Kapitel 8
Dem Reisenden, der Somerstorms Hafen besucht, wird auffallen, dass es dort keine Stadt gibt und kein Dorf. Einsam ragt der steinerne Pier ins Meer. Die Stürme, die im Herbst und im Winter darüber hinwegfegen, würden jede Hütte niederreißen, die Flutwellen im Frühjahr jedes Gebäude wegspülen. Nur im kurzen Sommer erwacht der Hafen zum Leben. Dann erstrecken sich die Zelte der Händler, Gaukler und Kaufwilligen bis weit in das Land hinein, nur um mit Beginn des Herbstes wie ein Spuk wieder zu verschwinden.
Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2
Es war noch dunkel, als die Geräusche der Küche einsetzten. Gerit erwachte zum Klappern der Töpfe, dem Klimpern des Geschirrs und dem Schleifen der Wetzsteine. Er drehte sich auf den Rücken, ohne die Augen zu öffnen, lauschte der Arbeit der Köche und Bäcker. Damals, in diesem anderen Leben, das immer mehr zum Traum wurde, hatten Sklaven all die Arbeiten in der Festung erledigt. Niemals hätte der Sohn des Fürsten bei ihnen schlafen können, hätte es auch gar nicht gewollt. Doch es gab längst keine Sklaven mehr und auch keinen Fürsten.
Die Gefühle, die er empfand, wenn er daran dachte, waren seltsam, so als wolle er gleichzeitig lachen und weinen.
Perres, ein älterer Nachtschatten aus Lak-Binnou und der beste Koch der Festung, begann zu singen. Er hatte eine raue, schräge Stimme, die nicht zu den weichen Balladen seiner Heimat passte, sang aber nichts anderes, auch nicht, wenn man ihn darum bat.
Gerit öffnete die Augen und setzte sich auf. Unwillkürlich sah er neben sich, aber Mamee war bereits aufgestanden. Die Nachtschatten in der Küche wechselten sich mit ihren Aufgaben ab. An diesem Morgen musste Mamee die Maka-Wurzeln aus dem Vorratskeller holen und klein schneiden. Niemand beschwerte sich, aber Gerit wusste, dass die Wurzeln allen aus dem Hals hingen. Sie schmeckten nach nichts, und selbst Perres konnte ohne Gewürze und Kräuter daran kaum etwas ändern.
Das war einer der Gründe, weshalb er die Mine trotz des Winters weiterbetrieb, die Produktion sogar erhöht hatte. Sobald der Hafen eisfrei war und die ersten Schiffe aus Zvaran und Bochat eintrafen, würde er all die Dinge kaufen, von denen sie seit einigen Blindnächten nur träumen konnten: Honig, Pfefferschoten, Tempelkraut, Süßschluppen und Ewigtreu. Gerit hatte alles auf eine Liste geschrieben, aber niemandem etwas davon gesagt, selbst Mamee nicht. Es sollte eine Überraschung sein.
Er schlug die Decke zurück und stand auf. Perres und Seidenfell nickten ihm zu, als er durch die Küche ging und seine Stiefel an der Tür anzog. Er kochte, sie knetete Brotteig. Eis bedeckte die Scheiben von innen und von außen, dämpfte das graue Morgenlicht.
Perres unterbrach seinen Gesang. »Du kannst heißes Wasser haben, wenn du willst.«
»Gern, danke.« Gerit schob ihm eine Schüssel herüber. Perres schöpfte dampfendes Wasser aus dem Topf, der über der Feuerstelle hing, und schüttete es in die Schüssel. Dann sang er weiter.
Gerit verstand nicht alles, aber in dem Lied ging es wohl um einen Seemann, der auf den Großen Fluss hinausfuhr und nicht mehr nach Hause fand.
Er wartete, bis das Wasser etwas abgekühlt war, dann zog er sein Hemd aus und begann sich zu waschen. Die Nachtschatten aus dem Norden hatten gelacht, als sie seine haarlose weiße Brust zum ersten Mal sahen, aber er hatte entschieden mitzulachen, und seitdem ließen sie ihn in Ruhe.
Entscheidungen, dachte er, als warmes Wasser über seinen Hals rann. Alles ist die eigene Entscheidung, selbst das, was andere dir antun.
Daran glaubten die Nachtschatten, zumindest hatten die Krieger aus dem Norden es ihm so erklärt. Nachtschatten aus dem Süden neigten dazu, nicht ganz so strikt zu sein. Viele von ihnen hatten erst gelernt, was es hieß, ein Nachtschatten zu sein, als sie sich der Armee anschlossen. Die meisten waren aus Verbindungen zwischen Nachtschatten und Menschen hervorgegangen, hatten unerkannt unter Menschen gelebt und deren Verhalten angenommen. Sie beteten noch immer zu ihren alten Göttern und sagten wir und uns, wenn sie über Ereignisse in den Provinzen redeten, aus denen sie stammten. Bei manchen hatte Gerit den Eindruck, dass sie nicht ganz sicher wussten, was sie eigentlich waren. Er verstand das.
Die Tür wurde geöffnet. Eis fiel klirrend zu Boden, Kerzen flackerten. Ein eisiger Wind traf Gerit. Rasch zog er sein Hemd über.
»Die untersten Wurzeln sind schon verfault«, sagte Mamee, als sie die Tür hinter sich schloss. Sie trug einen Korb mit Maka-Wurzeln auf dem Rücken. »Ich denke, wir sollten Zwischenböden bauen, damit das Gewicht sich besser verteilt.«
»Oder die Wurzeln regelmäßig umschichten.« Gerit schob die Schüssel beiseite. »Wir müssen mit unserem Holz sparsam sein.«
»Es ist deine Entscheidung, Verwalter.« Mamee lächelte und setzte den Korb ab.
Sie und Gerit schliefen fast jede Nacht miteinander. Die Nachtschatten schien es nicht zu stören, wenn andere dabei im Zimmer waren, denn niemand hatte je etwas gesagt. Gerit hatte sich daran gewöhnt. Nur ab und zu gingen er und Mamee in eines der Gästezimmer im Herrschaftstrakt.
»Ich kümmere mich darum.« Er stand auf und zog einen der schweren Pelze über, die neben der Tür an Haken hingen. »Wenn mich jemand sucht, ich mache meinen Kontrollgang.«
Perres brach sein Lied ab. Es war immer noch das gleiche. Er schien besonderen Gefallen daran zu finden. »Frühstück gibt es nach Sonnenaufgang. Warte nicht zu lange, wenn du etwas davon haben willst.«
Gerit nickte. Er band die Pelze vor seiner Brust zusammen, trotzdem traf ihn die Kälte hart, als er die Küche verließ. Der erste Atemzug ließ ihn husten.
Er erwartete, seinen Atem klirren zu hören, aber er gefror nicht vor ihm wie noch zwei Tage zuvor. Es wurde wärmer.
Ein Tritt gegen das Regenfass, das neben der Tür zur Küche stand, genügte, um diesen Eindruck zu bestätigen. Wasser gluckste leise darin. Noch wenige Tage zuvor war es vollständig gefroren gewesen, doch nun waren mindestens zwei Handbreit flüssig.
Der Eisenring, der den Wasserstand markierte, bei dem ein eisfreier Hafen wahrscheinlich war, lag eine weitere Handbreit darüber. Seit Jahrhunderten wurde er regelmäßig erneuert. Gerit fragte sich, wer vor so langer Zeit zum ersten Mal erkannt hatte, dass es einen Zusammenhang zwischen der Eisfreiheit des Regenfasses und der des Hafens gab.
Er sah zum Tor. Es war geschlossen. Nachtschatten standen auf den Mauern. Kohlepfannen glühten neben ihnen. Nur die Krieger aus dem Norden wachten auf den Mauern und Türmen. Sie trotzten der Kälte wie kein anderer. Gerit wusste, dass sie stolz darauf waren, deshalb erwähnte er es, so oft es ging.
Er schritt die Mauern ab, so wie er es gesagt hatte, achtete darauf, dass genügend Kohle für die Pfannen da war und dass Perres den Tee für die Wachen nicht vergessen hatte. Er achtete darauf, dass man ihn sah, als er den Keller betrat, in dem Mamee die verfaulten Wurzeln gefunden hatte.
Er ging an den mannshohen Haufen Maka vorbei und bog in einen Gang ein, von dem aus man ins Haupthaus der Festung gelangte. Neben einer Fackelhalterung blieb er stehen. Seine Finger suchten einen Moment zwischen den Fugen der Steine, dann fanden sie den Hebel und drückten ihn nach unten. Ein großer Stein rutschte zur Seite. Gerit nahm die Fackel aus der Halterung und kroch in das Gangsystem, das dahinter lag. Er schloss den Durchgang, dann entzündete er die Fackel.
Er brauchte nicht lange, um zu Rickards Versteck zu gelangen. Am Vorabend war Gerit noch dort gewesen, hatte versucht, Rickard mit einem Brei aus Milch und Brot zu füttern, doch ihm war alles aus dem Mund gelaufen. Kein einziges Mal hatte er geschluckt.
Rickard hätte längst tot sein müssen. Er aß nicht, trank nicht, und seine erfrorenen Gliedmaßen vergifteten seinen Körper. Trotzdem lebte er.
Gerit öffnete die Tür und steckte die Fackel in eine Halterung. »Rickard?«, fragte er. Anfangs hatte er geflüstert, obwohl er wusste, dass man ihn jenseits der Gänge nicht hören konnte. Mittlerweile redete er ganz normal. »Rickard?«
Der Napf mit dem Milchbrei stand noch auf dem Tisch. Gerit hatte ihn stehen lassen in der Hoffnung, Rickard würde noch etwas davon essen, aber er hatte ihn nicht angerührt. Der Eimer, den er ihm für seine Notdurft hingestellt hatte, war leer, so wie seit dem Tag seiner Ankunft.
Wieso ist er nicht tot?, fragte sich Gerit. Oder war er es vielleicht längst?
Er hörte ein Geräusch. Steine knirschten unter Sohlen, etwas klatschte, so als würde jemand mit der flachen Hand gegen eine Wand schlagen. Gerit fluchte leise.
»Lass das doch«, sagte er, als er den Nebenraum betrat. Öllampen, die er an den Wänden aufgehängt hatte, erhellten ihn. »Bitte hör auf damit.«
Rickard wandte ihm den Rücken zu. Sein Kopf berührte die Wand. Seine Füße bewegten sich, gingen, ohne von der Stelle zu kommen. Der Boden unter seinen Sohlen war voll mit hellem Steinstaub, seine Stiefelspitzen abgewetzt und aufgerissen.
Gerit sah, wie Rickard den Kopf zurücknahm.
»Nein!«, rief er.
Rickard schmetterte die Stirn gegen den Stein. Es klatschte. Gerit wurde übel.
Er ging zu Rickard, ergriff dessen Arm und zog ihn zurück. Er spürte keinen Widerstand. Mühelos konnte er ihn zum Tisch führen und auf einen Stuhl setzen.
»Hör auf«, sagte Gerit eindringlich. »Warum machst du das?«
Es hatte nach seiner Rettung angefangen. Am nächsten Tag hatte er Rickard so vorgefunden, gegen die Wand laufend. Die Haut seiner Stirn hing in Fetzen über dem dunklen Fleisch, aber er blutete nicht. Sie sah aus, als habe man Papier zerrissen.
»Ich will dich nicht fesseln«, sagte er nach einem Moment, »aber ich werde es tun, wenn du nicht damit aufhörst. Verstehst du? Hör auf, gegen die Wand zu laufen.«
Gerit runzelte die Stirn, als er die letzten Worte sagte. Zum ersten Mal wurde ihm klar, dass es immer dieselbe Wand war, vor der er Rickard fand. Er stand auf, drehte sich so, dass auch er vor der Wand stand. Er musste sich eine Weile orientieren, im Geiste das Gangsystem vor sich aufbauen und drehen, bis er die Festung vor sich hatte. Hinter der Wand, vor der er stand, befanden sich alte Mannschaftsquartiere, die seit dem letzten Krieg nicht mehr benutzt wurden. Dahinter gab es Gänge, eine Waffenkammer, Offiziersquartiere und den Hof.
Gerit zögerte. Er konnte sich nicht vorstellen, was Rickard in einem dieser Räume wollte. Er bezweifelte, dass er sie bei seinem Besuch auf Somerstorm überhaupt gesehen hatte.
Er ging zurück, stützte vor Rickard die Hände auf den Tisch. »Wenn ich zurückkomme und du das wieder machst, werde ich dich fesseln.«
Sein Vater hatte so mit ihm geredet, wenn ihm etwas ernst war. Er hoffte, dass Rickards Vater das auch getan hatte.
Er nahm die Fackel und schloss die Tür hinter sich. Durch das Gangsystem kletterte er nach oben, verließ es erst in einem der unbewohnten Gästezimmer.
Es war hell geworden. Durch die Fenster sah er graue Wolken, die sich bis hoch in den Himmel türmten. Es würde bald schneien.
Gerit lauschte an der Tür, dann trat er auf den Gang. Er löschte die Fackel in einem Eimer voller Sand und steckte sie darüber in eine Halterung.
General Norhans Quartier befand sich auf der anderen Seite des Trakts. Er begegnete nur einem Nachtschatten auf dem Weg dorthin, einer jungen Frau namens Endda, die eines der Zimmer zu ihrem Zuhause gemacht hatte.
Er nickte ihr zu, sie nickte zurück. Es gab keinen Grund für Misstrauen.
Gerit betrat Norhans Quartier. Er blieb vor einem Regal voller Schriftrollen stehen. Es waren Karten. Der General hatte sie sein ganzes Leben lang gesammelt. Gerit wusste, dass Korvellan viel Zeit in diesem Zimmer verbracht hatte.
Die Karten waren nach Provinzen und Landstrichen sortiert. Er fand Somerstorm und zog mehrere Karten heraus. Die erste zeigte nur die Küste, die zweite die Grenze nach Braekor, die dritte umfasste ganz Somerstorm.
Er breitete sie auf dem Tisch aus, beschwerte die Enden mit Krügen und einer kleinen Götterstatue. Ein Stock mit Einkerbungen, wahrscheinlich Entfernungsangaben, lehnte an der Wand. Gerit setzte ihn in der Festung an. Er schloss die Augen, als er versuchte, sich die Richtung vorzustellen, in die Rickard hatte gehen wollen. Hätte er durch Wände gehen können, wäre er über den Hof zu einer Ecke der Außenmauer gelangt, genau dort, wo der Nordostturm stand.
Die Festung war auf der Karte so genau eingezeichnet, dass er den Turm fand. Er bezweifelte, dass der Maßstab richtig war, doch die Entfernung war ihm egal. Es ging ihm nur um die Richtung.
Gerit drehte den Stock, bis er vom Hof genau durch den Nordostturm führte. Mit dem Blick folgte er der Linie, verlängerte sie entlang des Stocks, bis er die Mine erreichte.
Ich habe es geahnt, dachte er. Und ich bin sicher, wenn ich eine Karte der Mine hätte, würde sein Weg bis in die Höhle führen und vielleicht noch weiter, noch tiefer in den Berg hinein.
Der Gedanke war unheimlich. Gerit schluckte. Er rollte die Karte zusammen und legte sie mit den anderen zurück ins Regal.
Draußen begann es zu schneien.