Der Herr der
Ringe:
Berthold Beitz und die Olympischen Spiele
SPIEL DER GROSSEN ENTWÜRFE: OLYMPIA 1972
1972, an der Kieler Förde. Eine Yacht nähert sich mit geblähten Segeln dem streng abgeschirmten Olympiahafen. An Bord sind, wie Kurt Schoop sich erinnert, »neben der Crew einige sehr hübsche Mädchen im Bikini und Herr Henri Nannen«, der Herausgeber des Stern. Nannen begehrt Einlass ins olympische Areal, aber Schoop hat strenge Anweisung, niemanden hereinzulassen, und sei er noch so prominent. Schaulustige stören die Sportler. Heute erzählt Schoop: »Herr Nannen hat dann darauf bestanden, immerhin kenne er Herrn Beitz. Ich habe das übers Telefon ausgerichtet, aber Herr Beitz blieb hart: Keine Ausnahmen!«
An Selbstbewusstsein mangelt es Berthold Beitz auch bei seinem schönsten und »wichtigsten Hobby« nicht, wie eine Sportzeitschrift schreibt, aber es ist weit mehr als ein Hobby, eine Nebentätigkeit und Leidenschaft zugleich: die des Olympia-Patrons. 1972 ist er Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) und Vorsitzender des Segel-Ausschusses. Seinen getreuen alten Protokollchef Kurt Schoop hat er gleich mit an die Förde beordert, und dessen Einwände, dass er inzwischen als Leiter der Düsseldorfer Messe unabkömmlich sei, haben Beitz keine Sekunde gekümmert. Er hat Großes vor, und dafür setzt er, wie es seine Art ist, auf Menschen, denen er vertraut.
Nicht wenige Olympiafunktionäre sind überrascht, als Beitz plötzlich in ihren Gremien auftaucht und die gewohnte Ordnung wie ein Wirbelwind durcheinanderbringt. Damals ist mitunter die gehässige Theorie zu hören, der von Abs und Vogelsang 1967 kaltgestellte Beitz habe eine neue Beschäftigung gesucht, um die Zeit zu füllen. Aber das ist nur Tratsch. Beitz hat die ersten olympischen Ämter noch mit Einwilligung Alfried Krupps angetreten. Von 1966 an bis zu den Spielen 1972 ist er Mitglied im Organisationskomitee für die Olympischen Spiele 1972, die in Deutschland stattfinden. Er hat sich schon seit seiner Jugend für Wassersport begeistert und für die versöhnliche, völkerverbindende Idee der Spiele. Schon als Krupps Generalbevollmächtigter unterstützt er die Sportler, und dabei lernt er Willi Daume kennen, den Präsidenten des Nationalen Olympischen Komitees (NOK). Der Dortmunder Eisenwerkbesitzer Daume, Mitglied der Handball-Olympiamannschaft von 1936, mit straff zurückgekämmtem Haar und meist wohlgelaunt, gilt als Vater der Spiele von München. Wie Beitz mag er das Aktenlesen nicht und dafür umso mehr die kühnen Strategien. »Ich liebe das Spiel der großen Entwürfe«, hat er einmal gesagt. Dass er NSDAP-Mitglied und während des Kriegs als Informant für den Nazi-Sicherheitsdienst tätig war, wird er gegen Ende seines Lebens Mitarbeitern der Universität Hannover berichten; öffentlich bekannt wird es durch eine Dissertation erst 2010, also 14 Jahre nach seinem Tod. Er will das freilich nur getan haben, um dem Kriegsdienst zu entgehen, und habe dem SD nur »Blödsinn« erzählt.
Daume kommt mit dem gleichaltrigen Beitz bestens aus. Er ist als Präsident des Deutschen Sportbundes ein sehr mächtiger Mann, aber just überkreuz mit anderen Topfunktionären; deshalb schlägt er 1966 zur allgemeinen Verblüffung Berthold Beitz als Mitglied des Olympia-Organisationskomitees für 1972 vor. Man könnte nun meinen, der Kandidat sei im Krupp’schen Krisenjahr 1966 ausgelastet genug, aber die Aufgabe reizt ihn so sehr, dass er die Wahl annimmt. »Die beiden hat viel verbunden, zum Beispiel ein ausgeprägter Sinn für das Schöne, Ästhetische«, erinnert sich Irene Kunze, deren inzwischen verstorbener Mann Herbert Kunze Generalsekretär der Organisation für die Olympischen Spiele 1972 in München war. Sie »haben alle gut zueinander gepasst. Sie waren richtige Herren, keine Berufsfunktionäre. Das hat ein Teil ihres Erfolgs ausgemacht – die Ausstrahlung.«
München als Austragungsort ist der ganz große Gewinner der Spiele, die Stadt erfindet sich neu und erlebt einen enormen Aufschwung, die olympischen Bauten wie das Stadion – dessen Segeldach übrigens von Krupp stammt – sind Denkmale der Architekturgeschichte. Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel (SPD) gilt der Presse als »Mr. Olympia«. So weit, so gut. Bleibt die Frage, wo die Segelwettbewerbe stattfinden – und was sie kosten sollen.
Zwei Städte bewerben sich. Favorit ist Lübeck, die schöne alte Hansestadt mit dem Hafen Travemünde, ungleich attraktiver als das Aschenputtel Kiel. Das ist zwar Landeshauptstadt, aber geprägt von Werften und Industrie sowie einem ästhetisch wenig geglückten Wiederaufbau. Just dort aber, an der Inneren Hörn, lag auch die Krupp’sche Germania-Werft, die einst des Kaisers Schlachtschiffe bestückt hat. Dass Alfried Krupp dem sportlichen Ehrenamt seines Vertrauten zustimmt, hat auch damit zu tun, dass dieser Kiel ganz groß herausbringen will.
Beitz votiert also für Kiel, und er gewinnt die Entscheidungsgremien schließlich für sich. Die Stadt würde nämlich die bessere Infrastruktur für die Wasserdisziplinen bieten, wenn man nur genug investiert. Und dazu ist er entschlossen: Was München kann, können wir hier auch. »Er hat hier allen schnell klargemacht: Mit ihm geht das nur auf höchstem Niveau«, erinnert sich Horst Dieter Marheineke, damals ein junger Assessor aus dem Kieler Rathaus und zunächst städtischer Olympiareferent für die Spiele, der bald ganz auf Beitz setzt. »Sein Elan hat alle mitgerissen und die Bedenkenträger beiseitegeschoben. Von denen gab es viele, wie es eben immer ist, wenn viele Institutionen mitreden wollen.«
Als diese sich einmal ernsthaft beim Streit um die Entscheidung im Architektenwettbewerb für das neue Olympiazentrum Kiel-Schilksee verhaken, verlässt Beitz einfach den Konferenzsaal – und kehrt erst zurück, als er sich »gegen die Kieler Mafia«, so Marheineke pointiert über die örtlichen Seilschaften, durchsetzt. Marheineke kann den unverhofften Verbündeten gut gebrauchen, denn Kiels Stadtspitze um Oberbürgermeister Günther Bantzer will anfangs nicht viel Geld in die Spiele stecken. Das Olympiazentrum soll denkbar schlicht ausfallen. Beitz hat andere Ideen und holt den jung-dynamischen Marheineke 1969 ins olympische Organisationskomitee.
So erlebt dieser die Verhandlungen mit, die sich um das Wichtigste drehen, das Geld. Hans-Jochen Vogel sagt noch lange später: »Im Münchner Rathaus sind seither die Balken verbogen wegen all der Lügen der Kieler Olympiabewerber, die mir versichert haben: Wir machen das ganz billig!« Vom Arbeitsstil her treffen hier, wenn man so will, zwei Philosophien aufeinander: die des Aktenverächters bei Beitz, die des Aktenkenners beim Münchner OB und NOK-Mitglied. Letzterer, so erinnert sich Marheineke, »ließ sich von einem Rathausboten zu jeder Sitzung zwei große Aktenstöße bringen. Die signalisierten: Ihr könnt mir hier erzählen, was Ihr wollt – ich habe alle Unterlagen da.« Am Ende aber wird Kiel, wie München, enorm von den Spielen profitieren. Über 150 Millionen Mark fließen zusätzlich in die Infrastruktur der Stadt. »Irgendwann war es wie in München«, so Marheineke, »das Geld war einfach da.«
Daume ist so angetan von seinem Mitstreiter, dass er Beitz 1971 dem NOK als deutsches Mitglied im Internationalen Olympischen Komitee vorschlägt, als Konkurrenten gegen den früheren Reit-Olympiasieger Josef Neckermann und andere Prominenz. Beitz, 1972 gewählt, demonstriert dem Gremium seinen Einfluss und sein Fingerspitzengefühl, als im Sommer 1971 der Vorsitzende des sowjetischen Komitees für Körperkultur, Sergej Pawlow, die Bundesrepublik besucht. Das NOK möchte einen Termin bei Willy Brandt organisieren, doch Kanzleramtsminister Horst Ehmke lehnt aus Protokollgründen ab: Der Mann sei nicht hochrangig genug. Dabei ist die Sache heikel, denn der Kreml zürnt wegen »Radio Free Europe«, das von München aus in den jeweiligen Sprachen in den Ostblock sendet.
Beitz lädt die russischen Gäste auf die Germania VI ein; Pawlow darf sogar ans Steuerruder. So segeln sie auf dem Schiff die Förde entlang, als der Sendemast von Radio Kiel in Sicht kommt. Der Deutsche zeigt ihn dem Emissär aus Moskau: »Da, Herr Pawlow, schauen Sie mal: Radio Free Schleswig-Holstein.« Worauf der mitreisende Botschaftsrat Wladimirow schlagfertig antwortet: »Herr Beitz, wo ist Kanone?«
Außer Humor bietet Beitz auch die nötigen Kontakte, um die Verstimmung der Russen zu lindern. Er organisiert ein Treffen mit Brandt auf seiner Lieblingsinsel Sylt, wo der Kanzler just im Urlaub ist. Mit dem Hubschrauber fliegen Beitz und Pawlow von Kiel an die Nordsee, und im Restaurant »Sturmhaube« steigt dann ein ausgelassener deutsch-sowjetischer Gipfel der besonderen Art. Zu Pawlow sagt der Kanzler: »Ich würde mich freuen, wenn die Olympischen Spiele einmal in der Sowjetunion stattfinden würden.«
Das werden sie acht Jahre später tatsächlich auch tun – und den Olympiafreund Beitz dann noch mehr beschäftigen, als ihm lieb ist. 1972 aber ist Deutschland der Gastgeber, zum ersten Mal seit 1936, als Hitlers Reich sich in Berlin selbst inszenierte. Die Spiele von 1972, weltweit übertragen, zeigen der Welt ein anderes Deutschland, ein modernes, weltoffenes Land, das seinen Platz in der internationalen Gemeinschaft gefunden hat.
»Beitz hat für die Spiele 1972 sehr vieles bewirkt«, sagt heute Walther Tröger, damals Generalsekretär des Nationalen Olympischen Komitees, dem er dann von 1992 bis 2002 selbst vorstehen sollte. »Berthold Beitz hatte diese Ausstrahlung eines sympathischen, aber willensstarken elder statesman – und ein Netz von Kontakten zu guten Freunden wie den IOC-Präsidenten Avery Brundage und Lord Killanin.« Er sorgt vor allem dafür, dass die Kieler Wettbewerbe den Vergleich zu München nicht zu scheuen brauchen, statt ein bloßes Anhängsel zu sein. Sein Standardsatz »Kiel läuft!« ist bis zum heutigen Tage bei den Beteiligten ein geflügelter Ausspruch.
Beitz lernt Daume als begnadeten Organisator kennen. So hat Daumes Stab in München in der Etage über dessen Büro eine futuristische »Leitzentrale« einrichten lassen, »im Stil von Raumschiff Orion«, wie der CSU-Abgeordnete Hans Klein spottet, nur habe sich dort, anders als im schnellen Raumkreuzer der damals sehr beliebten ARD-Serie, selten etwas Bemerkenswertes ereignet. Die Entscheidungen fallen allein beim Chef: »Er war kein Vordränger, aber die Fäden liefen auf ihn zu. Geschah das nicht von selbst, sorgte er dafür.«
In Kiel wirkt auf nicht unähnliche Weise Berthold Beitz; die Stadt dankt es ihm später mit der Ehrenbürgerwürde. Aus gutem Grund: Kiel erhält 1972 einen Autobahnzubringer, die neue Kanalhochbrücke und das Regattazentrum, alles zukunftsweisende Investitionen in einer alten Arbeiterstadt, die es nicht immer leicht hat. Zur Zeit der Segelwettbewerbe entspannt sich Beitz gern auf seine Weise: bei einem guten, bodenständigen Essen. Er kehrt sehr häufig in einem Landgasthof an der B 404 ein, wo es Saueraal mit Bratkartoffeln gibt. Ansonsten hält er gern Hof an der Pressebar des Olympiazentrums, des beliebtesten Treffs während der Spiele in Kiel. Am 3. September laufen siebzig große Segelschiffe aus vielen Nationen zur »Windjammer-Parade« aus. Vor 500 000 Zuschauern nimmt Bundespräsident Gustav Heinemann diese Parade ab und bekundet, er habe »noch nie so etwas Schönes gesehen«.
Zu Heinemann überliefert Olympiaplaner Marheineke noch eine hübsche Anekdote. Vor dem Eintreffen des Bundespräsidenten führt Beitz den Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher durch das Olympiazentrum in Schilksee, und Marheineke scheint es, als lasse sich der gewiefte FDP-Politiker auffallend viel Zeit. Offensichtlich möchte er mit auf die Pressefotos über Heinemanns Empfang in Kiel. So kommt Beitz, im Schlepptau den Minister samt Entourage, zu spät: Der hohe Gast ist schon da und wartet vor zahlreichen Fotografen und Kameraleuten – keine schöne Sache für die Etikette. Beitz jedoch geht locker auf Heinemann zu und ruft: »Herr Bundespräsident, Sie sind zu früh.« Das ist die Art Humor, die Heinemann mag.
Aber dann schlägt das Terrorkommando des Schwarzen September in München zu; bei dem Überfall auf die israelische Olympiamannschaft und dem missglückten Befreiungsversuch des Bundesgrenzschutzes auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck sterben insgesamt 17 Menschen: elf israelische Athleten, ein deutscher Polizist und fünf Palästinenser. Während Tröger noch mit den im olympischen Dorf verschanzten Terroristen verhandelt hat, ist Beitz aus Kiel nach München geflogen. Im IOC herrscht nach dem Debakel der gescheiterten Befreiungsaktion tiefe Depression. Anfangs waren die Wettkämpfe sogar weitergelaufen, dann wurden sie unterbrochen. Nun müssen die Verantwortlichen entscheiden, ob sie die Spiele fortsetzen wollen: Ist ein Abbruch nicht ein Triumph des Terrors? Ist es eine Verhöhnung der Opfer, einfach weiterzumachen? Für Tröger ist letztlich ausschlaggebend, dass »uns auch jüdische Freunde dazu geraten haben und die israelische Regierung die Weiterführung befürwortet hat«. Schließlich verkündet Avery Brundage: »The games must go on« – die Spiele müssen weitergehen. Willi Daume begründete die Entscheidung mit dem Satz: »Es ist schon so viel gemordet worden – wir wollten den Terroristen nicht erlauben, auch noch die Spiele zu ermorden.« Im Zuge der erhitzten Debatte über die Frage, was nun die angemessene Reaktion sei, unterstützt auch Beitz die Fortsetzung. Für die Kieler Wettbewerbe zuständig, gerät er mit Schleswig-Holsteins Ministerpräsidenten Gerhard Stoltenberg in eine scharfe Auseinandersetzung. Der CDU-Politiker spricht sich entschieden dafür aus, die Wettbewerbe sofort zu beenden. Beitz hält ihm entgegen: »Das sind nicht Ihre Spiele, sie gehören dem IOC. Die Gastgeber sind wir!« Und die Spiele müssen weitergehen, findet das IOC. In Kiel enden sie nicht mit der geplanten großartigen Abschlussparty, sondern mit einer schlichten Feier in Schilksee, auf der neben IOC-Präsident Avery Brundage auch Beitz spricht: »Kiel ist gelaufen. Jubel und Trauer klingen nach.«
»DIESE IDIOTEN«:
ZWISCHEN SPORT UND POLITIK
(1980–1988)
Die Spiele werden auch künftig nicht das sein, was Beitz sich wünscht und was sie in der griechischen Antike einmal waren – eine Zeit der Versöhnlichkeit in einer konfliktgeladenen Welt. Denn schon 1980 ist tatsächlich die UdSSR Gastgeber der olympischen Gemeinschaft, wie es Brandt auf Sylt acht Jahre zuvor als Möglichkeit angedeutet hat. Doch 1979 haben sowjetische Truppen den unruhigen Frontstaat Afghanistan besetzt, um die sozialistische Regierung in Kabul zu retten und dem Westen die eiserne Faust zu zeigen. Die Zeit der Entspannung scheint sehr weit fortgerückt zu sein. Die USA und die Nato erleben einen Rückschlag nach dem anderen: Auf die Niederlage der Amerikaner in Vietnam 1975 folgt der Verlust des gesamten Indochina und aller portugiesischen Kolonien an kommunistische Rebellen; 1979 nehmen islamistische Fanatiker mit voller Rückendeckung des iranischen Regimes die Botschaftsangehörigen der USA in Teheran als Geiseln.
Die Invasion in Afghanistan verschärft die Konfrontation der Weltmächte. Zu Beitz’ Entsetzen fordert die US-Administration um Präsident Jimmy Carter im Januar 1980 einen Boykott der Moskauer Spiele. Beitz hält das für eine sinnlose Symbolhandlung – ausgerechnet zu Lasten des einzigen »Bewährungsfelds für Toleranz und Freundschaft über politische, rassische und religiöse Grenzen hinweg« – das ist sein Verständnis von Olympia.
In dieser Zeit hält der sowjetische Botschafter in Bonn, Juli Kwizinski, in seinem Tagebuch ein aufschlussreiches Gespräch mit Berthold Beitz fest. Obgleich der Russe die Dinge ganz offensichtlich mit Freude zuspitzt, ist es doch höchst aufschlussreich zu lesen, wie sehr sich der Krupp-Chef noch immer als Fürsprecher Osteuropas empfindet. Der Russe erlebt Beitz im Mai 1980 bei einer Festveranstaltung der British Petroleum. Bei dem Festakt ärgert sich der Krupp-Aufsichtsratschef im Gespräch mit dem Russen über die Absicht der von Schmidt geführten Bundesregierung, sich dem US-Boykott anzuschließen. Kwizinski schreibt: »Bezüglich der Olympiade wurde Beitz ganz emotional und meinte, er habe ›diese Idioten‹ von der Regierung gewarnt, sie würden alleine dastehen. Sie hätten aber nicht auf ihn gehört und ihm geantwortet, alle Welt werde es der Bundesrepublik gleichtun.« Carters Boykott-Plan sei »billiges Showgehabe«.
Beitz hat noch keinen Konflikt mit der Politik gescheut und tut es auch diesmal nicht. Er ist so aufgebracht, dass er mitunter ins Poltern gerät: »Herrn Carters Erklärungen interessieren mich nicht. Wetten, daß wir in Moskau teilnehmen?«
Da überschätzt er allerdings seinen Einfluss, und die Wette wird er verlieren. Er ist mit dieser Haltung freilich in guter Gesellschaft. FDP-Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff hält den Olympiaboykott für »Unfug«, und Exkanzler Brandt schimpft über die Entscheidung seines Nachfolgers: »Niemand soll glauben, daß man durch einen Boykott einen einzigen Soldaten aus Afghanistan herausholt.« Im Kabinett ist es Hans-Jochen Vogel, 1972 Oberbürgermeister der Olympiastadt München und nun Bundesminister der Justiz, der warnt: Ausgerechnet das Land der Invasoren von 1941 (»Wir haben uns dort uneingeladen eingefunden«) verletze nun »die Gefühle des russischen Volkes«. Es ist eine bittere Auseinandersetzung, die schon das Ende der Ära Schmidt erahnen lässt: der Realo-Kanzler gegen große Teile seiner Partei und ihrer Anhängerschaft.
Schmidt befindet sich in einer äußerst unangenehmen Lage, in der er nur die Wahl zwischen zwei Übeln hat: Entweder er brüskiert die deutschen Sportler und alle, die sie unterstützen, inklusive großer Teile der SPD, oder den amerikanischen Präsidenten. Im Rückblick sagt er daher: »Das hat mir so gestunken.« Nach dem Einmarsch der Russen in Afghanistan hat der Kanzler aus Washington »Signale« erhalten, wonach die USA als Sanktion einen Boykott der Spiele erwägen. In einem Telefonat mit Präsident Carter versucht er, sich Klarheit zu verschaffen, und erfährt von diesem: Ein Olympiaboykott sei nicht der richtige Weg. »Aber 14 Tage später hat mir Carter dann das Gegenteil erzählt: Die USA würden nicht an den Spielen in Moskau teilnehmen. Er hat von den europäischen Nato-Verbündeten verlangt: Wenn wir nicht hingehen, geht Ihr auch nicht hin!« So sei Carter eben gewesen, sagt Schmidt: »Alles, was er sagte, war ehrlich. Aber er wechselte ständig die Meinung, und die nächste Meinung war dann genauso ehrlich.«
Nun könnte Schmidt sich ebenso wenig darum scheren wie die Regierungen in London und Paris, die ihre Olympioniken trotz amerikanischer Pressionen nach Moskau fahren lassen. Aber dort ist man auch nicht in dem Maße von den USA abhängig wie in der Bundesrepublik, die eine lange Grenze zum Warschauer Pakt hat und von dessen neuen SS-20, atomaren Mittelstreckenraketen mit je drei Sprengköpfen, zusätzlich bedroht wird. In Westeuropa stehen keine vergleichbaren Waffen, und Schmidts Sorgen finden in Washington zunächst wenig Gehör. Dabei haben die SS-20-Raketen die Sicherheitslage deutlich verschlechtert; würden sie je gegen die Bundesrepublik eingesetzt, müssten die USA eine fatale Eskalationsstufe höher mit Interkontinentalraketen zurückschlagen und eine atomare Apokalypse entfachen, die auch Amerika selbst gefährden würde. Allein schon die Drohung mit der neuen Waffe hat das Kräftegleichgewicht in Europa verschoben. Bei einem Krisentreffen mit Carter, dem britischen Premier James Callaghan und dem französischen Staatspräsidenten Giscard d’Estaing gelingt es Schmidt, die Partner von der Notwendigkeit einer nuklearen Nachrüstung zu überzeugen. »Diesen Streit hatten wir gerade erst hinter uns, als die Debatte über die Teilnahme an den Olympischen Spielen losbrach. Aber was sollte ich tun? Ich konnte nicht andauernd mit den Amerikanern Streit beginnen – die Bundesrepublik war schließlich von ihnen abhängig.«
Nie zuvor hat sich Beitz öffentlich so exponiert, nicht einmal damals, als er noch ein einsamer Pionier der Versöhnung in Osteuropa war. Doch das ist zumeist ein diskretes Geschäft gewesen. Jetzt schlägt er eine offene Schlacht. In einem Artikel schreibt er: »Die Welt steckt in einer schweren Krise, aber ein Olympiaboykott kann sie nicht bessern. Im Gegenteil: Er kann das politische Klima nur verschlechtern.« Schmidt schickt er ein Protesttelegramm, und im Fernsehen moniert er, der Sport werde als »Hebel der Politik« benutzt. In Moskau erklärt er dem WDR-Hörfunk: »Wir haben ein Wahljahr in Amerika, und Herr Carter spielt auf diesem Wahlklavier.« Im November 1980 wird Carter die US-Präsidentschaftswahl übrigens gegen den erzkonservativen Ronald Reagan verlieren.
Im April 1980 aber spaltet der Konflikt um die Sommerspiele das deutsche NOK selbst. In der aufgepeitschten Stimmung wird mit harten Bandagen gekämpft. Thomas Bach, später Gründungspräsident des Deutschen Olympischen Sportbundes und 1980 Sprecher der Athleten, die lauthals gegen den Boykott protestieren, fühlt sich von den vielen Kritikern gleichsam dafür beschuldigt, »daß in der Sowjetunion Kinder sterben und Menschen hungern und es politische Gefangene gebe«. Anonyme Anrufer bedrohen ihn: »Du Kommunistenfreund!« Und die stockkonservative Neue Bildpost schmäht Beitz: »Auf welchem Stern leben Sie? Haben Sie die verheerenden Folgen der Hitler-Olympiade von 1936, die zwar Krupp Aufträge, dem deutschen Volk aber millionenfaches Leid bescherte, vergessen?« Auch er erhält Schmähbriefe gegen »blutige Medaillen«.
Egon Bahr, Veteran der Entspannungspolitik, appelliert an die Olympiafunktionäre und vor allem an Daume, Beitz und den Sportbund-Vorsitzenden Willi Weyer, sich Schmidt entgegenzustellen: »Das Bündnis mit den Amerikanern wird nicht gefährdet, wenn sich unser NOK wie das britische oder niederländische verhält.« Weyer, auch FDP-Politiker, wechselt indes auf Schmidts Seite, was Beitz heftig erzürnt: »Warum und wie er das getan hat, darüber kann vielleicht einmal ein Politologe eine Doktorarbeit schreiben.« Tröger glaubt heute, »dass Weyer die Fronten gewechselt hat, um die Position des Deutschen Sportbundes gegenüber dem NOK zu stärken. Außerdem war er dem Druck aus Bonn nicht gewachsen.« Letzteres gilt freilich auch für das Nationale Olympische Komitee, das der Spiegel als »buntes Gremium aus betuchten Industriellen, ehemaligen Olympia-Helden und ausgedienten Politikern« beschreibt. Beitz, Tröger und die anderen Boykottgegner setzen am 15. Mai 1980 im Düsseldorfer Interconti-Hotel auf eine Kampfabstimmung – und verlieren sie mit 40 zu 59 Stimmen. Für Tröger war es »eine unerwartete Niederlage. Aber die Bundesregierung hat die Delegierten auch massiv bedrängt und sogar gedroht, dem NOK die Mittel für die Fahrt der Sportler nach Moskau zu streichen.« Die Unterlegenen lassen ein juristisches Gutachten erstellen, das zu dem erwünschten Ergebnis gelangt, der Beschluss der NOK-Mitgliederversammlung vom 15. Mai 1980 sei unwirksam: »Er verstößt gegen die Satzung. Text und Geist der Satzung verlangen die Teilnahme an allen Olympischen Spielen. Eine Ausnahme ist nicht vorgesehen, insbesondere nicht aus politischen Gründen.«
Es hilft alles nichts mehr, die Sache ist verloren. Die Bundesrepublik, Norwegen und die Türkei sind die einzigen Nato-Staaten, die keine Athleten nach Moskau entsenden. »Das war natürlich kein Zufall«, sagt Helmut Schmidt im Rückblick. »Alle drei Staaten hatten die sowjetischen Truppen direkt vor der Haustür. Wir waren unmittelbar auf die amerikanische Beistandszusage angewiesen. Deshalb haben wir nachgegeben.« Der Kanzler hat ein weiteres Problem: »Ich konnte die Gründe meiner Entscheidung ja nicht öffentlich erläutern, auch Herrn Beitz nicht, dessen Ärger ich durchaus verstanden habe. Wenn ich mich über die Hintergründe groß ausgebreitet hätte, hätte Carter schon wegen seines Meinungswechsels sehr schlecht ausgesehen. Also musste ich das alles stillschweigend erdulden.«
Einer aber ist am Ende doch bei den Spielen dabei: Berthold Beitz. Nur als Zuschauer zwar, aber dafür einer der demonstrativen Art. Er fordert die Bundesregierung heraus, als er mit seinem guten Bekannten, dem zeitweiligen sowjetischen Außenminister Valentin Falin, das Pressezentrum der Spiele in Moskau besucht. Und im Hafen von Tallinn, wo er die Segelwettbewerbe eröffnen wollte, liegt unter voller rot-weiß-goldener Flagge die stolze Germania VI wie ein Symbol dafür, dass die Gastgeber von den Deutschen nicht ganz verlassen sind.
Für Beitz und Daume hat der verlorene Kampf um die Teilnahme an den Spielen ganz unterschiedliche Konsequenzen. Daume muss seinen Traum begraben, Präsident des IOC zu werden. An seiner Stelle wird 1980 der etwas undurchsichtige Juan Antonio Samaranch gewählt, ein ehemaliger Anhänger der Franco-Diktatur und erster spanischer Botschafter in Moskau. Er wird noch manches Mal mit Beitz die Klingen kreuzen, auch wenn sie gemeinsam vieles auf die Beine stellen. Berthold Beitz wiederum wird nämlich 1983, ein Jahr vor den Spielen in Los Angeles, auf dem IOC-Kongress im japanischen Sapporo zu einem der drei IOC-Vizepräsidenten gewählt – von einer Mehrheit des Gremiums, die ganz offensichtlich ein Gegengewicht zum überbordenden Ego Samaranchs schaffen will und dessen Wunschkandidaten ablehnt.
1984 revanchieren sich die Sowjets für Moskau. Mit Ausnahme Rumäniens boykottieren die Staaten des Warschauer Paktes die Olympischen Spiele in Los Angeles. Dennoch verdankt Berthold Beitz ausgerechnet diesen so unglücklichen Spielen eine der wohl wichtigsten Auszeichnungen seines Lebens. Und das unbemerkt von vielen Teilnehmern, wie die Süddeutsche Zeitung schreibt: »Im Papierwust, den die 23. Sommerspiele ausspuckten, ging die kleine Meldung völlig unter.« Berthold Beitz wird vom Simon-Wiesenthal-Center von Los Angeles in die »Ehrenrolle des jüdischen Völkes« aufgenommen.
Unter den Zuschauern im Coliseum-Stadion sitzt am 4. August 1984 ein Sportjournalist, der für israelische Zeitungen arbeitet. Als ein hochgewachsener Mann unten der deutschen Hochspringerin Ulrike Meyfarth die Goldmedaille umhängt und sein Name an der Anzeigentafel erscheint, kann es der Reporter kaum glauben. Es ist Berthold Beitz. Der Reporter aber ist Zygmunt Spiegler, Überlebender aus Boryslaw. Beitz hatte ihn bei der Karpathen-Öl als angeblichen Werkschlosser in Sicherheit gebracht. Er lebt seit 1966 in Duisburg, hat aber nie versucht, Kontakt mit dem Krupp-Chef aufzunehmen: »Ich wollte ihn nicht belästigen. Er hätte den Eindruck bekommen können, ich wolle etwas von ihm.« Aber nun, als er Beitz erstmals wiedersieht, zögert Spiegler nicht länger und eilt, an den überraschten Sicherheitsleuten vorbei, zu Beitz. Der erkennt ihn anfangs nicht, aber Spiegler hält ihm ein altes Dokument hin, das er stets bei sich trägt: »Ausweis für Arbeitsjuden, Nr. 570«. Unterschrieben von Berthold Beitz. Beitz hat einer Siegerin olympisches Gold verliehen. Aber das war nicht die wichtigste Begegnung dieses Tages.
Die Zusammenarbeit mit Samaranch ist oft gut und doch nicht leicht. Beitz, der es nicht gewohnt ist, andere über sich zu haben, respektiert den Spanier, kommt mit dessen selbstherrlichem Auftreten aber nicht immer zurecht. Wie wenig die beiden bei allem gemeinsamen Erfolg zueinander passen, zeigt 1996 eine Entdeckung im ehemaligen SED-Zentralarchiv, über die die Presse berichtet. Unter Berufung auf einen Bericht von Beitz’ Gesprächspartner Manfred Ewald, Chef des ostdeutschen NOK, meldet der Spiegel, Beitz sei zehn Jahre zuvor »nach Ost-Berlin gereist und beklagte sich bei den höchsten Sportfunktionären der DDR über Cliquenwirtschaft und den Führungsstil von Samaranch, der ›selbstherrlich über große Summen entscheide, ohne die Finanzkommission, deren Mitglied er [Beitz; J. K.] sei, zu fragen‹«. Laut Beitz sei Samaranch einer, »der nur dann zurückweicht, wenn er bemerkt, daß andere Kräfte ihm entgegenwirken«. Offenbar hat Beitz in seiner direkten Art bei einem Besuch in Ostberlin seinem Ärger über Samaranch heftiger Luft gemacht, als es die Vorsicht geboten hätte, und seine Worte wurden dann wohl zusätzlich noch angeschärft. Wie auch immer, von einer Verschwörung gegen den Spanier, noch dazu mit Hilfe der DDR, gibt es keine Spur. »Vielmehr ist es wohl so«, schreibt die Süddeutsche Zeitung, »daß lockere, von der Stasi aufnotierte Äußerungen des hemdsärmeligen Beitz nun einen unzutreffenden Eindruck erwecken.«
Beitz, der es stets gehasst hat, nicht vollständig informiert zu sein, gefallen die Alleingänge des Spaniers zur Kommerzialisierung der Spiele ebenso wenig wie dessen Art, Kontrahenten über den Mund zu fahren. In dem lange schwelenden Konflikt zwischen Samaranch und der IOC-Direktorin Monique Berlioux stützt er die Französin, die über den Präsidenten sagt: »Für mich und ihn ist Lausanne zu klein.« Tröger und Beitz geraten in dieser Frage heftig aneinander. Und Samaranch spielt die beiden erfolgreich gegeneinander aus. Er nutzt die Kritik Trögers, der Berlioux Selbstherrlichkeit vorwirft, um die lästige Konkurrentin um die olympische Macht loszuwerden. Tröger ist der Überzeugung, dass die Französin »nicht teamfähig« sei: »Sie hat sogar Abhörwanzen in Samaranchs Büro anbringen lassen – wir haben sie später gefunden.« 1985 hilft Beitz Berlioux, unter Wahrung ihres Gesichts und stattlicher Bezüge aus dem Amt zu scheiden. »Das hat mir Beitz sehr übel genommen«, sagt Tröger heute, »und der Samaranch hat sich intern gerühmt: ›Bin ich nicht clever? Ich habe einen Deutschen, der die Sache in Gang gebracht hat, und einen anderen, der sie geregelt hat.‹« Gleichwoh setzt Beitz Tröger einige Jahre später aals seinen Nachfolger im IOC durch.
Wesentlich bedeutsamer als die Hakeleien mit dem IOC-Chef ist letztlich aber das gemeinsame Projekt, den olympischen Traum wiederzubeleben. Die nächsten Spiele sollen 1988 in Seoul stattfinden, der Hauptstadt Südkoreas. Korea aber ist ein geteiltes Land, im Norden regiert ein erstarrtes kommunistisches Regime, im Süden eine prowestliche, allerdings stark autoritäre Regierung, die nicht einmal Beziehungen zu den Staaten des Ostblocks unterhält. So geht im IOC die drängende Sorge um, die Spannungen zwischen den Blöcken könnten die Spiele endgültig irreparabel beschädigen.
Samaranch und das IOC wollen die sozialistischen Staaten in die olympische Gemeinschaft zurückholen, Moskau aber lässt die Antwort bewusst offen. In dieser Phase nutzt Beitz erneut sein gutes Verhältnis zu den Staaten des Ostblocks. Bei einer Moskau-Reise im Jahr 1985 wirbt er für die Teilnahme der UdSSR; und im selben Jahr hilft er, Erich Honecker für die Rettung der Spiele zu gewinnen. Die DDR, sagt Beitz zu ihm, könne nur an Reputation und Ansehen gewinnen, wenn sie für Seoul 1988 bereits zusage. Honecker erkennt in dieser Frage seine Chance; nicht ohne Geschick betreibt er, dessen baldigen Sturz 1989 wohl niemand für möglich hält, die internationale Aufwertung der DDR, die schließlich in seinem Besuch in der Bundesrepublik 1987 gipfeln wird. Die Olympiafrage eignet sich ideal für diese Politik. Sagt die DDR für Seoul zu, würde das weltweit beachtet: als ein selbstbewusster Schritt der Eigenständigkeit und noch dazu als eine Geste für Frieden und Verständigung, die der SED doch angeblich so am Herzen liegen. In Ostdeutschland selbst ist ein Boykott ohnehin nicht populär, der hochgezüchtete DDR-Sport ist im Medaillenspiegel stets ganz oben dabei, übertroffen nur von der UdSSR. Das Thema Seoul 1988 ist andererseits politisch nicht brisant genug, um einen wirklich ernsthaften Konflikt des Kreml mit seinem ostdeutschen Musterstaat zu provozieren. Deshalb kündigt die DDR im Juni 1985 auf der IOC-Sitzung im Berliner Palast-Hotel ihre Teilnahme an. Beitz, notiert die »Hall of Fame des deutschen Sports«, habe »dabei die Figuren mit geführt«.
Noch aber stehen die Ostdeutschen allein im sozialistischen Lager. Im November 1986 ist Samaranch zu Gast bei Honecker, und der Staatsratsvorsitzende bestätigt ihm laut Protokoll: »Unsere Sportler werden nach Seoul fahren.« Es komme jetzt darauf an, »die Wolken beiseite zu rücken, die die Durchführung der Olympischen Spiele 1988 beschatteten. Deshalb habe er auch mit Berthold Beitz über die Frage gesprochen … Genosse Honecker betonte, daß er mit Dr. Beitz ein fast freundschaftliches Verhältnis habe. Genosse Honecker stellte fest: ›Sie, Herr Präsident, wollen niveauvolle Spiele, wir auch.‹« Niveauvoll heißt: unter Beteiligung der olympischen Sportmacht DDR.
Honecker behauptet weiter, er habe erst wenige Tage vor Samaranchs Visite bei einer vom sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow geleiteten Beratung der KP-Generalsekretäre aller kommunistischen Staaten die Olympiafrage diskutiert. »Durch den Genossen Fidel Castro«, so das Gesprächsprotokoll weiter, »sei die Frage der Teilnahme an den Olympischen Spielen 1988 in Seoul aufgeworfen worden. Genosse Gorbatschow stellte dazu fest, daß es noch nicht notwendig sei, eine Meldung abzugeben. Er [Honecker; J. K.] habe darauf geantwortet, daß das NOK der DDR bereits seine Zusage erteilt habe, an diesen Spielen teilzunehmen. Damit sei er der einzige gewesen, und er habe sich dadurch in einer etwas schwierigen Situation befunden.« Kubas Staatschef Castro, der sich als Führer der sozialistischen Staaten in der Dritten Welt sieht, will eine Beteiligung Nordkoreas an den Spielen erreichen, was nicht am IOC scheitern solle, so meinte Beitz zu Honecker, wie dieser nun berichtet. Am Ende wird die weltfremde Führung in Pjöngjang das Projekt durch unerfüllbare Forderungen scheitern lassen. Ansonsten sind 1988 Ost und West wieder bei den Spielen dabei. Die olympische Idee ist nach einem Jahrzehnt der Bedrängnisse gerettet. Die DDR gewinnt 37 Goldmedaillen und belegt Platz zwei der Nationenwertung. Es wird ihr letzter internationaler Triumph sein.
Auch Beitz’ Werk ist nun abgeschlossen; am 26. September 1988 feiert er seinen 75. Geburtstag, und damit, so verlangt es die Satzung, ist seine aktive Zeit im IOC zu Ende. Er bleibt auch nach 1988 den Spielen als IOC-Ehrenmitglied eng verbunden und hilft Samaranch später, das nötige Geld für das Olympische Museum in Lausanne zu sammeln, das 1993 eröffnet wird. Dort brennt nun das olympische Feuer als Symbol einer jahrtausendealten Idee. Die Zeitschrift Sporthilfe macht deren Verfechter Beitz rückblickend ein schönes Kompliment: »Als hoher Funktionsträger hat er stets verstanden, nie zum Funktionär zu werden. Er wirkte, ohne sich vom Apparat schlucken zu lassen.«
An einem wechselhaften Junitag des Jahres 2009 steht Berthold Beitz an der Kieler Förde. Es ist Kieler Woche. Am Kai liegt die 1966 in Dienst gestellte Germania VI, die schön geschwungene Segelyacht, die Alfried Krupp 1963 hat bauen lassen. Das Segeln übrigens, für den Jungen in Stralsund einst das große Abenteuer, hat Beitz erst nach Alfried Krupps Tod 1967 wieder aufgenommen. »Ich bin zusammen mit ihm auf der Germania VI gesegelt, aber nicht selbst: Man soll nie das Hobby seines Chefs haben.« Alfried habe schon immer gern »die Number One sein wollen«, und für den Firmenherrn waren die Fahrten mit den Germania-Yachten eine Weltflucht, die er gegen Ende seines Lebens immer öfter suchte.
Beitz hängt so sehr an dem Schiff, das die Stiftung 1971 übernommen hat, dass er es praktisch neu bauen lässt, nachdem ein Sturm das Boot 1989 schwer beschädigt hat. Es ist ein gediegenes, charaktervolles Schiff, keine Luxusyacht. Viele illustre Gäste sind hier schon an Bord gewesen, russische Diplomaten, deutsche Ministerpräsidenten wie Johannes Rau und Bundeskanzler wie Helmut Schmidt. Am 13. August 2007, dem 100. Geburtstag Alfried Krupps, enthüllt Beitz eine Büste des Jubilars vor dem Gebäude des Kieler Yacht Clubs, das jetzt »Alfried Krupp-Haus« heißt. Hier hat nicht nur der traditionsreiche Segelclub seinen Sitz, sondern hier firmiert auch das renommierte Hotel »Kieler Yacht Club«. Das Gebäude ist eines der wenigen würdevollen alten Häuser, die noch an der Förde stehen, und geht zurück auf eine Krupp’sche Gründung um 1900. Es hat schwer unter Bausünden und einem langen Niedergang gelitten. Als sein Eigentümer, der Kieler Yacht Club, 2006 in eine finanzielle Schieflage gerät, hilft Beitz. Die Firma ThyssenKrupp erwirbt das Gebäude und widmet es dem Andenken an die maritimen Wurzeln der Firma und ihrer Eigentümer an der Kieler Förde. Sie lässt das Gebäude in den folgenden Jahren grundlegend sanieren. 2009 steht das Hotel nun wieder da, leuchtend weiß wie einst, und vor ihm weht die Fahne mit den drei Ringen.
Als Regenschlieren über der Förde niedergehen und die Wellen höher schlagen, verschwinden die kleineren Boote von der Förde. Draußen ziehen die großen Windjammer vorbei, darunter die russische Sedorf, ein Viermaster, den noch die Krupp’sche Germania-Werft gebaut hat. Das Wetter wird schlechter. In Beitz’ Entourage kommt die Frage auf: Lohnt das? Wollen wir wirklich segeln? Schafft er das? Aber Beitz lacht. »Na klar«, sagt er, »wir segeln.«