Kapitel 15

 

Der Gedanke an einen großen Krieg erfüllt die, die ihn am Horizont wie ein Gewitter aufziehen sehen, mit Schrecken. Doch wenn Frieden über dem Land liegt und Schwerter die Wände von Bankettsälen und nicht die Gürtel von Kriegern zieren, dann fühlt sich der Reisende hingezogen zu den Orten großer Schlachten. Philosophen mögen sich mit der Frage beschäftigen, weshalb es vor allem die vernichtenden Niederlagen sind, die seinen Geist beflügeln.

Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 1

 

»Wach auf«, flüsterte Daneel. »Die Festung brennt.«

Schwarzklaue öffnete die Augen. Rauchschwaden zogen über einen blauen Himmel. Er setzte sich auf. Die anderen Nachtschatten schliefen noch, bis auf die Wachen, die am Rand der Wiese standen, die Schwarzklaue sich als Schlafplatz ausgesucht hatte. In der Stadt war es zu gefährlich geworden. Die Feuer breiteten sich immer weiter aus, ständig stürzten Gebäude ein. Er mochte die Geräusche der Balken, wenn sie zerbrachen, und die Funken, die in den Himmel stiegen und aussahen, als würden sie zu Sternen werden.

Trotzdem hatte er sich aus der Stadt zurückgezogen. Die anderen waren ihm gefolgt. Sie vertrauten ihm, so wie Daneel es vorhergesagt hatte.

Schwarzklaue stand auf, streckte sich und ging zu einem Baum. Während er gegen den Stamm urinierte, sah er sich um. Redalyo, der gerade so weit entfernt von ihm schlief, dass es nicht aussah, als habe er Angst, wachte ebenfalls auf; Schwarzklaue hörte es an seinem Atem.

Daneel war nirgends zu sehen. Seit er ihm geholfen hatte, seine Krieger zum Bleiben zu bewegen, war er nur noch selten gekommen. Schwarzklaue fragte sich, wo er hinging, wenn er nicht bei ihm war.

Er drehte sich um und verharrte mitten im Schritt. Der Rauch, den er am Himmel gesehen hatte, stammte nicht von der Stadt. Der Wind wehte ihn über die Hügel, und es gab nur einen Ort, der dort lag.

Es war kein Traum, dachte Schwarzklaue. Die Festung brennt wirklich.

Er trat einem schlafenden Nachtschatten in den Hintern. »Aufstehen!«, brüllte er über die Wiese. Sein Rücken straffte sich. Er fühlte sich so wach wie selten zuvor in seinem Leben. Um ihn herum kamen Nachtschatten gähnend auf die Beine.

Schwarzklaue wartete, bis sich ihre Blicke auf ihn richteten, dann zeigte er auf den Rauch hinter dem Hügel. »Heute ist unser Tag«, sagte er. Mehr nicht. Es reichte.

Sie stürmten den Hügel hinauf, mit Klauen, Schwertern, Speeren, auf Pferden und Tatzen. Zum letzten Mal warfen sie sich der Festung entgegen, das spürte Schwarzklaue. Der Geruch nach Blut und Rauch hing in der Luft, forderte ihn heraus.

Er dachte an Korvellan. Ich werde es auch ohne dich schaffen.

Aus den Augenwinkeln sah er, dass Redalyo neben ihm den Hügel hinaufritt. Der Feigling trug einen Helm und eine Brustplatte aus Metall. Zwei Langschwerter hingen an seinen Hüften. Er sah beinahe aus wie ein Mensch. Schwarzklaue schüttelte den Kopf.

Langsam kam die Festung näher. Zuerst schoben sich die Türme hinter der Hügelkuppe empor, dann das Dach des Haupthauses. Rauch quoll aus einigen Fenstern. Auf den Mauern standen Soldaten, doch sie sahen ins Innere der Festung, nicht hinaus. Der Wind trug ihre Schreie über den Hügel.

»Was ist da los?«, fragte Redalyo.

Im nächsten Moment explodierte das Tor. Eine Wolke aus Holzsplittern und Metallstaub hüllte die Mauern ein und fiel dann in sich zusammen. Das Tor war verschwunden, der Weg in die Festung frei.

Schwarzklaue sah Magier, die ungeschützt von Soldaten und Schilden vor die Mauern traten. Eine rote Robe – oder war es ein Kleid? – blitzte zwischen ihnen auf, die einzig leuchtende Farbe in dieser rußgrauen Prozession.

Schwarzklaue knurrte, als er sah, dass Nachtschatten, die näher an den Magiern waren, zum Angriff ansetzten. Er war noch mehr als drei Speerwürfe von ihnen entfernt. Nichts mehr würde von ihnen übrig sein, wenn er dort ankam.

Die Nachtschatten brachen zusammen. Schwarzklaue roch ihren Tod und brüllte den Magiern seine Wut entgegen. Ein seltsam metallischer Geschmack lag auf seiner Zunge, süßer als Blut, bitterer als Galle. Die Luft knisterte. Er spürte, wie sich das Fell in seinem Nacken aufstellte.

Die Magier gingen den Hügel hinab, als wäre nichts geschehen. Das rote Kleid zwischen ihnen wehte im Wind. Schwarzklaue erhaschte einen kurzen Blick auf das Gesicht einer jungen Frau. Er fühlte sich unwohl, wie jemand auf einem Schiff, der wusste, dass er bald seekrank werden würde. Schwarzklaue schüttelte sich und sah weg. Das Gefühl verging.

»Was jetzt?«, fragte Redalyo. Sein Pferd tänzelte nervös.

»Lass sie ziehen.« Fünfzig Krieger hatten sie in einem einzigen Lidschlag getötet. Er und der Feigling würden nichts gegen sie ausrichten können. Die anderen Krieger schienen ebenso zu denken, denn sie folgten den Magiern nicht, sondern wandten sich wieder der Festung zu.

Schwarzklaue sah der Prozession nach. Sie bewegte sich in Richtung Stadt. Es wirkte nicht so, als würden die Magier noch einmal zurückkehren.

Umso besser, dachte er und lief los. Redalyo blieb in seiner Nähe.

Schwarzklaue wich vereinzelten Pfeilen aus. Die Bogenschützen, die so viele Krieger getötet hatten, waren größtenteils von den Türmen verschwunden. Die gesamte Verteidigung der Festung war zusammengebrochen, aber Schwarzklaue verstand nicht, weshalb.

Doch dann sah er die weißen Leiber, die sich ihm entgegenschoben, und hörte die bestürzten Rufe einiger Krieger.

»Besessene!«

Der Sturm auf die Festung stockte. Redalyo zügelte sein Pferd. Schwarzklaue sah ihn an. »Was soll das heißen?«, brüllte er. Die aufgequollenen weißen Leiber widerten ihn an. Sie stanken nach Wahnsinn.

Redalyo schien im Sattel zusammenzusinken. »Es sind Menschen, die Dämonen in sich tragen. Wer sie eigenhändig tötet, lässt den Dämon frei und wird dafür von den Göttern verdammt.«

Schwarzklaue knurrte. »Wer glaubt denn so eine Scheiße?«

»Jeder im Süden glaubt daran. Wir lassen Besessene verhungern oder jagen sie in die Sümpfe, um sie loszuwerden. Niemand würde einen umbringen.«

Der Feigling hatte recht. Die Krieger, die aus dem Süden stammten, versuchten den Besessenen auszuweichen, während die aus dem Norden sie zerfleischten. Im Norden gab es keinen Platz für dummen Aberglauben. Es gab Feinde und Freunde. Den Feind tötete man, dem Freund half man. Um die Toten kümmerten sich die Götter. So war es immer gewesen, so würde es immer sein. Manchmal vermisste Schwarzklaue den Norden so sehr, dass er den Schnee auf der Zunge schmeckte.

»Sammle die Krieger aus dem Süden«, sagte er schließlich.

»Wenn sie zu feige für die Verdammnis sind, dann sollen sie wenigstens die Soldaten von den Mauern holen.«

Redalyo presste die Lippen aufeinander. »Ich werde sie darum bitten.«

Schwarzklaue wandte sich ab, bevor Redalyo den Satz zu Ende gesprochen hatte. Mit langen Sätzen stürmte er auf die Festung zu. Der Gestank der Besessenen hüllte ihn ein, als er zwischen sie sprang und ihre Bäuche mit seinen Klauen aufriss.

Ihr Blut spritzte über sein Fell. Blind schlugen sie um sich. Er wich ihren Händen aus, wühlte sich tiefer in die Menge hinein.

Die Krieger aus dem Norden folgten ihm. Die Besessenen waren schwach. Ihr Fleisch hing von den Knochen herab, ihre aufgeblähten Bäuche wölbten sich über Beine, die so dick waren wie Schwarzklaues Arme. Doch es waren viele, viel mehr, als er anfangs gedacht hatte. Sie drohten ihn zu erdrücken.

Schwarzklaue schlitterte über die blutigen Steine. Sein Atem ging schwer, Müdigkeit zog seine Arme nach unten. Die Schläge, die ihn zufällig trafen, begannen zu schmerzen, als die Lust am Kampf nachließ. Rauchschwaden reizten seine Kehle.

Mit der Schulter prallte er gegen einen Mauervorsprung. Er trat die Hände einiger Besessener zur Seite und zog sich an dem Vorsprung hoch. Andere Krieger folgten ihm. Sie waren zu fünft und blutverschmiert. Einige hatten Waffen gefunden, mit denen sie auf die Besessenen einstachen.

Schwarzklaue sah über die Köpfe der Wahnsinnigen hinweg. Es waren Dutzende. Hunderte andere lagen tot oder verletzt am Boden. Doch auch Kriegerleichen sah er darunter, mehr, als er befürchtet hatte.

Schwarzklaue drehte den Kopf, als er ein Pferd laut wiehern hörte. Hufschlag hallte von den Wänden und Mauern wider, machte es fast unmöglich, die Richtung, aus der die Pferde kamen, abzuschätzen. Es waren zwei, das hörte Schwarzklaue deutlich, aber er sah sie erst, als sie schon fast das Haupthaus erreicht hatten.

Schwarzklaue stieß den Atem aus. »Korvellan?«

Die Krieger, die neben ihm standen, rissen die Köpfe hoch. Die plötzliche Freude in ihren Gesichtern versetzte ihm einen Stich. »Korvellan!«, rief einer.

Der General schien ihn über den Lärm der Besessenen nicht zu hören. Er saß auf dem ersten der beiden Pferde und zog das zweite an den Zügeln hinter sich her. Der Reiter darauf hielt sich ungeschickt fest.

Schwarzklaue nahm zwei Schritte Anlauf und sprang über die Menge hinweg. Er prallte gegen einen Besessenen, den er zur Seite stieß, gegen einen zweiten, dem er die Kehle aufriss, dann war er an ihnen vorbei, schlitterte über die Steine auf die beiden Reiter zu. Vor dem Torbogen richtete er sich auf. Die Pferde galoppierten auf ihn zu.

»Korvellan!« Schwarzklaue sah ihm in die Augen. Es lag eine Trauer darin, die ihn verwirrte. »Sprich mit mir!«, schrie er. »Korvellan!«

Korvellan wich seinem Blick aus. Die Hufe seines Pferdes verließen den Stein, sanken in den blutigen Schlamm vor dem Torbogen. Er würde es nicht zügeln, das erkannte Schwarzklaue im gleichen Moment.

Er warf sich zur Seite, kam im Schlamm auf und rutschte weg, dann kämpfte er sich fluchend wieder hoch. Die Pferde donnerten an ihm vorbei, hinaus aus der Festung.

Einer der Nachtschatten aus dem Süden, der Soldaten abfing, die aus der Festung zu fliehen versuchten, riss seinen Bogen hoch, zielte damit auf den Menschen, der auf dem zweiten Pferd saß.

Korvellan ließ die Zügel seines Pferdes los und zog ein Schwert aus dem Gürtel. Noch während der andere Nachtschatten anlegte, holte er damit aus und schleuderte es ihm entgegen. Es spaltete den Kopf des Kriegers. Der Pfeil löste sich von der Sehne und schoss hoch in den Himmel.

Schwarzklaue brüllte.

Die Festung brannte.

Schwarzklaue hockte auf einem der Wehrgänge neben dem Torbogen und sah zu, wie sich die Flammen Raum für Raum, Fenster für Fenster ausbreiteten. Es würde Tage dauern, bis das Feuer die von den Jahrhunderten gehärteten Balken zerfressen hatte, Jahre, bis die steinernen Wände verfielen und unter Moos und Efeu verschwanden, bis die Festung und die Stadt zu ihren Füßen nur noch dunkle Erinnerungen waren.

Aber es wird geschehen, dachte Schwarzklaue. Der Gedanke tröstete ihn.

Er streckte sich. Seine Muskeln schmerzten, sein Fell war blutverklebt und schmutzig. Der Geruch nach Wahnsinn lag auf seiner Zunge, die Erkenntnis des Verrats vergiftete seinen Geist. Er wünschte, es würde regnen, aber der Himmel war klar.

Im Hof suchten die Krieger aus dem Norden nach letzten Überlebenden. Gelegentlich hörte Schwarzklaue den Schrei eines sterbenden Besessenen. Draußen vor der Festung redeten die Krieger aus dem Süden miteinander. Er vernahm ihre Stimmen – um genau zu sein, hörte er fast nur Redalyos Stimme. Auch ohne die Worte zu verstehen, wusste er, um was es bei diesem Treffen ging und wie es ausgehen würde.

»Schwarzklaue.« Die Stimme eines Kriegers riss ihn aus seinen Gedanken. Sein Name war Narbenrücken, eine Erinnerung an das Feuer, in das er als Säugling gefallen war.

»Sieh mal, was ich gefunden habe«, sagte er und zeigte mit einer Klaue auf den Jungen, den er am Arm gefasst hatte. »Lag hinten zwischen den Unterständen.«

Schwarzklaue sah die seltsame Mischung aus Mensch und Nachtschatten an. »Verwandle dich gefälligst vernünftig!«, brüllte er.

Der Junge zuckte zusammen und wand sich in Narbenrückens Griff, doch der hielt ihn fest. Schwarzklaue bemerkte, dass er Ketten trug.

»Was willst du mit ihm machen?«, fragte der Krieger.

Schwarzklaue hob die Schultern. »Nichts. Wenn er so leben will, dann ist das seine Sache.«

»Wie du meinst.« Narbenrücken stieß den Jungen auf den Torbogen zu. »Verschwinde!«

Die halb verwandelte Kreatur stolperte und wäre beinahe in den Schlamm gefallen. Dann fing sie sich und lief aus der Festung hinaus, vorbei an Redalyo, der ihr kopfschüttelnd nachsah.

»Was war das?«, fragte er.

»Das spielt keine Rolle.« Schwarzklaue sprang von der Mauer. Zufrieden bemerkte er, wie der Feigling zusammenzuckte, als er dicht vor ihm landete. »Was willst du?«

»Wir …« Redalyo zögerte. »Die Krieger aus dem Süden haben etwas beschlossen.« Er trat einen Schritt zurück. »Sie wollen den Feldzug beenden.«

»Wollen sie das?« Aus den Augenwinkeln sah Schwarzklaue, dass Narbenrücken die anderen Krieger aus dem Norden heranwinkte.

Redalyo schien das ebenfalls zu bemerken, denn er wartete mit seiner Antwort, bis sie herangekommen waren.

»Sie denken«, sagte er dann, »dass wir uns ans andere Ufer des Großen Flusses zurückziehen sollten. Viele sind bereits dorthin gegangen. In den Wäldern gibt es genügend Wild für alle. Wir werden dort in Freiheit leben können.«

»Wir können hier in Freiheit leben.« Schwarzklaue streckte die Arme aus. »Wir haben Westfall genommen!«

»Westfall ist gefallen, aber wir haben es nicht genommen.« Redalyo verzog das Gesicht. »Ich weiß nicht, was hier geschehen ist, aber seit Korvellan uns verlassen hat, rennen wir auf einen Abgrund zu.«

Graunacken, einer der Krieger aus dem Norden, verschränkte die Arme vor der Brust. »Korvellan wollte nicht, dass wir Westfall angreifen«, sagte er. »Wir haben ihn enttäuscht. Deshalb ist er heute davongeritten.«

Schwarzklaue hätte ihm am liebsten die Zunge herausgerissen. »Seit Korvellan weg ist«, sagte er mühsam ruhig – wenn doch nur Daneel da gewesen wäre –, »haben wir Srzanizar niedergebrannt und Westfall. So könnte es weitergehen. Eine Stadt nach der anderen, bis die ganze Welt brennt.« Er sah die Krieger an. »Wollt ihr denn nicht die Welt brennen sehen?«

Sie senkten die Blicke.

»Niemand außer dir will das«, sagte Redalyo nach einem Moment. »Wir wollen in Freiheit leben, das ist alles.«

Er drehte sich um und ging durch den Torbogen. Graunacken und Narbenrücken folgten ihm, dann die anderen Krieger. Sie sahen einander nicht an, sprachen kein Wort, gingen nur schweigend durch das Tor und langsam den Hügel hinab.

Die Krieger aus dem Süden schlossen sich ihnen an. Schwarzklaue roch ihre Scham. Er sah ihnen nach, bis auch der Letzte hinter der Hügelkuppe verschwunden war.

Deine Schuld, Korvellan, deine große Schuld.

Ein Knacken ließ ihn herumfahren.

Der Junge stand im Gras, gekrümmt, sein Gesicht halb von Haut und halb von Fell bedeckt. Sein Adamsapfel hüpfte im Hals auf und ab, sein Mund öffnete sich.

»Ich …« Er sprach mit der krächzenden Stimme eines alten Mannes. »Ich … will die Welt brennen sehen.«