Kapitel 33

 

Braekor ist keine Provinz, die den Reisenden Ehrfurcht lehren kann, doch wenn ihm nach Langeweile und Mittelmäßigkeit der Sinn steht, so ist er am richtigen Ort.

Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2

 

Zvaran war voller Soldaten. Jonan sah sie auf den Mauern und Wehrgängen, als er, Ana und Merie ihre Pferde auf der Straße zügelten. Eine lange Reihe aus Karren und Menschen wartete vor dem geöffneten Stadttor. Soldaten sprachen mit ihnen, ließen dann Einzelne durch.

»Was ist hier los?«, fragte Jonan eine Bäuerin, die einen Korb mit Gemüse auf dem Rücken trug.

Die Frau sah zu ihm auf. Eine Brise wehte ihr eine Haarsträhne ins Gesicht. »Es sind Nachtschatten in der Gegend. Sie haben ein paar Höfe angezündet und eine Patrouille ermordet. Die Soldaten überprüfen jeden, der in die Stadt will.«

»Wie?«

Die Frau rückte den Korb auf ihrem Rücken zurecht. »Mit einer Goldmünze auf der Stirn. Wenn die nicht schon wieder jemand geklaut hat. Wäre dann die dritte seit gestern Morgen.«

»Haben sie Nachtschatten gefunden?«, fragte Ana.

»Ich glaube schon«, sagte die Bäuerin. Sie lächelte. »Aber ihr werdet das bald selbst feststellen können. Die Soldaten hängen sie immer neben dem Tor auf.«

Jonan dachte an die Festung und die Scheiterhaufen, auf denen Leichen brannten. Er presste die Lippen aufeinander.

Ana schien zu bemerken, was er dachte, denn sie dankte der Bäuerin rasch und nickte Jonan unter der Kapuze ihres Umhangs zu, als wolle sie sagen: Komm mit.

Sie führten ihre Pferde von der Straße auf eine Weide mit hüfthohem Gras. Merie folgte ihnen.

»Ich weiß nicht, ob wir an den Soldaten vorbeikommen«, sagte Ana, als sie außer Hörweite waren. »Ich war schon einige Male in Braekor und auch in Zvaran. Jemand könnte mich erkennen.«

»Aber wir müssen in die Stadt.« Merie nahm den Blick nicht von den Mauern. Seit Ana ihr erklärt hatte, dass die Eisschollen, die sie in weiter Ferne auf dem Meer sahen, für einen eisfreien Hafen in Somerstorm sprachen, ging ihr die Reise nicht schnell genug. Sie hoffte wohl, nach Hause geschickt zu werden, wenn alles vorbei war. Jonan wusste, dass er das nicht zulassen durfte. Sie war gefährlicher, als sie selbst ahnte.

»Du könntest dich verkleiden«, sagte sie zu Ana. »Oder du versteckst dich in einem Karren voll Stroh. Oder wir lenken die Wachen ab.«

Jonan ignorierte die Vorschläge. »Was ist mit den Schiffen, die nicht in Zvaran anlegen?«, fragte er. »Wie finden wir die?«

Anas Gesicht hellte sich auf. Er mochte es, wenn sie lächelte. »Sie warten zwischen den Inseln vor der Küste auf Schmugglerware und Passagiere. Mein Vater glaubte, dass die Fischer in den Dörfern das Schmuggelgut und die Menschen mit ihren Booten zu ihnen bringen, aber nachgegangen ist er dem nie.«

»Dann werden wir das tun.« Jonan drehte sich um. »Merie …«, begann er, brach jedoch ab. Reiterlos stand Meries Pferd hinter ihm.

Ana stellte sich im Sattel auf. »Wo ist sie?«

Es roch nach Essig. Jonan sah, wie sich das Gras am Rande der Weide bewegte.

Nein, dachte er.

Im gleichen Moment gellte ein Schrei durch die Reihe der Wartenden.

»Nachtschatten!«

Menschen ließen ihre Waren fallen. Ein Pferd stieg auf und wieherte schrill, warf seinen Reiter ab. Dunkles Fell schoss unter den Hufen vorbei.

»Nachtschatten!«

Die Soldaten am Tor nahmen den Schrei auf. Sie zogen ihre Schwerter und liefen auf die Straße hinaus. Bogenschützen zogen Pfeile aus ihren Köchern, richteten sie auf Menschen, Karren, Ochsen und Pferde, ohne ein Ziel zu finden.

Er sah Merie. Hakenschlagend und auf allen vieren lief sie zwischen den panisch schreienden Menschen hindurch, ein dahinschießender Schatten aus dunklem Fell und Krallen. Sie war schnell, viel schneller, als er für möglich gehalten hatte.

»Das ist Merie?«, fragte Ana. Ihr Pferd tänzelte nervös, drohte durchzugehen.

»Ja.« Jonan warf einen Blick auf das Tor. Menschen stießen die wenigen Soldaten, die nicht auf die Straße gelaufen waren, zur Seite, flüchteten sich in die vermeintliche Sicherheit der Stadt.

»Durch das Tor«, sagte er. »Ich kümmere mich um sie.«

Er griff nach den Zügeln von Meries Pferd und rammte seinem eigenen die Fersen in die Flanken. Aus den Augenwinkeln sah er Ana kurz zögern, dann ritt auch sie los und tauchte in die Menge ein.

Er wandte sich ab. Die meisten Soldaten folgten Merie zu Fuß, nur zwei saßen auf Pferden. Sie stachen mit Speeren in das hohe Gras, in das sie sich zurückgezogen hatte. Die anderen blieben auf der Straße, trauten sich wohl nicht auf die Weide.

Merie schoss plötzlich an ihnen vorbei. Zwei Pfeile bohrten sich neben ihr in die Straße. Sie schlug einen Haken und entging so einem dritten. Dann verschwand sie wieder im Gras.

Sie spielt mit ihnen, dachte Jonan. Er hielt sich zurück, beobachtete, wie sich die Bogenschützen auf der Mauer nahe der Weide sammelten. Ein gebrüllter Befehl, dann ging eine Pfeilsalve im Gras nieder. Doch Merie war längst nicht mehr dort. Das Gras bewegte sich am Rande der Weide, in der Nähe einiger Bäume. Der Wind wehte Essiggeruch herüber.

Jonan sah zum Tor. Ana war verschwunden. Ruhig ritt er auf die Bäume zu, zog Meries Pferd hinter sich her. Die Soldaten beachteten ihn nicht. Sie beschossen immer noch die Weide.

Er fand Merie auf einem Baumstumpf sitzend, nackt, verschwitzt und schwer atmend.

»Sie ist drin, oder?«, sagte sie. Ihre Nacktheit schien sie nicht zu stören. »Ich hab's geschafft.«

Jonan antwortete nicht. Er griff in die Satteltasche ihres Pferdes, zog ohne hinzusehen etwas Kleidung heraus und warf sie Merie zu.

»Hast du die Soldaten gesehen, Jonan?« Sie fing Hose und Hemd. Ihre Stimme überschlug sich fast, so aufgeregt war sie. »Ich war viel schneller als sie. Ich war schneller als ihre Pfeile. Und die Gesichter der Menschen.« Sie grinste. »Hast du ihre Gesichter gesehen?«

Jonan stieg ab und ging auf sie zu. Ein bitterer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus, Vorbote dessen, was er nun tun musste.

Er holte kurz aus. Seine Ohrfeige hinterließ eine rote Spur auf ihrer Wange.

Merie wich zurück. Ihre Augen weiteten sich.

»Du hast mich angelogen«, sagte Jonan ruhig. Mit beiden Händen stieß er sie zurück.

Merie taumelte. »Ich habe Ana in die Stadt gebracht!«

»Es gab andere Möglichkeiten.« Er stieß sie erneut zurück. Sie musste sich an einem Ast festhalten, sonst wäre sie gestürzt. Das Grinsen war aus ihrem Gesicht verschwunden.

»Du hättest jemanden töten können.« Er drängte sie weiter nach hinten, einem Baum entgegen.

»Nein, ich weiß, was ich tue. Ich habe geübt, während du geschlafen hast.« Sie streckte abwehrend die Hände aus.

Er schlug sie beiseite. »Du weißt nichts!«

Merie zuckte zusammen. Mit dem Rücken prallte sie gegen den breiten Baum, auf den Jonan sie zugetrieben hatte.

Er ging näher heran, so nahe, dass er ihren Atem auf seinem Hals spürte. »Ich habe meine Mutter getötet, als die Bestie zum ersten Mal in mir brüllte. Hatten deine Eltern Angst vor dir? Meine Mutter hatte keine, aber ich glaube, deine Eltern waren klüger. Haben sie gewusst, was du bist? Haben sie dich weggeschickt, weil sie wussten, dass sie dir nicht trauen können? Dass du schwach bist?« Jedes Wort traf sie wie ein Schlag. Er fühlte sich schmutzig, aber er durfte nicht aufhören, noch nicht. »Waren sie erleichtert, als sie dich endlich los waren?«

Essiggestank stach ihm in die Nase. Ein Lidschlag, dann war aus dem Mädchen vor ihm ein Nachtschatten geworden, der mit seiner Klaue ausholte.

Merie war schnell, aber er war schneller. Seine Hand schloss sich um ihr Handgelenk. Seine Muskeln spannten sich, drückten gegen ihren Arm.

»Willst du das sein?«, fragte er. »Ein Schwächling, ein Feigling? Willst du dich den Rest deines Lebens hinter einer Bestie verstecken, wenn du vor etwas Angst bekommst?«

Ihre Klaue war keine Handbreit von seinem Gesicht entfernt. Jonan zeigte seine Erleichterung nicht, als sie zur Hand wurde. Er hätte sie nicht viel länger festhalten können.

Merie liefen Tränen über die Wangen. Er ließ nicht zu, dass ihn das berührte. Stattdessen drehte er sich um und ging zu den Pferden. »Zieh dich an«, sagte er. »Wir reiten in die Stadt.«

Sie nahmen einen Umweg durch den Wald, der sie zur Straße zurückbrachte. Jonan wollte nicht, dass die Soldaten ihn noch einmal auf der Weide sahen, denn dann hätten sie vielleicht doch Verdacht geschöpft.

Die Panik hatte sich gelegt, und dank des Sturms auf das Tor war die Reihe der Wartenden deutlich kürzer geworden. Noch immer waren die Pfeile der Bogenschützen auf die Weide gerichtet, aber die anderen Soldaten waren auf ihre Posten zurückgekehrt. Nur die aufgeregt miteinander redenden Bauern verrieten, dass etwas geschehen war.

Merie schloss zu Jonan auf. Ihre Tränen waren getrocknet. Sie hatte sich einen Umhang um die Schultern gelegt und führte ihr Pferd an den Zügeln, so wie er.

»Der Test mit der Goldmünze«, sagte sie leise, während sie sich Schritt für Schritt dem Stadttor näherten. »Wird er uns wirklich nicht verraten?«

»Nein.« Jonan hatte erwartet, sie würde mit ihm über das sprechen wollen, was im Wald geschehen war, aber vielleicht war es dazu noch zu früh.

»Bist du sicher?« Merie sah nervös zu den Wachen.

»Ich habe jemandem gedient, der sie alle ausprobiert hat, diese Tests. Glaub mir, ich bin mir sicher.«

Trotzdem fühlte er sich ein wenig erleichtert, als der Soldat am Tor die Münze auf seine Stirn legte und »Weiter« sagte.

Merie folgte ihm nur einen Moment später. Jonan sah, dass ihre Hände zitterten.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte er. »Dir wird nichts geschehen.«

Sie kam näher an ihn heran, flüsterte ihm fast ins Ohr: »Und wenn ich mich aus Angst verwandele, so wie eben?«

»Das wirst du nicht. Ich achte auf dich.« Jonan wechselte das Thema, versuchte nicht daran zu denken, dass er für diese Angst verantwortlich war. Sie hatte die Worte hören müssen, und außer ihm hatte sie niemand sagen können. »Wir müssen Ana finden. Sie ist bestimmt nicht am Tor geblieben.«

Merie stellte sich auf die Zehenspitzen, versuchte über die Bauern, Händler und Bettler in den Gassen hinwegzublicken. »Wo ist denn der Hafen?«

Jonan sah einen zerlumpten einarmigen Bettler an, der auf einer Kiste saß. »Zum Hafen?«

Der Mann streckte seine verbliebene Hand aus. »Du hilfst mir, ich helf dir.«

Jonan zog eine Kupfermünze aus der Tasche und reichte sie ihm.

»Danke.« Der Mann zeigte in die Gasse, die neben ihm abzweigte. »Hier entlang und dann rechts. Ist 'ne Abkürzung.«

Die Gasse war schmal und stank nach Urin. Es gab nur wenige Türen in den Holzhäusern, die sie säumten, und keine Fenster. Jonan ging tiefer in sie hinein.

Merie zog den Umhang vor Mund und Nase. »Hier soll es zum Hafen gehen?«

Er zeigte nach vorn. »Da ist die Abzweigung.«

Drei Schritte, dann bog er nach rechts ab und blieb abrupt stehen. Die Gasse endete in einer Häuserwand. Hinter ihm wurde eine Tür geöffnet.

»Lasst die Pferde los, legt euren Besitz auf den Boden, dann passiert keinem was«, sagte eine dunkle Stimme.

Jonan fuhr herum. Drei Männer kamen aus einem kleinen Raum hinter der Tür und verteilten sich vor ihm. Zwei hielten Knüppel in der Hand, der dritte ein Messer. Alle drei hatten aufgedunsene Trinkergesichter.

Merie drückte sich hinter Jonan gegen die Wand. Sie atmete schwer.

»Das Mädchen kannst du auch hierlassen«, sagte der Mann mit dem Messer. Er grinste und zeigte eine Handvoll schwarzer Zahnstummel.

Jonan warf Merie einen kurzen Blick zu. »Bleib ruhig. Es ist alles in Ordnung.«

»Das würde ich nicht sagen.« Der größte der drei Männer schlug mit seinem Knüppel leicht gegen die Wand, ein hohles, drohendes Geräusch.

Jonan war mit einem Schritt bei ihm. Der Knüppel fiel zu Boden, als er dem Mann die Schulter auskugelte. Sein Ellenbogen traf das Genick, bevor er einen Schrei ausstoßen konnte. Die beiden anderen Männer lagen nur Lidschläge später am Boden, ohne dass Jonan seine Schwerter gezogen hatte. Er wusste nicht, ob der Blutgeruch die Bestie in Merie wecken würde.

»Siehst du?«, sagte er, während er die Taschen der Männer durchsuchte. »Alles in Ordnung.«

Er hörte, wie sich ihr Atem beruhigte. »Was machst du da?«, fragte sie.

»Wir brauchen Geld für die Überfahrt.« Er fand ein paar Münzen, sonst nichts. In dem Raum, aus dem sie gekommen waren, gab es nur Stroh und leere Krüge.

Jonan stieg über die Männer hinweg. Merie folgte ihm.

Als sie den Anfang der Gasse erreichten, war der Bettler verschwunden. Ich hätte die Falle erkennen müssen, dachte er. Stattdessen war er wie ein Narr hineingetappt, hatte sich zu sehr von seinen Gedanken ablenken lassen.

Jonan fragte eine Frau nach dem Weg. Sie schickte ihn und Merie die breite Gasse hinunter und an einem großen Marktplatz vorbei.

Jonan roch das Meer, noch bevor er die Masten der Schiffe hinter den Häusern auftauchen sah.

»Jonan! Merie!« Ana stand auf einem Mauervorsprung und winkte ihnen zu. Sie sprang hinunter, als sie näher kamen. Ihr Blick blieb an Merie hängen.

»Es ist alles geklärt«, sagte Jonan, bevor sie fragen konnte.

»Gut.« Ana nahm die Zügel ihres Pferdes und schloss sich ihnen an. Jonan war ihr dankbar dafür, dass sie keine Fragen stellte.

Der Hafen war kleiner, als er erwartet hatte. Gerade mal drei Schiffe lagen an den Anlegestellen. Das größte von ihnen, das den Fahnen nach aus Bochat kam, wurde gerade entladen. Kisten, Fässer und Stoffballen wurden herausgetragen. Ein Matrose führte zwei Pferde an Land.

Jonan stutzte, als er den gesattelten schwarzen Hengst sah, doch bevor er seine Gedanken ordnen konnte, sagte Ana: »Ich habe mit einem der Kapitäne gesprochen. Er glaubt auch, dass der Hafen in Somerstorm eisfrei ist. Sein Schiff legt morgen früh ab.«

Jonan nickte. »Wir müssen die Pferde verkaufen. Das Geld, was wir haben, wird nicht reichen, um ihn zu bezahlen.«

»Und was machen wir ohne Pferde in Somerstorm?«, fragte Merie.

»Uns fällt schon etwas ein.«

Jonan drehte sich zu dem Schiff aus Bochat um. Die ersten Passagiere gingen über eine breite Planke von Bord. Es waren Soldaten. Er sah, dass sie die Farben Westfalls trugen.

Also keine Deserteure, dachte er.

»Hast du mir zugehört?«, fragte Ana.

»Nein«, sagte Jonan, ohne sich zu ihr umzudrehen. »Wartet einen Moment.«

Er ging langsam auf das Schiff zu, blieb aber stehen, als er einen Mann am Bug auftauchen sah. Kleine Fahnen, die an Seilen flatterten, verdeckten sein Gesicht, aber Jonan sah an seinen Gesten, dass er sich mit jemandem stritt, der nicht zu sehen war.

Nach einem Moment hob der Mann sichtlich frustriert die Arme und ging an der Reling entlang auf die Planke zu. Jonan beobachtete ihn. Ein Windstoß ließ die Fahnen emporflattern. Der Mann blieb auf der Planke stehen, sah in seine Richtung.

Jonan zuckte zusammen. Korvellan.

Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass Ana und Merie neben ihn getreten waren.

»Stimmt etwas nicht?« Merie klang besorgt.

»Korvellan«, sagte Jonan.

»Was?« Ana ergriff seine Hand. »Wo ist er?«

»Er steht neben dem schwarzen Hengst.«

»Wer ist das?«, fragte Merie. »Ana, wieso hast du Angst vor ihm?«

Korvellan fuhr plötzlich herum. Sein Blick traf Jonans, erkannte ihn. Doch dann glitt der Blick zu Ana und …

»Merie!«, rief Korvellan. Er lief los. »Merie!«

Essiggeruch hüllte Jonan ein.

Merie knurrte.