»Das bauen wir alleine«: Förderer und Geehrter
Es ist einer jener offiziellen Anlässe, bei denen viele Menschen zusammenkommen und gelassen tun, obwohl jeder für sich denkt: Hoffentlich geht alles gut. Nicht anders ist es an diesem Vormittag, als Essens Oberbürgermeister Reinhard Paß, sein Vorgänger Wolfgang Reiniger, Museumsdirektor Hartwig Fischer, seine Vertreterin Ute Eskildsen, Architekt David Chipperfield und sein Design-Direktor Alexander Schwarz sowie viele andere in der großen Eingangshalle des Museums Folkwang stehen und der Small Talk noch ein wenig angespannt wirkt. Das Museum ist bereit zur Vorbesichtigung, noch ohne Bilder, die Sonne durchstrahlt die hellen Räume, als leuchte das Haus von innen heraus. Da tritt von draußen ein alter Herr hinzu. Er ist am besten angezogen – er trägt einen handgenähten Nadelstreifenanzug mit rosafarbenem Brusttuch –, charmant zu den begleitenden Damen, heiter und locker: Berthold Beitz. Er ist jetzt 96 Jahre alt und hat noch immer die Gabe, Verkrampfungen und Peinlichkeiten wie durch einen Zauberspruch aus jeder Runde verschwinden zu lassen.
Parlierend geht Beitz nun mit der Gruppe durch die Räume, erzählt hier von seinem Freund Otto Steinert, dessen Fotos hier ausgestellt sind, klopft dort jemandem freundlich auf die Schulter und nimmt schließlich Platz auf einer Sitzbank, einem sorgsam inszenierten Ruhepunkt, von dem aus freilich weniger hohe Kunst als vielmehr der tosende Verkehr draußen auf der vielspurigen Goethestraße zu erblicken ist. Beitz lacht: »Das hier ist der Sitz für alle, die noch nie ein Auto gesehen haben.«
Der Bau des neuen Folkwang-Museums ist die Krönung von Beitz’ Werk als Herr der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, nie zuvor hat sie für ein einzelnes Projekt so viel Geld ausgegeben: 55 Millionen Euro. Zuvor hat es, wie bei solchen Bauvorhaben üblich, ein zähes und jahrelanges Hin und Her zwischen Bund, Land und Stadt über die Zukunft des Museums gegeben – bis an einem Sommertag 2006 in Kampen die Entscheidung fiel. Berthold Beitz, 92 Jahre alt, geht morgens am Strand spazieren. Er ist in Gedanken, als er in sein Haus zurückkehrt. Im Garten sitzen Else Beitz und Tochter Susanne mit ihrem Mann. Und zu ihnen sagt er: »Wisst ihr was, ich habe mich entschlossen: Das bauen wir alleine.« Die Rede ist vom neuen Folkwang-Museum in Essen, das den maroden Vorgängerbau ersetzen soll. Kaum ist Beitz wieder daheim in Essen, ruft er sämtliche Kuratoren an: »Ruckzuck haben sie alle ja gesagt, und die Entscheidung stand.«
Und so klingelt zwei Tage später Hartwig Fischers Handy, und zwar in London, wo der neue Direktor des Folkwang-Museums gerade weilt. Beitz ist am Apparat: »Herr Fischer, kommen Sie bitte morgen in mein Büro, es könnte Sie interessieren.« Der neue Direktor des Folkwang-Museums fragt nicht lang, er fliegt heim. Anderntags eröffnet ihm Beitz in seinem Büro: »Ich wollte Ihnen sagen, dass das Kuratorium der Krupp-Stiftung sich entschlossen hat, den Neubau des Museums zu finanzieren. Wollen Sie mich jetzt zur Pressekonferenz begleiten?«
Direktor Fischer ist ein Mann von leiser Ironie, weshalb er dann, im Januar 2010, bei der Eröffnungsfeier des Museums Folkwang, in seiner Ansprache sagt, Beitz sei kein fordernder Geldgeber, sehe man von nur vier Bedingungen ab: Ein großer Architekt müsse gefunden werden, der Bau müsse spätestens 2010 fertig sein und mindestens 100 Jahre Bestand haben; und die Stadt Essen habe sich darum zu kümmern. Aber in Wirklichkeit ist, wie er sagt, »ein Traum wahr geworden, an den wir nicht zu glauben gewagt haben«. Essen ist ja, gleichsam in Vertretung des gesamten Ruhrgebiets, Kulturhauptstadt Europas 2010. Die Stadt könnte sich kein schöneres Geschenk wünschen. Das Museum geht zurück auf die 1902 gegründete Sammlung moderner Kunst von Karl Ernst Osthaus. Mit seinen Sammlungen etwa der klassischen Moderne, der Fotografie und Malerei nach 1945, mit Schätzen von Paul Cézanne, Franz Marc und Paul Gauguin sowie den tiefgründigen Fotografien Otto Steinerts gehört es zu den bedeutendsten Kunstmuseen Deutschlands. 2006 aber ist der große Anbau, obwohl erst 1983 errichtet, marode, eine Teilschließung steht bevor, und damit droht ein Desaster für das Kulturhauptstadts-Jahr.
Im Grunde hat sich auch Beitz einen alten Traum erfüllt, jenen, der 1963 mit dem Mies van der Rohe-Projekt gescheitert ist, nämlich in Essen ein helles, lichtes Werk moderner Baukunst zu schaffen: »Das ist auch ein Dankeschön an die Essener Bevölkerung. Essen hat durch Krupp ja auch vieles erlitten.« 1963 gelang das mit Mies van der Rohe nicht; von 2007 an baut nun der britische Stararchitekt David Chipperfield, Beitz’ Wunschkandidat, das Museum. »A fine old gentleman« sei Beitz, sagt Chipperfield, und er habe ihn und sein Team »in Ruhe arbeiten lassen. Aber ein solches finanzielles Engagement eines Stifters ist wirklich einmalig.« So entsteht ein Haus, in dem »Licht und Offenheit, aber auch Konzentration dominieren.« Beitz sagt, als er den Entwurf sieht, zu dem Briten, er betrachte ihn wie einen Sohn Mies van der Rohes.
An einem schönen Spätherbsttag 2009 ist es so weit. Chipperfields Leute haben den Termin und, nicht minder zur Freude des Stifters, den Kostenrahmen von 55 Millionen Euro eingehalten.
Es steht keine Beitz-Büste im Museum, nur eine zurückhaltende Inschrift in der Eingangshalle. Er ist auch nicht Ehrenmitglied des Museumsvereins geworden: »Das Museum ist kein Denkmal für mich, sondern für Krupp. Das ist ganz im Sinne von Alfried Krupp.« Als Stiftungschef fühlt sich Beitz direkt in der Tradition des Hauses Krupp. Alfred Krupp war es, der 1873 betont hatte: »Der Zweck der Arbeit soll das Gemeinwohl sein.« Das stammt natürlich aus einer fernen Zeit, als der vorausschauende Industrielle versuchte, die Arbeiterklasse durch soziale Leistungen von aufrührerischen Bestrebungen abzuhalten. Reichskanzler Otto von Bismarck hat es mit seiner Sozialpolitik bald danach nicht anders gemacht. Krupp war ein strenger Patriarch, der im Gegenzug Ergebenheit erwartete. Gleichwohl war es ein gewaltiger Fortschritt. Alfred Krupps soziale Seite trug sehr zu dem ausgeprägten Selbstwertgefühl der »Kruppianer« bei. Noch heute zeugt die Mustersiedlung Margarethenhöhe davon, eine freundliche Gartenstadt, durch die 1912 sogar Kaiser Wilhelm II. anerkennend nickend und in Pickelhaube geschritten ist. Die Häuser haben den Bombenkrieg und später die Abrisswut der siebziger Jahre überstanden.
1967, als die Stiftungsidee Gestalt annimmt, lebt der letzte Krupp noch. Es mag wie ein Klischee klingen, doch für ihn war es keines: Er betrachtete die Belegschaft des Unternehmens als große Familie. Und Mitglieder der eigenen Familie verstößt ein anständiger Mann nicht, wenn ihnen etwas misslingt. Der Krupp-Arbeiter der frühen sechziger Jahre kann noch in einer der schönen alten Werkswohnungen leben, in der Krupp’schen Konsumanstalt einkaufen, zum Werksarzt gehen oder in schlimmeren Fällen in die Kruppschen Krankenanstalten, und soziale Vergünstigungen aller Art genießen. Das ist die Welt, mit der Alfried Krupp groß geworden ist. Deshalb weigert er sich trotz Beitz’ gelegentlicher Mahnungen, unrentable Betriebsteile zu schließen oder sich gar von der Schwerindustrie zu verabschieden. Die Stiftung, Alfried Krupps letzter Wille, ist nur die logische Konsequenz seiner sozialen Überzeugungen – und sie ist damals, als es noch nicht wie vierzig Jahre später ein verbreitetes Stiftungswesen gibt, eine ausgesprochen innovative Einrichtung.
Als Alfried Krupp 1967 dann überraschend stirbt, tritt Berthold Beitz in einer Doppelfunktion sein Erbe an. Als Vorsitzender des Stiftungs-Kuratoriums vertritt er zum einen den Alleineigentümer des Konzerns Krupp, und das quasi auf Lebenszeit. Nach der Iran-Beteiligung 1976 und den Fusionen mit Hoesch 1992 sowie Thyssen 1999 ist die Stiftung noch immer der größte und gewichtigste Aktionär des Konzerns. An ihr führt kein Weg vorbei – und damit auch nicht an Berthold Beitz.
Zum anderen ist er einer der bedeutendsten Mäzene des Landes geworden. Laut Satzung fördert die Stiftung »Wissenschaft in Forschung und Lehre; Erziehungs- und Bildungswesen; Gesundheitswesen; Sport; Literatur, Musik und bildende Kunst«. Bis 2010 hat sie dafür die stolze Summe von 600 Millionen Euro ausgegeben, davon 56 Prozent im Ruhrgebiet, der Heimat des Stifters. Das größte Einzelprojekt ist das Museum Folkwang in Essen mit seinen 55 Millionen Euro, und, nebenbei bemerkt, weiteren 200 000 Euro für die Kosten der Eröffnungsfeier, welche die klamme Stadt Essen nicht übernehmen mochte. »Manchmal«, sagt Beitz dazu, »muss man sich schon über die Leute wundern. Ich habe dann gesagt: Schluss der Debatte, das übernehmen wir.«
Beitz führt die Stiftung seit 1968. Seine Residenz ist das schöne frühere Gästehaus der Villa Hügel. Gewiss, es gibt ein Kuratorium, regelmäßige Vergabesitzungen und satzungsgemäße Beschlüsse, das hat alles seine Ordnung. In diesem Kuratorium saßen stets Menschen von Prominenz und erheblichen Verdiensten, zum Beispiel Max Grundig, der damalige nordrhein-westfälische Regierungschef Johannes Rau, sein Vorgänger Heinz Kühn und Alfred Herrhausen. Als zweiter Vorsitzender amtierte lange Jahre und bis zu seinem Tod 2008 Beitz’ guter Freund Hans Leussink. Im Jahr 2010 hat Gerhard Cromme diese Funktion inne, bekannte Namen unter den Kuratoren sind außerdem Nordrhein-Westfalens Exministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) und der früheren Präsident der Deutschen Bundesbank, Karl-Otto Pöhl, sowie Ekkehard Schulz. Allesamt keine Menschen von geringem Selbstbewusstsein. Und trotzdem: Beitz, Chef seit 1968, ist die alles beherrschende Kraft, kein Cent wird ausgegeben, den er nicht persönlich bewilligt hat. Selten gibt es Widerworte im Kuratorium, einem Kreis von Männern, die immerhin Regierungschefs oder Unternehmenslenker waren oder sind. Als einer in den neunziger Jahren dennoch mal eine Kontroverse mit Beitz wagt und ausruft, »man wird ja wohl noch mal fragen dürfen«, sagt Kurator Johannes Rau mit dem für ihn so typischen trockenen Humor: »Jetzt gehen Sie aber sehr weit.«
Dabei sind die Anfänge 1968 bescheiden. Sanierer Vogelsang als Krupp-Vorstandschef zeigt wenig Neigung, die Stiftung üppig auszustatten; der »Bindungsvertrag« sorgt dafür, dass zunächst nur zwei Millionen Mark im Jahr auf den Hügel kommen. Nach Vogelsangs Demission ändert sich das bald, und seither ist die jährliche Dividende zwar immer mal wieder Objekt von Debatten. Sie bleibt aber selbst 2009 bestehen, als ThyssenKrupps bis dahin so erfreuliche Bilanz jäh in den Strudel der globalen Finanzkrise gerät. Die Dividende fällt geringer aus, aber sie wird weiterhin gezahlt, daran mag selbst Cromme nicht rühren; und selbst, wenn er wollte: Beitz würde ihn auch nicht daran rühren lassen. Cromme und Vorstandschef Schulz wissen, was sie an der Stiftung haben: eine Lebensversicherung für ThyssenKrupp. »Deshalb muss das Unternehmen den Hauptaktionär pflegen«, sagt Cromme. Die Stiftung hat ja auch schon das Unternehmen gepflegt, durch den Ankauf jener Anteile, die ihr die Sperrminorität sichern.
Außerdem ist die Krupp-Stiftung eine der bundesweit größten privaten Fördereinrichtungen für gemeinnützige Zwecke geworden. 15,3 Millionen Euro gibt sie 1998 allein für ein eigenes Programm gegen die Jugendarbeitslosigkeit aus. Neben den großen Fördervorhaben im In- und Ausland vergibt das Haus zahlreiche Stipendien, etwa zum Studium in Osteuropa oder China. Dies verwalten zu dürfen, erzählt der langjährige Stiftungsvize Marheineke, »sei sehr beglückend«. Einmal fragt ihn Beitz, als sie in dessen Büro sitzen: »Vorhin habe ich einen gesehen, der sprang und hüpfte auf der Wiese herum.« Marheineke kann ihn aufklären: »Das war der Tänzer, von dem Sie sagten: Wenn er gut ist, bewilligen Sie sein Stipendium für die New York School of Dancing.«
Zu den eindrucksvollsten Projekten der Stiftung zählt das 1980 neueröffnete Alfried-Krupp-Krankenhaus in Essen, das in Klinik-Rankings stets Topwerte erhält. Bereits 1870 an mehreren Standorten gegründet, war die alte Anstalt in der Lazarettstraße 1945 ausgebombt worden, Beitz selbst hat die Trümmer in den fünfziger Jahren noch gesehen. »Das neue Krankenhaus liegt mir besonders am Herzen«, sagt Beitz heute, »es verkörpert sichtbar die sozialen Überzeugungen von Alfried Krupp.« Der nämlich hat schon 1963 einen Klinik-Neubau geplant. »Leider hat er«, so Beitz, »die Verwirklichung seiner Ideen nicht mehr erleben können.«
Die Anstalt war vor 1980 ein weitläufiger Komplex aus verspielten kaiserzeitlichen Bauten mit Erkern, Türmchen und Fachwerk. Wenigstens die schönsten davon sind erhalten geblieben, nun überragt vom Komplex der neuen Klinik, deren helles und lichtes Interieur davon zeugt, worauf der Bauherr Wert legt. Der Kardiologe und frühere Oberarzt Matthias Benn hat über Jahre erfahren, wie intensiv der Stiftungsvorsitzende die Arbeit der Klinik verfolgt hat: »Die letzten Entscheidungen fällt immer er – bis in die Details.« Auch Horst Dieter Marheineke als Vize in der Stiftung sah nicht selten, dass Beitz in der Klinik auf ein Gerät zeigte und fragte: »Ist das wirklich das beste?« War es nicht so, habe er »noch am selben Tag den Kauf eines neuen beschlossen«.
Aus Marheinekes Sicht ist »Berthold Beitz im besten Sinne neugierig, das unterscheidet ihn von den meisten Menschen seines Alters.« So trifft Beitz einmal im Krupp-Krankenhaus auf einen jungen Mediziner, dem die Stiftung ein China-Stipendium bewilligt hat. »Was haben Sie denn dort gelernt?«, fragt Beitz. Manches, unter anderem Akupunktur, sagt der Student. »Ja, und können Sie das jetzt?« – »Ja, ich habe sogar ein Nadelbesteck aus China mitgebracht, soll ich Ihnen das einmal zeigen?« Er soll, und der Stifter entschließt sich spontan zu einem Selbstversuch: »Können Sie das auch bei mir machen?« So lässt sich Berthold Beitz nach allen Regeln fernöstlicher Heilkunst pieksen, zum Gaudium und Staunen des Klinikpersonals.
Vielleicht lässt sich am Beispiel der Klinik der Führungsstil von Berthold Beitz am anschaulichsten beschreiben: eine Mischung aus Lockerheit und Strenge, Großzügigkeit und sehr hohen Erwartungen an die Mitarbeiter. Dazu gehört, dass er sich selbst über medizinische Entwicklungen exakt informiert und seine Chefärzte damit konfrontiert, wenn andere Kliniken voraus sind. »Warum sind die besser als wir?«, fragt er dann. Ausreden oder Erklärungen, die er als solche empfindet, werden nicht geduldet. Ebenso wenig bröckelnder Putz auf den Gängen oder Jungärzte, die grußlos am Besucher vorbeischlurfen und das Pech haben, dass Berthold Beitz dieser Besucher ist. Als er einmal in den Wartebereich kommt und diesen zu seinem Verdruss verwaist vorfindet, klatscht er laut in die Hände und ruft: »Kundschaft!« Mit »väterlicher Strenge und fürsorglicher Förderung« fühlt sich das leitende Personal nach eigenem Bekunden geführt. Benn: »Etwas zugespitzt könnte man seine Devise so umschreiben: Vertrauen ist gut, aber Kontrolle ist viel, viel besser.«
Vom Klinikleiter bis zum Oberarzt müssen sich Bewerber bei ihm vorstellen. Bei seinen Besuchen interessiert er sich auch für die Belange der einfachen Mitarbeiter und nimmt sich Zeit für sie. Das Ergebnis ist eines der besten Krankenhäuser des Landes, das, so Beitz, gleichwohl keine »Genesungsmaschine« sein dürfe: »Bei aller hervorragenden Technik bleibt der Patient der Mittelpunkt.«
Ein weiterer Förderschwerpunkt sind die neuen Bundesländer. In Ostdeutschland ist die Stiftung schon vor 1989 aktiv gewesen, etwa bei der Sanierung des Greifswalder Doms. Anfangs hat Beitz sogar gezögert, Mecklenburg-Vorpommern und damit die eigene Heimatregion so stark zu unterstützen. Aber teils lässt er sich überzeugen – etwa von Marheineke, der es für effizienter hält, die Hilfe regional zu konzentrieren; teils entsteht, gerade in Greifswald, aus ebendiesem Grund und aus den ersten Erfolgen eine Sogwirkung. Ursprünglich stammt die Idee, das marode Gesundheitswesen in der DDR sanieren zu helfen, nach Marheinekes Erinnerung an eine Kuratoriumssitzung gleich nach dem Fall der Mauer von Johannes Rau. Noch im November 1989 stellt die Stiftung ein Soforthilfeprogramm über drei Millionen D-Mark für die DDR-Krankenhäuser auf, aber das ist erst der Anfang. Die Mediziner des Essener Krupp-Krankenhauses besichtigen zahlreiche Häuser in Ostdeutschland, um schnell und direkt helfen zu können. So erhält die Augenklinik des Kreiskrankenhauses Neubrandenburg ohne weitere Bürokratie ein Lasergerät, »wie wir es uns immer gewünscht haben … Bei sehr vielen Patienten«, so die Klinik in einem Dankesschreiben, »konnten wir bisher nur die Netzhauterkrankungen feststellen, ohne sie vor der Erblindung schützen zu können. Jetzt ist mit Ihrer Großzügigkeit in vielen Fällen Hilfe möglich. Diese Hilfe ist es, die den Arztberuf so einmalig macht.«
Anfang 1990 erscheint dann der Gesundheitsminister der DDR, Klaus Thielmann (SED), samt seinem Staatssekretär in Essen. Wie sich Marheineke erinnert, überraschen die beiden Beitz mit dem Vorschlag, das Stiftungsgeld über ihr Ministerium zu leiten, das sich dann um alles weitere kümmern werde. Beitz aber lacht und sagt: »Vielen Dank, aber das können wir selbst erledigen, und Herr Marheineke wird hinfahren und sich um alles kümmern.«
So ist es. In der Greifswalder Klinik findet der Vize »desolate Zustände«, aber auch einen »runden Tisch« voll junger Reformer vor, welche die Stifter warnen, das Geld nicht über die SED fließen zu lassen. Beitz schickt zur Soforthilfe auch einen jungen Assistenzarzt zur Gynäkologie ins Kreiskrankenhaus nach Demmin, der ein gut ausgebildetes und motiviertes Team antrifft, aber eben auch haarsträubende Zustände: »Die Zimmer sind eng, baulich marode, die Patientinnen machen jedoch einen zufriedenen Eindruck. Dann der Kreißsaal: Auch hier Enge, das Vakuumgerät alt, Klagen der Hebammen über marode Schläuche, nur eine Saugglocke. Am dürftigsten die Neugeborenen-Reanimation.«
Heute ist all das Vergangenheit. Für Berthold Beitz sind Zemmin, Demmin, Greifswald, die Stätten seiner Jugend, Heimat geblieben, vielleicht mehr, als es die große Stadt Essen auch nach Jahrzehnten noch ist. Kurz vor der Wende, im Januar 1989, schreibt er an Rudolf Böhme, den Studienrat und Dorfchronisten von Zemmin: »Je älter man wird, desto mehr denkt man an seine Heimat.« 2003, anlässlich der Feier seines 90. Geburtstags, bittet Beitz seine Gäste, statt ihm persönlich etwas zu schenken, um eine Spende für die arg verfallene Dorfkirche; zwei Jahre später ist er sichtbar gerührt zugegen, als sie neu eingeweiht wird. Und im Sommer 2009 wird dort eine neue Glocke aufgehängt, ein Geschenk der Kinder und Enkel zum 95. Geburtstag. Die kleine Dorfkirche, ein schöner, kompakter Feldsteinbau aus dem 15. Jahrhundert, in der Beitz als Kind manchmal barfuß ging, ist nun wieder in dem würdigen Zustand, in dem sie damals war.
Zu den offiziellen Förderinitiativen in den neuen Bundesländern gehören nun – eine kleine Auswahl – Stiftungsprofessuren in Erfurt, die Sanierung des Kleist-Museums in Frankfurt/Oder und des großen Leibniz-Saals der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, eine Million Euro für die bei der Elbflut von 2002 schwer mitgenommene Dresdner Semper-Oper sowie der Kinderzirkus »Cabuwazi« in den sozial schwierigen Stadtbezirken des Berliner Ostens. Um all diese Dinge kümmert sich Beitz persönlich. Das beste Stück der Förderung ist aber gewiss das Alfried Krupp Wissenschaftskolleg in Greifswald, Teil einer umfassenden Unterstützung der Universität, die es ohne die Stiftung wohl nicht mehr geben würde. Das helle, moderne Kolleg steht gleich hinter dem Dom, dort, wo die SED einst zur Demütigung der Kirche eine übelriechende Großwursterei hingestellt hat. Teil des Wissenschaftsensembles ist die schön restaurierte »Alte Apotheke«, eines der ältesten Fachwerkhäuser Mecklenburg-Vorpommerns, das wie so viele Baudenkmäler in Greifswald vor 1989 ein Fall für die Abrissbirne sein sollte. Kein Wunder, dass die Stadt Greifswald ihrem Ehrenbürger inzwischen den »Berthold-Beitz-Platz« gewidmet hat.
Zu den inzwischen renommiertesten Nachwuchspreisen der deutschen Universitätslandschaft gehört der Alfried Krupp-Förderpreis für junge Hochschullehrer, dotiert mit Forschungsmitteln in Höhe von einer Million Euro. 2009 erhielt ihn die 32-jährige Kölner Mathematikprofessorin Kathrin Bringmann für die Lösung von Grundsatzproblemen der Zahlentheorie. 2010 war es Jana Zaumseil, Professorin für Nanotechnologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Auch wenn die Verleihung vor 160 Gästen in der Villa Hügel gefeiert wurde: Beitz achtet bei solchen Anlässen sorgfältig darauf, dass er nicht als Stifter geehrt und genannt wird, sondern Alfried Krupp, dessen Erbe er verwaltet. Aber bei aller ostentativen Bescheidenheit – Freude hat er doch an der Verehrung, die ihm, dem einst viel Gescholtenen, nun im hohen Alter erwiesen wird. Auch in Essen gibt es, gleich bei der neuen, im Juni 2010 bezogenen Konzernzentrale von ThyssenKrupp, seit 2009 einen »Berthold-Beitz-Boulevard« – eine der jüngeren Ehrungen und Auszeichnungen, die Beitz im Laufe seines langen Lebens zuteil wurden. Dieses Leben ist ein Musterfall der späten Anerkennung, der Anerkennung für Boryslaw, für die Versöhnung mit den Völkern Osteuropas, für soziales Engagement, für einen menschlichen Kapitalismus. Der Wandel in der Wahrnehmung seiner Person hat sich fast unmerklich vollzogen. Aus dem mächtigen, umstrittenen Industriellen ist im Alter eine moralische Instanz geworden, Ehrenbürger Essens (2007), Kiels (2003) und Greifswald (1995), schon 1988 hat ihm das Land Nordrhein-Westfalen den Professorentitel verliehen. Er ist Ehrensenator der Greifswalder Universität (1991), Ehrendoktor der Jagiellonen-Universität Krakau (1993) und der Ruhr-Universität Bochum (1999). Der Geschichts-Dekan der Letzteren, Eberhard Isenmann, fühlt sich, schaut er auf Beitz’ Verdienste um die Aussöhnung mit Osteuropa mitten im Kalten Krieg, an Hugo von St. Victor erinnert, der im 12. Jahrhundert den »wagemutigen Kaufmann« beschrieb: »Er dringt in die Geheimnisse der Erde ein. Er bereist nie gesehene Küsten, durchschreitet raue Wüsten und pflegt mit barbarischen Stämmen in unbekannten Sprachen freundlichen Handelsverkehr. Sein Eifer einigt Völker, dämpft Kriege und festigt den Frieden.«
In diesem Sinne hat Berthold Beitz auch 1973 das Große Verdienstkreuz mit Stern erhalten und aus der Hand seines Freundes Johannes Rau sechs Jahre später das Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband. Sein Träger, so Rau, habe »die erste große Brücke zum Osten gebaut«. Schon 1974 hat Beitz deshalb als erster Deutscher einen der höchsten polnischen Orden erhalten, das Kommandorium mit Stern des Verdienstordens der Volksrepublik Polen; 1987 zeichnet ihn die Jagiellonen-Universität Krakau mit der Ehrenmedaille aus und 1993 mit der Würde des Doktors honoris causa. 2003 kehrt er nach Breslau zurück, wo er vor langer Zeit so knapp der Gestapo entgangen ist: Die Universität Wroclaw zeichnet ihn mit der Goldmedaille aus.
An den Auszeichnungen für den Retter von Boryslaw lässt sich der Wandel im Umgang der bundesdeutschen Gesellschaft mit den langen Schatten der Vergangenheit ablesen. In den fünfziger Jahren wurde das Thema des Holocaust verdruckst verschwiegen; eine Auszeichnung für Beitz hätte zu vielen Menschen den Spiegel der eigenen Schuld oder Untätigkeit vorgehalten. Erst seit den achtziger Jahren wandelt sich das Bild. Es leben nicht mehr viele Menschen, die Krieg und Judenverfolgung als Erwachsene erlebt haben; die Ära jener endet, die noch berichten können, wie es gewesen ist. So erfährt Beitz als alter Mann jene Gerechtigkeit, die er schon viel früher verdient gehabt hätte.
Es ist im Grunde die jüdische Seite, die überhaupt darauf aufmerksam macht und ihn 1973 zum »Gerechten unter den Völkern« ernennt. 1984, nach den Olympischen Spielen von Los Angeles, wird er in die »Scroll of Honour« des jüdischen Volkes aufgenommen. Im Jahr 2000 erhält er den Leo-Baeck-Preis, die höchste Auszeichnung der jüdischen Gemeinden in Deutschland, zwei Jahre später den Preis für Verständigung und Toleranz des Jüdischen Museums in Berlin.
Ausgerechnet der Leo-Baeck-Preis wird fünf Jahre später zum Anlass eines Eklats, der deutlich zeigt, wie schmerzhaft und traumatisch die Erlebnisse von Boryslaw auch sechzig Jahre danach für Beitz sind. 2004 erhält die CDU-Politikerin und spätere Bundeskanzlerin Angela Merkel den Leo-Baeck-Preis, die Laudatio hält der Liedermacher Wolf Biermann, der Beitz die Preiswürdigkeit abspricht: »Zudem fand ich in der Liste der Leo-Baeck-Preisträger den Namen des Generalbevollmächtigten des Krupp-Konzerns, Berthold Beitz, der im Nazi-Krieg – in der Manier von Oskar Schindlers Liste – ›seine‹ Juden schützte. Als Beitz in den eroberten Ölfeldern der Beskiden wirkte und in Galizien jüdische Häftlinge für Hitlers Kriegswirtschaft ausbeutete, rettete er damit etlichen dieser Arbeitssklaven zugleich das Leben. Voilà, man wird bescheiden in diesem weltpolitischen Bestiarium und ist dankbar für jede menschliche Geste, sogar für jede Untat, die auf dialektische Weise zum Guten ausschlug. Der Leo-Baeck-Preis scheint also eine Auszeichnung zu sein, speziell gedacht für Deutsche, die man bei den Ostjuden ›a mensch‹ nennt, und ›a mensch‹, das heißt, wenn man es aus der jiddischen Sprache ins Deutsche übersetzt, nicht etwa ›ein Mensch‹, sondern bedeutet immer genau dies: ›ein guter Mensch‹.«
Einmal abgesehen davon, dass Beitz gar nicht für Krupp in Boryslaw war, hatten sich solche Unterstellungen schon während des ersten Hildebrand-Prozesses und spätestens durch die Untersuchung von Yad Vashem 1973 als falsch erwiesen. Was immer den Barden zu dieser Philippika bewogen haben mag: Der Geschmähte, der bei dem Vortrag nicht dabei war, nimmt sie übel, ob ihn Biermann nun für »a mensch« hält oder nicht. Er grollt nicht nur Biermann, sondern vor allem auch jenen, die die Rede anhören, nicht widersprechen und von denen er sich verlassen fühlt. Nur Stephan Kramer, der Generalsekretärs des Zentralrats, schreibt Biermann: »Nicht nur nennen Sie Berthold Beitz einen Ausbeuter, sondern diffamieren sein aktives Handeln zur Rettung von Hunderten von Juden vor dem sicheren Tod als ›menschliche Geste, ja sogar Untat, die auf dialektische Weise zum Guten ausschlug‹. … Dieses Handeln heute derartig gering zu schätzen, … ist schäbig und menschlich unanständig. Ich bin persönlich enttäuscht.« Die Zentralratspräsidentin Charlotte Knobloch aber schweigt zunächst, zu lange für Beitz. Er droht damit, all seine Auszeichnungen für Boryslaw zurückzugeben, bis es dann in Essen zu einer Aussprache mit der Präsidentin kommt und sich die Wogen glätten. Aber eine Wunde bleibt.
Essen, im Februar 2010, ein Festakt im Folkwang-Museum. Charlotte Knobloch gehört neben Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) zu den Laudatoren. Berthold Beitz, nunmehr 96 Jahre alt, erhält für seine Verdienste um die deutsch-jüdische Verständigung die Moses-Mendelssohn-Medaille. Julius H. Schoeps, Direktor des Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrums, der Beitz die Medaille überreicht, spricht »von einer der schwierigen Aufgaben der Zukunft: Wie vermittle ich das, was 1933 bis 1945 geschehen ist?« Berthold und Else Beitz haben es erlebt und Mut und Menschlichkeit gezeigt in unmenschlicher Zeit. Es ist ein bewegender Moment, als sich Berthold Beitz in seiner Dankesrede an seine Frau wendet und sagt: »Ohne deine Liebe hätte ich diese Zeit nicht überstehen können. Diese Medaille gehört dir genauso wie mir.« Und als sich der Festakt dem Ende zuneigt, bittet Berthold Beitz den Pianisten Boris Bloch, eines seiner Lieblingslieder zu spielen, die berühmte Melodie aus dem Film Casablanca: »As time goes by.«