. Er weiß, was die Opfer erlitten haben. Er weiß, dass es moralisch geboten ist, den Überlebenden zu helfen. Er weiß zudem, dass die Zahlungen auch dem Konzern und seinem Image nur nutzen können, genauso wie ihm eine Weigerung schaden würde. Und er entscheidet statt durch Gremien und Rechtsabteilungen viel lieber im Gespräch mit einem Gegenüber, dem er persönlich vertraut. Nahum Goldmann, 1895 in Weißrussland geboren und mit fünf Jahren nach Deutschland gekommen, war rechtzeitig vor den Nazis geflüchtet, ist Mitbegründer der Jewish Agency, Präsident des World Jewish Congress und maßgeblich am Wiedergutmachungsabkommen zwischen Israel, der Jewish Claims Conference und der Bundesrepublik 1952 beteiligt gewesen. Beitz hat ihn bei dessen Deutschlandvisiten mehrfach zum Abendessengetroffen, gelegentlich sogar im Skiurlaub. »Nahum Goldmann«, so Beitz, »war ein sympathischer Mann, und er hatte das Gespür für die Situation in Deutschland. Wir hatten ein gutes Verhältnis.«
Beitz umgeht die Frage, ob und inwieweit die Entschädigung durch Krupp die deutsche Industrie unter Zugzwang setzt oder ob sich Ansprüche nun gegen den deutschen Staat oder die Unternehmen selbst richten, indem er die Verantwortung von Krupp rein moralisch definiert. Alleininhaber Alfried Krupp, so heißt es in der Firmenzeitschrift, habe sich »zu diesem Abkommen entschlossen, um persönlich dazu beizutragen, die durch den Krieg geschlagenen Wunden vernarben zu lassen«. Für ihn bedeutet das Abkommen nach eigener Aussage »keine Anerkennung einer Rechtsverbindlichkeit«. Im Gegenzug wird Krupp von weiteren Ansprüchen freigestellt. Beitz geht zunächst von sechs Millionen Mark aus, lässt aber einen Spielraum bis zehn Millionen zu. Einen Tag vor Weihnachten 1959 unterzeichnen die Jewish Claims Conference und Krupp ein Entschädigungsabkommen.
Es entbehrt nicht der Tragik, dass dieses Abkommen nicht die Anerkennung erfahren wird, die es angesichts der Zeitumstände verdient hätte. Zum ersten Mal leistet ein deutsches Unternehmen, noch dazu der nach wie vor argwöhnisch betrachtete Krupp-Konzern, von sich aus Zahlungen. Wichtiger noch als die 1959 nicht unbeträchtliche Summe von zehn Millionen Mark ist das moralische Schuldeingeständnis, welches das Abkommen darstellt und das die überwältigende Mehrheit der Unternehmer, die vor 1945 Zwangsarbeiter beschäftigten, hartherzig und rundweg ablehnt. Ohne Beitz hätte wohl auch Krupp zu den Verweigerern gehört: Bei einer Besprechung mehrerer Bundesministerien, des Kanzleramts und des BDI im Mai 1953 hatte ein Krupp-Vertreter ausgeführt, »daß die gesamte Industrie nur Werkzeug des Staates gewesen ist«, man folglich unschuldig sei und nicht zahlen müsse.
Es ist dies die Zeit, in der das Interesse an der Strafverfolgung von Naziverbrechern spürbar nachlässt. Es ist die Zeit der Vergesslichkeit, der Verdrängung, der »Unfähigkeit zu trauern«, wie sie das Psychologenpaar Mitscherlich vielen Deutschen diagnostiziert. Es sind die Jahre, in der weite Teile der deutschen Gesellschaft, keineswegs nur die Industrie, ihre Verstrickung in das Naziregime damit rechtfertigen, man sei gezwungen worden oder habe doch nur »seine Pflicht getan«. Zudem wird die Zwangsarbeit selbst von Wohlmeinenden eher als Bagatelle missverstanden, verglichen mit Massenmord und Genozid, den Schlachten des Krieges und den Bombennächten. Dass Gefangene arbeiten müssen, habe es immer gegeben, heißt es. Nicht zuletzt hat das mangelnde Mitgefühl gewiss auch mit massiver Verdrängung zu tun. Millionen Deutsche haben die Sklavenarbeiter mit eigenen Augen gesehen: in den Lagern wie der Humboldtstraße, im Betrieb, auf der Straße. Hier kann niemand behaupten, er habe davon nichts gewusst. Umso weniger möchte man nun daran erinnert werden.
Langfristig hat das Abkommen Krupp aus den negativen Schlagzeilen der angelsächsischen Presse genommen und damit ein strategisches Ziel weitgehend erreicht. Auf beiden beteiligten Seiten aber bleiben Vorbehalte, Vorwürfe, ein bitterer Nachgeschmack. Als die alliierten Richter 1948 das Urteil gegen Alfried Krupp und seine Direktoren fällten, glaubten sie, die ungarischen Jüdinnen, die im Essener Walzwerk Zwangsarbeiterinnen gewesen waren, seien alle ums Leben gekommen. »Sie wurden«, heißt es darin, »unter Aufsicht der SS Richtung Osten gefahren. Mit Ausnahme einiger weniger, die kurz zuvor ausgerissen sind, wurde nichts mehr über das Schicksal der ungarischen Jüdinnen von Krupp bekannt.« Ausgerechnet dieser Punkt erweist sich als zumindest teilweise falsch, als die Anträge auf Entschädigung schließlich bei Krupp eingehen. Unter den Absendern sind fast 400 Jüdinnen aus Ungarn, die man für tot gehalten hat. Beitz hat durchaus Mühe, den erzürnten Alfried Krupp zu beruhigen: »Ich habe ihm gesagt, Herr von Bohlen, wir bleiben trotzdem bei unserer Linie.« Krupp hält den Vertrag tatsächlich ein, und doch ist ein Missklang hineingekommen, der das Abkommen und damit Beitz’ Versöhnungswerk noch lange überschatten wird. Entsprechend kühl schreibt Beitz an die Jewish Claims Conference:
Ihrem Bericht über den bisherigen Verlauf des Anmeldeverfahrens haben wir unter anderem entnommen, daß sich unter den Anspruchstellern annähernd 400 Ungarinnen befinden, von denen im Nürnberger Urteil angeführt ist, daß sie durch Krupp der Vernichtung preisgegeben worden seien. Diese Unrichtigkeit hat zusammen mit anderen Verzerrungen sicherlich mit zu der hohen Haftstrafe, zu der Herr von Bohlen verurteilt wurde und die er zum erheblichen Teil abgebüßt hat, beigetragen. Hierfür gibt es keine Wiedergutmachung, auch nicht einmal eine moralische in der Weltöffentlichkeit. Sie werden verstehen, daß diese Erkenntnis in unserem Hause mit Bitterkeit empfunden wird.
Der moralische Vorwurf, den er an die JCC richtet, trifft freilich kaum den richtigen Adressaten. Geirrt haben die Nürnberger Richter, nicht die jüdischen Vertreter, die Ansprüche tatsächlicher Opfer vorbringen. Und die Firma Krupp hatte 1945 ihrerseits nichts dafür getan, die jüdischen Frauen vor dem Abmarsch in das Konzentrationslager Buchenwald und damit in den sicher geglaubten Tod zu bewahren. Das Direktorium stimmte dem Transport durch die SS, die keine KZ-Häftlinge lebend in die Hände der Befreier fallen lassen wollte, ausdrücklich zu, während britische und amerikanische Truppen sich bereits Essen näherten. Das Überleben vieler Ungarinnen, die der Lagerkommandant von Buchenwald nicht mehr aufnehmen wollte, war schiere Glückssache.
Die erwähnte Verbitterung – auf beiden Seiten – wird zu einem langen und fruchtlosen Nachspiel führen. Eigentlich hat Krupp 5000 Mark für jeden der jüdischen KZ-Häftlinge in seinen Zwangsdiensten zahlen wollen. Doch obwohl Beitz die Gesamtsumme von sechs auf zehn Millionen aufgestockt hat, sinkt der Anteil für jeden Einzelnen auf etwas über 3000 Mark. Selbst Versuche Nahum Goldmanns, über Beitz eine Nachzahlung zu erreichen, bleiben ohne Erfolg. Goldmann berichtet Katzenstein nach einem Treffen mit Beitz in Bonn, dass dieser persönlich dazu bereit gewesen sei. Alfried Krupp aber will nicht mehr zahlen als die zehn Millionen, auf die ihn sein Generalbevollmächtigter bereits hochgehandelt hat. Außerdem stößt Beitz’ Bereitschaft, die jüdischen Ansprüche zu unterstützen, hier an eine Grenze, die er nicht überschreiten will: die Treue und Loyalität gegenüber dem Firmeninhaber.
Beide Seiten, Alfried Krupp und Beitz’ jüdische Gesprächspartner, fühlen sich unverstanden. Krupp hat sich zu einer Geste gegenüber den Opfern durchgerungen, die unter anderen deutschen Industriellen, milde gesagt, auf sehr geringes Verständnis stößt. Trotzdem erntet er nicht den Dank, den er erwartet, und nicht den Erfolg, auf den er gehofft hat. Er wird kein Einreisevisum in die USA erhalten, der Entschädigungsvertrag von 1959 hat dort eine durchwachsene Presse, und in London schreibt der Sunday Dispatch, das Abkommen sei »die geizigste, kleinlichste und lächerlichste Gabe in der jüngsten Geschichte«. Die JCC und Opferverbände schließlich versuchen weiterhin, über die Verkaufsauflage die Firma Krupp zu weiteren Zugeständnissen zu zwingen.
Alfried Krupp glaubt also, einen großen Schritt getan zu haben; die JCC und ihre Unterhändler hingegen betrachten dies als das Mindeste, was man erwarten kann. Krupp hat in einem Denkprozess, der für ihn persönlich nicht leicht gewesen sein mag, gehofft, mit seiner Vergangenheit endlich abschließen zu können; für die Überlebenden und ihre Vertreter aber, deren seelische Schmerzen gewiss nicht geringer sind, ist das Abkommen allenfalls ein Anfang. Krupp sieht Undank am Werk, die Gegenseite Kleinmut und Geiz. Die Kluft ist einfach noch zu groß. Das alles muss bitter sein für Berthold Beitz, der sein Bestes versucht hat. Doch hier ist, zumindest aus Sicht vieler Beteiligter, sein Bestes nicht gut genug. Dabei ist gerade er, aus dem Abstand eines halben Jahrhunderts betrachtet, auf deutscher Seite der Wegbereiter der Zwangsarbeiterentschädigung gewesen.
Zum Vergleich: Friedrich Flick, den SS-Führer Heinrich Himmler persönlich durch Dachau geführt und dessen Großkonzern enorm von Arbeitssklaven profitiert hatte, hat sich zeitlebens ungerührt geweigert, auch nur einen Pfennig zu zahlen. Noch mehr als vier Jahrzehnte nach Beitz’ Vereinbarung mit Nahum Goldmann werden sich andere Unternehmen rigoros verweigern.
Rose Szego, die ungarische Jüdin, die in Auschwitz ihre Kinder verloren und im letzten Kriegswinter im Essener Walzwerk gearbeitet hat, erhält von Krupp nach dem Abkommen von 1959 etwa 3300 Mark.