Kapitel 32

 

Vieles kann der Reisende von den Seefahrern des Nordens lernen. Sie wissen, dass Eis mächtiger ist als Holz und die Wellen stärker als die Arme eines Schwimmers. Doch weshalb sie Tag für Tag hinausfahren und sich ihrem unbesiegbaren Gegner stellen, vermögen auch sie nicht zu sagen.

Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2

 

Als die Eisschollen vor dem Bug des kleinen Fischerboots auftauchten, wusste Schwarzklaue, dass die Fahrt zu Ende war.

»Wir müssen an Land«, sagte er, während er das Ruder zur Seite drückte.

Halbmond hob den Kopf und blickte über die Reling auf die felsige Küste. Er hatte unter einer Decke geschlafen.

Er schläft viel, dachte Schwarzklaue, fast so viel wie ein Mensch.

Das Schiff, auf dem sich Korvellan und Craymorus befanden, war längst verschwunden. Schwarzklaue hatte es nicht gewagt, ihm auf das offene Meer zu folgen, war stattdessen in Sichtweite der Küste geblieben. Seit zwei Tagen waren sie bereits unterwegs, aber er wusste nicht, wie weit sie gekommen waren.

Er wich einer Eisscholle aus, die höher als ein Baum und breiter als ein Haus war. Das Boot war wendig und schnell. An Felsen, Eisschollen und Klippen vorbei lenkte er es zur Küste. Wellen trugen es bis auf den Strand.

Schwarzklaue sprang ins Wasser und watete an Land. Vor ihm türmten sich dunkle Klippen auf. Seevögel kreisten hoch über seinem Kopf. Es war ein grauer Tag. Die tief hängenden Wolken schienen mit dem Meer zu verschmelzen. Schwarzklaue roch den Schnee, der in der Luft lag. Es war kalt geworden.

Halbmond schloss zu ihm auf. Er hatte sich die Decke um die Schultern gelegt, als wäre er eine alte Frau. Schwarzklaue hätte ihn beinahe zurechtgewiesen, doch er schluckte die Worte hinunter.

»Komm«, sagte er.

Halbmond nickte.

Sie blieben am Ufer. Es schien keinen Weg über die Klippen zu geben, aber nach einer Weile wurden sie niedriger, und schließlich fand Schwarzklaue eine Lücke zwischen ihnen. Der Weg war offensichtlich von Menschen in den Fels geschlagen worden. Stufen führten nach oben, die Seitenwände waren mit Schriftzeichen bedeckt. Er verstand nicht, warum Menschen Steine und Bäume – alles, was älter war als sie selbst – mit ihren Spuren versahen.

Für wen tun sie das?, fragte er sich, als er das Ende des Weges erreichte und die Ebene an der Spitze der Klippen betrat.

Er sah zurück zum Meer, das tief unter ihm gegen das Ufer anstürmte. Die Wellen waren höher geworden. Weiße Gischt bedeckte sie. Die Wolken hatten sich schwarz gefärbt. Über dem Meer regnete es.

Schwarzklaue wandte sich nach Nordosten, weg von den Klippen, tiefer in das Land hinein. Halbmond folgte ihm. Seine Lippen zitterten bei jedem Windstoß. Ihm war kalt.

Die Ebene schien unbewohnt zu sein. Kurzes gelbes Gras bedeckte sie, der Boden war karg und trocken. Schwarzklaue sah Vögel und Mäuse, aber keine größeren Tiere. Aus Langeweile jagte er eine Maus, aber sie verschwand in einem Loch, bevor er sie erwischen konnte. Halbmond lachte darüber. Es war der erste Laut, den er seit dem Tod seiner Eltern von sich gab.

Es wurde allmählich dunkel, als Schwarzklaue auf einen Weg stieß. Er führte nach Norden. Eine Weile ging es bergab. Das Land wurde hügeliger und grüner, der Wind ließ nach. In einem kleinen Tal entdeckte Halbmond eine Hütte. Schwarzklaue tötete den alten Mann, der darin saß, und gab dem Jungen dessen Kleidung. Sie war zu groß, aber warm.

Er zog die Leiche aus der Hütte und schlachtete eines der Schafe, die im Tal grasten. Er kochte das Fleisch, dann aßen er und Halbmond es mit etwas Brot vom Tisch des alten Mannes. Sie tranken warmes Bier. Draußen begann es zu regnen.

Sie schliefen bis zum Morgen. Schwarzklaue zündete die Hütte an und sah zu, wie der dunkle Rauch in den wolkenverhangenen Himmel stieg. Dann zogen sie weiter.

Gegen Mittag stießen sie auf einen Hof. Schwarzklaue tötete die Männer auf den Feldern und die Frauen im Haus. Er zündete auch den Hof an.

»Korvellan soll wissen, dass ich komme«, sagte er auf Halbmonds fragenden Blick.

Der Weg führte sie vom Hof zu einer Straße. Sie wandten sich nach Norden und liefen los, nicht verstohlen und im Schutz der Nacht wie Feiglinge, sondern offen im Tageslicht.

Wie Krieger.