Kapitel 20

 

Busharan erinnert an einen Gang in einer prächtigen Festung. Man benutzt ihn, um eine berühmte Bibliothek aufzusuchen oder die Gemächer einer Geliebten oder um aus seinen Fenstern die Landschaft jenseits der Mauern zu betrachten. Doch wer würde jemals stehen bleiben, um den Gang zu betrachten? Und was würde er finden, wenn er es täte?

Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2

 

»Korvellan?«

Craymorus setzte sich auf. Das Plätschern des Flusses und die Rufe der Krähen antworteten ihm. Sonnenschein wärmte sein Gesicht. Das Feuer war niedergebrannt. Er legte einige Zweige in die Glut, um es wieder zu entfachen.

Korvellans Decke lag noch am Boden, sein Pferd graste festgepflockt am Wasser, aber er selbst war nirgends zu sehen. Craymorus war froh darüber. Es gab ihm die Gelegenheit zu tanzen, ohne dabei beobachtet zu werden.

Als er fertig war, zog er sein verschwitztes Hemd aus und wusch sich im Fluss. Das Wasser war kalt und klar. Er füllte einen der Näpfe damit und trug ihn zurück zum Lagerfeuer. Sein Magen knurrte. Die Mahlzeit aus Krähenfleisch und Pfannkuchen, die sie am Vorabend zu sich genommen hatten, war nicht gerade üppig gewesen.

Ich könnte jagen gehen, dachte Craymorus. Er hatte noch nie gejagt, war zu jung gewesen, als der Sturz ihm die Beine genommen hatte. Er wusste nicht, wie man jagte, fischte, ritt, erinnerte sich nur noch verschwommen daran, wie es war zu schwimmen, zu klettern, zu springen. Wie es wohl war, eine Straße zu überqueren, ohne angestarrt zu werden, eine Taverne zu betreten, in der Menschen nicht sofort aufstanden, um ihren Platz frei zu machen, durch eine Stadt zu laufen, ohne Angst vor der nächsten Treppe oder regennassen Steinen zu haben, ohne sich ständig ausruhen zu müssen? Einfach zu gehen …

»Ich weiß so wenig von der Welt«, sagte Craymorus leise. Er spürte, wie die Last, die ihn in der Festung niedergedrückt hatte, leichter wurde. Nichts anderes als ein Gefangener war er dort gewesen, festgehalten von seinem Titel und von Mellie, so wie der Junge im Kerker von seinen Ketten. Sie hatten sich beide davon befreit.

Scham überkam ihn, als er an den Jungen dachte. Er war das Einzige gewesen, über das er als Fürst wirklich Macht gehabt hatte. Niemand hatte ihn zurückgehalten, niemand hatte sich gefragt, was er mit einem Nachtschatten anstellte. Weshalb auch? Sie waren der Feind, und was immer der Fürst seinen Feinden antat, war richtig.

Ich hätte ihn gehen lassen sollen, bevor er zu dieser Kreatur wurde, dachte Craymorus, während er Mehl und Wasser zu einem Teig anrührte. Diese Mischung aus Mensch und Nachtschatten war das Erbe, das er als Fürst hinterlassen hatte. Sie und die Ruinen Westfalls.

Er begann zu lachen. Es war ein bitteres, beschämtes Lachen, aber es tat trotzdem gut.

»Was ist denn so lustig, Fürst?«

»Nichts«, sagte Craymorus rasch und drehte sich um.

Korvellan ging am Fluss entlang auf ihn zu. Er führte ein großes schwarzes Pferd an den Zügeln. Es war gesattelt.

»Seht, was ich gefunden habe«, sagte er. »Es graste auf einem der Felder, nicht weit entfernt vom Dorf.«

»Da ist ein Dorf?«

Korvellan band das Pferd an einem Baum fest und wusch sich die Hände im Fluss. »Nicht weit von hier. Ich schlage vor, dass wir Euer Pferd dort gegen ein paar Vorräte eintauschen.«

»Wieso mein Pferd?« Craymorus bückte sich und pflückte einige Kräuter. Der schwarze Hengst sah zu ihm herüber, schien ihn zu mustern wie einen Feind.

»Weil ein Sattel Euch guttun wird und der Hengst kräftiger und schneller als Eure alte Stute ist.«

Craymorus warf die Kräuter in den Teig und schüttete einen Teil des Teigs in die Pfanne. Er hätte Korvellan gern widersprochen, auch wenn er wusste, dass er recht hatte. Je schneller sie Bochat erreichten, desto eher würden sie Antworten auf ihre Fragen erhalten.

»Wie du meinst«, sagte er und stellte die Pfanne auf den heißen Stein in der Mitte des Feuers.

Sie frühstückten, löschten des Feuer mit Ufersand und rollten ihre Decken zusammen.

Craymorus band den Hengst los, nahm die Zügel in die Hand und trat in die Steigbügel. Das Pferd schnaubte und tänzelte zur Seite. Hastig duckte sich Craymorus unter einem Ast. Laub raubte ihm für einen Moment die Sicht.

Dann saß er im Sattel. Der Hengst stand still, so als erkenne er seine Niederlage an.

Erstmal, dachte Craymorus.

Korvellan schwang sich auf den Rücken seines Pferdes und zog die ungesattelte Stute hinter sich her. »Hier entlang.«

Sie blieben am Fluss. Der Morgen war warm und sonnig. Dass es Winter war, merkte man nur in den Nächten.

Es war nicht weit bis zum Dorf. Craymorus sah die Dächer der Hütten zwischen den Feldern, bevor er sich an den Sattel gewöhnt hatte. Zwei Frauen, die Körbe voller Wurzeln auf dem Rücken trugen, sahen auf, als er und Korvellan an ihnen vorbei ins Dorf ritten.

Craymorus zuckte zusammen, als er den Toten sah. Er lag auf dem Bauch vor der offen stehenden Tür einer Hütte. Jemand hatte ihm den Schädel eingeschlagen.

Korvellan legte die Hand auf den Gürtel, dort, wo sein Schwert gesteckt hatte. Craymorus sah, wie er das Gesicht verzog.

Ein Mann tauchte neben der Hütte auf. Er trug eine Decke über den Schultern. Sein Haar war zerzaust, so als wäre er gerade erst aufgewacht.

»Ihr verschwindet besser«, sagte er. »Die Götter haben uns verflucht!«

Korvellan zügelte sein Pferd vor der Leiche und blickte auf sie herab. »Wer ist das?«

»Tohm«, sagte Craymorus überrascht. Das Gesicht des Toten war blutüberströmt, aber er erkannte ihn trotzdem. »Er und seine Männer haben mir auf dem Weg zur Stadt der Magier das Leben gerettet. Sie gehörten der Miliz an.«

»Der Miliz, die Nachtschatten jagte?«, fragte Korvellan.

Craymorus nickte.

»Mir haben sie gesagt, sie wären auf der Suche nach Deserteuren.« Der Mann mit der Decke zeigte ins Innere der Hütte. »Die anderen sind drinnen.«

Korvellan stieg ab. Craymorus folgte ihm in die Hütte.

Es war ein Gasthaus. Ein langer Tisch stand in der Mitte des Raums, ein paar Bänke und Stühle rahmten ihn ein. Die Feuerstelle war kalt. Es roch nach Bier und Blut.

Vier Tote lagen im Raum. Craymorus stieg über eine abgeschlagene Hand und betrachtete den Mann, dem sie gehört hatte. Seine Kehle war durchtrennt worden.

»Kennst du ihn?«, fragte Korvellan.

Craymorus schüttelte den Kopf. »Nein, aber den.« Er sah zu einem jungen Mann, noch nicht richtig erwachsen, der vor der Feuerstelle lag. Ein Schwerthieb hatte ihm die Brust aufgerissen. »Sein Name war Olaff.«

Sein Blick glitt über die anderen beiden, einen Kahlköpfigen, in dessen Rücken ein Schwert steckte, und einen mit einem Brandmal auf der Stirn, der noch im Tod seine Eingeweide festhielt. »Die beiden kenne ich nicht.«

Ein Schatten verdunkelte die Hütte. Der Mann mit der Decke stand im Türrahmen. Er schien es nicht zu wagen, den Raum zu betreten.

»Bist du der Wirt?«, fragte Korvellan.

»Ja. Ich heiße Aroon.«

»Was ist hier passiert, Aroon?«

Der Wirt zog die Decke enger um seinen Körper. Stockend erzählte er von den fünf Männern, die in sein Dorf gekommen waren. Sie hatten einen Bauern und seine beiden Söhne getötet, weil sie angeblich desertiert waren, doch Aroon wusste wie alle im Dorf, dass das nicht stimmte.

Korvellan ging die Leichen ab, während der Wirt redete, und betrachtete ihre Wunden. Craymorus fragte sich, was er sah.

»Und dann«, fuhr Aroon fort, »kam es zum Streit. Ich bin zur alten Deree in die Hütte gegangen, weil ich Angst hatte, sie würden mir etwas tun. Durch das Fenster sah ich, wie die drei, die mit ihnen getrunken hatten, sie mit Waffen bedrohten und ihre Pferde stahlen. Dann brachte der …«, er zeigte auf den Kahlköpfigen, »… den da draußen um. Dann ging er wieder rein und trank mit den anderen weiter. Kurz darauf kam der da …«, ein Blick auf Olaff, »… mit vier Soldaten zurück. Sie gingen ins Haus. Eine Weile geschah nichts, dann hörte ich laute Stimmen und Schreie.« Aroon schluckte. »Dann kamen die Soldaten heraus. Ihre Uniformen waren voller Blut. Einer von ihnen kam auf mich zu. Er sah durch das Fenster und fragte mich, ob ich den Weg nach Bochat wüsste. Ich erklärte ihm alles. Er war höflich und bedankte sich. Er benahm sich nicht wie ein Mann, der gerade gemordet hat.«

»Hatte er Zähne?«, fragte Korvellan.

Aroon sah ihn an. Er wirkte überrascht. »Nein. Es fiel mir auf, weil er so jung war. Woher weißt du das?«

»War nur so ein Gedanke.« Korvellan hockte sich neben Olaffs Leiche und nahm ihren Gürtel an sich und das Schwert, das daran hing.

Ewige Garde, dachte Craymorus. Ihm wurde kalt. Suchen sie nach uns? Aber woher wissen sie, dass wir nach Bochat wollen?

Korvellan schnallte sich den Gürtel um, dann ging er nach draußen und hob den Streitkolben auf. Sorgfältig säuberte er ihn an Tohms Umhang.

»Es bringt Unglück, Tote zu bestehlen«, sagte Aroon, als Korvellan die Taverne wieder betrat.

»Du bringst größeres Unglück über dich, wenn du diese Männer nicht begräbst, bevor sie anfangen zu stinken.« Korvellan reichte Craymorus den Streitkolben. Ein breiter Lederriemen hing daran. »Hier. Ich nehme an, du kannst nicht damit umgehen, aber du hast starke Arme. Schlag einfach damit um dich, wenn es nötig sein sollte.«

Craymorus nahm den Kolben in beide Hände. Er war schwer. Das Jagdmesser drückte gegen seinen Rücken. Er kam sich wie ein Narr vor, weil er es heimlich mitgenommen hatte.

»Ich fasse die Toten erst an, wenn der Priester sie geweiht hat.« Aroon spuckte aus. »Sonst fahren ihre Geister noch in mich.« Er drehte sich um und verließ die Hütte.

Craymorus hielt Korvellan zurück, als der ihm folgen wollte. »Der König ohne Land wollte Syrah heiraten«, flüsterte er. »Als das nicht gelang, war er wütend. Es kann sein, dass die Garde auf der Suche nach mir ist.«

»Und woher sollte er wissen, wohin wir gehen?« Korvellan neigte zweifelnd den Kopf. »Wir wussten es bis gestern selbst nicht. Nein, die Garde sucht einen anderen.«

»Und wen?«

»Das erfahren wir vielleicht in Bochat.«

Korvellan trat aus der Taverne in die Sonne. »Aroon«, hörte Craymorus ihn sagen, »was hältst du von einem neuen Pferd?«