Kapitel 17

 

Gelegentlich werde ich gefragt, welche Provinz mich auf meinen Reisen am meisten beeindruckt und welche mir am besten gefallen hat. Ich lehne es stets ab, diese Frage zu beantworten, aus dem einfachen Grund, dass kaum jemand verstehen würde, weshalb der Name Westfall weder in der einen noch in der anderen Liste auftaucht.

Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 1

 

Im Morgengrauen sah Ana das Pferd. Es war ein Ackergaul mit breitem Rücken und gelber Mähne. Er graste auf einem Feld in der Nähe eines kleinen Dorfs, und bei jedem Schritt zog er einen umgekippten Pflug hinter sich her. Der Griff riss eine Furche ins Gras.

»Jonan?« Es war das erste Wort, das sie seit Stunden sagte. Der Weg durch den unwegsamen nächtlichen Wald hatte ihr längst die Kräfte geraubt.

Jonan drehte sich um, folgte mit seinem Blick ihrem ausgestreckten Arm bis hin zum Feld. Er trug Merie immer noch über der Schulter. Sie war wach, redete aber nicht. Einmal hatte Jonan sie an einem Bach abgesetzt, damit sie sich das Blut aus dem Gesicht waschen konnte, aber sie war sofort in den Wald gerannt, hatte versucht zu fliehen. Danach hatte er sie an den Füßen gefesselt.

Ana warf Merie nur ab und zu verstohlene Blicke zu. Kurz nach dem Angriff hatte sie sich wieder zurückverwandelt, aber Ana meinte immer noch, in das Gesicht einer Fremden zu sehen.

Sie folgte Jonan durch das Unterholz. Äste knackten, Dornen kratzten über ihre Stiefel. Alles erschien ihr furchtbar laut, so als höre man jeden brechenden Zweig in ganz Westfall. Seit Beginn ihrer Flucht hatten sie keinen einzigen Gardisten gesehen, noch nicht einmal aus der Ferne, aber Ana glaubte trotzdem, dass man ihnen folgte.

Das Pferd hob den Kopf, als sie und Jonan das Feld betraten. Es stellte die Ohren auf, bewegte sich aber nicht. Ana fragte sich, wie lange es wohl den schweren Pflug schon hinter sich herzog und was aus seinem Besitzer geworden war.

Ana blieb vor dem Pferd stehen und sprach beruhigend auf das Tier ein. Aus der Nähe sah sie, dass es ein junger Hengst war. Er schien keine Angst vor Fremden zu haben. Jonan nahm ihm das Geschirr ab, dann führte Ana ihn aus dem Pflug heraus. Das Pferd schüttelte den Kopf und schnaubte.

»Ihr beide reitet«, sagte Jonan, während er Merie die Fußfesseln durchtrennte und ihr auf den Pferderücken half.

Ana ließ die Zügel los. »Reite du ruhig. Ich laufe gern.«

Sie glaubte Jonan lächeln zu sehen, aber die Sonne war noch nicht aufgegangen, und über seinem Gesicht lag der Schatten der Nacht. »Sie wird sich nicht verwandeln«, sagte er.

Ana fühlte sich, als habe man sie bei einer Lüge ertappt. »Ich habe keine Angst vor ihr.« Sie nahm die Zügel und schwang sich hinter Merie auf den Rücken des Pferdes. Siehst du?, wollte sie sagen, aber das erschien ihr albern. Stattdessen richtete sie ihren Blick nach Norden.

Im ersten Licht des Tages erstreckten sich die Felder grau bis zum blauroten Horizont. Ein schmaler Weg führte an ihnen vorbei. In einiger Entfernung sah Ana das Dach einer Scheune.

»Glaubst du, dass Cascyr uns verfolgen lässt?«, fragte sie.

»Vielleicht weiß er noch gar nicht, was passiert ist. Das würde uns einen großen Vorsprung verschaffen«, sagte Jonan. Mit seinem rasierten Kopf und der Uniform sah er bedrohlicher aus, als Ana ihn in Erinnerung hatte. »Wenn er Somerstorm erobern will, so wie du sagst, wird er auf der breiten Straße am Fluss bleiben, solange es geht«, fuhr er fort. »Dort kommt seine Armee schneller voran. Und wenn wir Gerit vorher befreien wollen …«, sein Tonfall verriet, was er davon hielt, »… dann müssen wir den schnellsten und kürzesten Weg nehmen, durch Pujambur und Braekor.«

»Nicht Braekor.« Ana dachte an die Soldaten, die sie dort beinahe getötet hätten. »Man kennt mich dort.«

Früher einmal hätte es sie mit Stolz erfüllt, dass jemand wusste, wer sie war. Sie hatte die Aufmerksamkeit, die sie beim Ritt durch die Dörfer Somerstorms bekam, genossen, hatte geglaubt, die Menschen würden zu ihr und ihrer Familie aufblicken. Mittlerweile duckte sie sich unter jedem Blick, der ihr neugierig erschien. Sie hatte gelernt, wie gefährlich Aufmerksamkeit war und wie eng Unterwürfigkeit und Hass zusammenlagen.

Vor ihr senkte Merie den Kopf. Ein leichter Essiggeruch umgab sie. »Kann ich nach Hause, bitte?«, fragte sie so leise, dass der Wind die Worte fast verwehte.

»Nein«, sagte Ana. Sie wendete das Pferd und ritt langsam den Pfad entlang. Jonan schloss zu ihr auf.

»Warum nicht?« Merie klang weinerlich.

»Weißt du denn nicht mehr, was geschehen ist?«

»Ich weiß gar nichts.« Die Antwort kam zu schnell, um wahr zu sein.

Ana warf Jonan einen kurzen Blick zu. Er schüttelte den Kopf. Lass sie in Ruhe, schien er damit sagen zu wollen.

»Wir reden später darüber«, sagte Ana.

Schweigend zogen sie weiter. Merie bat nicht mehr darum, nach Hause gehen zu dürfen. Nur ab und zu zitterten ihre Schultern, so als weine sie.

Einige Male streckte Ana die Hand aus, um sie zu trösten, schreckte aber davor zurück. Sie wusste, dass Merie ihr das Leben gerettet hatte, aber wenn sie die Augen schloss, sah sie Erys' verwüstetes Gesicht vor sich.

Sie fragte sich, ob es Merie auch so ging und ob sie deshalb weinte.

Der Weg führte sie an der Scheune vorbei, die Ana auf dem Feld gesehen hatte. Sie war zweistöckig. Die Türen standen weit offen. Die Deichsel eines Karrens ragte daraus hervor. Neben der Scheune stand ein voller Wassertrog. Strohhalme trieben im Wasser.

»Ich sehe mich mal nach etwas Nützlichem um«, kündigte Jonan an. »Wir brauchen noch ein Pferd und Vorräte. Bleibt hier.«

Ana zügelte das Pferd und sah Jonan nach, als er zur Scheune ging und darin verschwand. Ihr entging nicht, dass seine Hand auf dem Griff seines Schwertes lag.

Merie drehte den Kopf. Ihr Gesicht war immer noch voller Blut. »Ich würde mich gern waschen, bitte«, sagte sie.

»Du willst doch nur weglaufen.« Ana folgte mit dem Blick einer Krähe, die in die Scheune flog.

»Nein, will ich nicht«, sagte Merie. »Ehrlich. Sieh mich doch an. Würdest du dich nicht waschen wollen?«

Sie hat recht, dachte Ana. Trotzdem zögerte sie einen Moment, bevor sie ihr Pferd zum Wassertrog führte. Es neigte den Kopf und begann zu trinken.

»Also gut, wasch dich. Aber wenn du versuchst wegzulaufen, wirst du bis Somerstorm zu Fuß gehen, das verspreche ich dir.«

Sie hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da glitt Merie bereits vom Pferderücken. »Danke, Ana.«

Sie hockte sich vor den Trog und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Aus den Augenwinkeln sah Ana eine zweite Krähe in die Scheune fliegen. Es musste viele Mäuse dort geben.

Sie sprang vom Pferd und streckte sich. Es war noch früh, aber sie fühlte sich, als wäre es bereits später Abend. Ihr Magen knurrte, ihr Mund war trocken, ihre Kopf schwer. Ein wenig Schlaf würde uns allen guttun, dachte sie nicht zum ersten Mal, aber die Furcht vor Cascyr und der Ewigen Garde hielt sie davon ab, Jonan um eine Rast zu bitten.

Eine weitere Krähe flog in die Scheune. Ana folgte ihr langsam, sah sich dabei immer wieder nach Merie um, die sich mit Stroh Gesicht und Hände abrieb. Es waren nur wenige Schritte bis zum Scheunentor. Sie glaubte nicht, dass es Merie in der kurzen Zeit gelingen würde, mit gefesselten Händen auf das Pferd zu steigen und davonzugaloppieren. Trotzdem behielt sie den Trog im Auge.

»Und«, sagte sie, »hast …«

 … du was gefunden?, hatte sie fragen wollen, aber der Anblick, vor dem sie stand, wischte die Worte von ihrer Zunge.

Die Scheune lag im Halbdunkel. Licht drang durch die Ritzen in Wänden und Dach. Staub und kleine Strohhalme tanzten darin. Ana hörte, wie Stroh leise vom Dachboden nach unten rieselte. Es klang, als würde es schneien.

Die drei Männer hingen vom Dachbalken. Krähen saßen auf ihren Schultern, pickten nach den blau angeschwollenen Zungen, die aus den Mündern der Männer quollen. Sie hingen vollkommen reglos an den dünnen Stricken, mit denen man sie erhängt hatte. Sie waren barfuß. Es stank nach Urin.

Jonan stand hinter dem größten der drei Männer. Er hatte ihm das Hemd zur Hälfte ausgezogen. Ana sah, dass der Bauch des Mannes über dessen Gürtel hing. Verwaschene Kreise waren darauf tätowiert. Sie wusste nicht, was sie zu bedeuten hatten, aber der Mann sah aus wie ein Bauer. Vielleicht war es ein Erntezauber. Sie stellte sich vor, wie er nur einen Morgen zuvor sein Pferd vor den Pflug gespannt hatte, nicht ahnend, dass es das letzte Mal sein würde.

Jonan knöpfte die Ärmel am Hemd des Bauern auf.

»Was machst du da?« Sie versuchte, den Ekel, den sie fühlte, aus ihrer Stimme fernzuhalten. Es gelang ihr nicht.

Jonan hielt inne, dann wandte er den Blick von Ana ab und zog das Hemd über die Handgelenke des Toten. Ohne sie anzusehen, sagte er: »Warum kannst du nie das tun, worum ich dich bitte?«

Er klang müde und ein wenig enttäuscht.

Ana fragte sich, welche Antwort er darauf erwartete. Ihr fiel keine ein.

»Hast du gewusst, dass sie hier sein würden?«, fragte sie stattdessen.

Jonan schlug das Hemd einige Male aus, dann begann er sein eigenes aufzuknöpfen. »Ich habe sie draußen gerochen. Sie sind noch nicht lange tot, wahrscheinlich erst seit gestern Abend.«

Er zog das Hemd aus. Ana sah die Narben auf seinen Rippen, die die Nachtschatten ihm im Kampf zugefügt hatten. Jonan schien ihr Blick unangenehm zu sein, denn er drehte sich ein wenig zur Seite.

»In der Satteltasche da vorn sind ein paar Laib Brot, Trockenobst und Ziegenkäse«, sagte er. »Das wird bis morgen reichen.«

Er warf sein altes Uniformhemd ins Stroh. Das des Bauern war viel zu weit, aber gerade lang genug. Er zog es über und stopfte es sich in die Hose. Getrockneter Schweiß hatte Flecken im Stoff hinterlassen.

Wie kannst du das nur anziehen?, wollte Ana fragen, aber sie tat es nicht, weil sie wusste, dass er diese Frage befürchtete.

»Wieso hat man sie umgebracht?«

»Dieser Mann …«, er zeigte auf den halb nackten toten Bauern, »… hat einmal in der Armee Westfalls gedient. Die Kreise weisen ihn als Bogenschützen aus. Seine Mörder waren auf der Suche nach Deserteuren.«

Ana begriff, weshalb er das Hemd gewechselt hatte. Sie war froh, dass sie ihn nicht danach fragen musste.

»Und die anderen?«

Jonan hob die Schultern. »Wer weiß.«

Die Antwort auf diese Frage schien ihn nicht zu interessieren.

Er nahm die Satteltasche und legte sie sich über die Schulter. »Wir sollten uns eine Erklärung ausdenken, falls uns Patrouillen anhalten. In solchen Zeiten reist man nur, wenn …«

»Merie!« Anas Augen weiteten sich. Sie drehte sich um und lief aus der Scheune. Sie war sich sicher, was sie vorfinden würde: einen leeren Trog, ohne Merie und ohne Pferd.

Sie kniff die Augen zusammen, wollte sich dem Anblick und ihrem eigenen Versagen nicht stellen.

Doch als sie aus der Scheune lief, sah sie, dass Merie noch da war, ebenso wie der Hengst. Und da waren außerdem vier Männer, die auf Pferden saßen und ihre Schwerter auf Merie gerichtet hatten. Das Mädchen zitterte.

»Habt ihr unser Werk bewundert?«, fragte einer der Männer. Er war groß und stämmig, hatte gerötete Wangen wie ein Trinker und trug einen langen Fellumhang über der Uniform.

Hinter Ana verließ Jonan die Scheune. Er nickte dem älteren Mann zu. »Sei gegrüßt, Tohm.«

»Jonan?« Der Mann lachte. »Bei den Vergangenen, was machst du denn hier?«

»Ich bringe diese beiden Mädchen nach Bochat. Ihre Eltern haben mich als Leibwächter angeheuert.« Jonan winkte Merie heran. Sie ging so langsam und vorsichtig, als bestünde der Boden aus dünnem Eis. »Sie, Merie, wird dort heiraten, und Ana hier …« Er zögerte, schien nicht weiter zu wissen. Er war ein schlechter Lügner.

»Ich habe mein Leben den Göttern verschrieben und werde ihnen in ihren Tempeln dienen«, sagte sie rasch. »Mein Bruder ist mit meiner Wahl nicht einverstanden, deshalb haben meine Eltern diesen Mann angeheuert, der mich vor ihm schützen soll.«

»Kann deinen Bruder verstehen, würdest einen guten Preis bringen.« Der Mann, der neben Tohm auf seinem Pferd saß, spuckte aus. Er war größer und etwas älter als Jonan. Seine Wangen waren vernarbt, seine Blicke glitten unstet über die Menschen vor und neben sich, als erwarte er von jedem nur das Schlimmste. Er hatte verfilzte braune Haare, die ihm bis über die Schultern fielen.

»Drebbard«, wies Tohm ihn zurecht. »Wo ist dein Anstand?«

Ana hätte beinahe gelacht, so unpassend erschien ihr das Wort. Keiner von diesen Männern hatte Anstand, weder Tohm noch Drebbard noch einer der beiden anderen. Sie waren Mörder, mehr nicht. Aber sie sagte nichts, sondern senkte nur den Kopf, so als wäre sie zu schüchtern, um auf sein Kompliment – denn das war es anscheinend – zu reagieren.

»Wo sind Josyff und Olaff?«, fragte Jonan.

Tohm winkte ab. »Olaff hat der Bluthusten erwischt, und Josyff ist auf seinen Hof zurückgekehrt.« Er kratzte sich am Kopf. »Ich hab es auch probiert, aber mir liegt das nicht mehr.«

»Du konntest das Schwert nicht gegen den Pflug tauschen«, sagte Jonan. Ana glaubte, Mitleid in seiner Stimme zu hören.

»So was in der Art.« Tohm wirkte einen Moment nachdenklich, doch dann grinste er und schlug Drebbard auf die Schulter. »Aber ich habe neue Kameraden gefunden und neue Aufgaben erhalten. Kommt. Wir besprechen alles Weitere im Dorf. Wir wollten hier nur nach dem Pferd des Bauern suchen, aber das hast du ja schon gefunden.« Jonan öffnete den Mund, aber Tohm ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Mach dir keine Sorgen deswegen. Behalt es ruhig. Betrachte es als Geschenk eines alten Kameraden.«

Seine neuen Kameraden blinzelten und pressten die Lippen zusammen. Ihnen schien seine Großzügigkeit nicht zu gefallen.

Aber sie schwiegen.

 

 

Auf dem Weg ins Dorf redete Tohm ununterbrochen. Er erzählte Ana von seiner ersten Begegnung mit Jonan, von der Miliz, der sie beide angehört, und von den Abenteuern, die sie auf der Jagd nach Nachtschatten erlebt hatten. Jonan widersprach ihm kein einziges Mal, aber Ana wusste auch so, dass Tohms Geschichten zu einem Großteil aus Lügen bestanden. Der Jonan, den er schilderte, existierte nur in seinem Kopf.

Das Dorf war nicht weit von der Scheune entfernt. Es war klein, Ana zählte nur ein Dutzend Hütten, aber es gab zumindest ein Gasthaus. Der Wirt hackte Holz, doch als er die Menschen sah, die auf ihn zuritten, richtete er sich auf und trat ihnen entgegen, die Axt in der Hand.

Tohm unterbrach eine endlos lange Geschichte und winkte dem Mann zu. »Hast du schon den Topf übers Feuer gehängt? Wir haben Hunger.«

Der Blick des Wirts blieb an Merie, dann an Ana und Jonan hängen. »Wer sind das?«

»Das sind Freunde, auf dem Weg nach Bochat«, sagte Tohm. Er hatte die unangenehme Angewohnheit, alle Gespräche an sich zu reißen. »Wie steht es mit dem Essen?«

Der Wirt drehte die Axt zwischen den Händen. Er war ein junger Mann mit bärtigem Gesicht und kräftigen Armen. »Wenn ihr eure Zeche von gestern begleicht, sollt ihr mir willkommen sein.«

Das Lächeln verschwand aus Tohms Gesicht. Drebbard blieb auf seinem Pferd sitzen, aber die beiden anderen Männer saßen ab.

Der ältere von ihnen, ein kahlköpfiger ehemaliger Schmied namens Morys, stemmte die Hände in die Hüften, während der andere, den alle nur Stummer nannten, langsam um den Wirt herumging. Angeblich hatten ihm die Nachtschatten die Zunge herausgeschnitten, aber obwohl er sein Haar weit ins Gesicht kämmte, konnte Ana die Spitze eines Brandmals auf der Stirn sehen. Er war für ein Verbrechen bestraft worden, für welches, wusste wohl nur er.

Tohm stützte sich auf seinen Sattelknauf. »Willst du damit sagen, wir wollten dich betrügen, Aroon?«

Der Wirt drehte den Kopf, versuchte, Morys und Stummer gleichzeitig zu beobachten. »Nein«, sagte er, »natürlich nicht. Ich dachte nur …«

Aroon ließ den Satz unvollendet, bereute wohl schon seinen Mut.

Jonan trat vor, stellte sich wie zufällig zwischen ihn und Morys. Er zog ein paar Münzen aus seiner Hosentasche. »Hier«, sagte er. »Reicht das für unser aller Essen?«

»Ja, Herr.« Aroon sah die Münzen noch nicht einmal an. Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn. Er legte die Axt auf einen Holzklotz und drehte sich um. »Ich mache euch etwas Suppe.«

»Vergiss das Fleisch nicht!«, rief Tohm ihm nach. »Und schlag ein Fass Bier an! Ich habe Durst.«

Sie aßen und tranken bis in den Nachmittag. Es gab nur einen Tisch in der Taverne und eine kleine Feuerstelle, über der ein Topf von einer rußgeschwärzten Kette hing. Der Wirt hatte ein Fass Bier neben den Tisch gerollt und hölzerne Näpfe und Löffel verteilt, danach war er verschwunden. Krüge gab es keine. Tohm und seine Männer füllten das Bier in ihre Wasserschläuche und tranken daraus.

Ihre Unterhaltungen wurden immer dümmer, Tohms Geschichten immer unwahrscheinlicher. Bier lief ihm über das Kinn in den Kragen, er lachte so laut, dass es beinahe verzweifelt klang.

Jonan tat so, als würde er mit ihm trinken, aber Ana sah, dass sich sein Wasserschlauch nicht leerte. Sein Rücken war durchgedrückt, er wirkte angespannt. Als Tohm zu lallen begann, stand Jonan auf.

»Ich muss kurz nach draußen«, sagte er.

Tohm wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. »Piss doch unter den Tisch, hab gehört, das macht man hier so.«

Morys lachte.

Jonan wandte sich ab. Er ging an Ana vorbei und nickte ihr zu. Sie warf einen kurzen Blick auf Merie, die schlafend auf der Bank lag, dann stand sie ebenfalls auf und folgte Jonan aus dem Gasthaus.

Drebbard sah ihr nach. Er wirkte nicht so betrunken wie die anderen.

»Etwas stimmt nicht«, sagte Jonan, als sie vor der Gaststätte standen. »Tohm ist nervös, und Drebbard sieht die ganze Zeit zur Tür, als würde er auf jemanden warten.«

Drinnen rülpste Tohm laut. Ana verzog das Gesicht. »Sie sind schrecklich, Jonan. Es war ein Fehler, mit ihnen hierherzukommen.«

»Tohm hätte uns nicht gehen lassen. Ich kenne ihn.« Er strich sich über den rasierten Kopf, öffnete den Mund, schloss ihn dann aber sofort wieder und sah zur Tür.

Auch Ana hörte die schlurfenden Schritte im Inneren.

Tohm tauchte im Türrahmen auf. Er hielt sich mit der Hand daran fest und blinzelte in die Nachmittagssonne. Den Wasserschlauch hielt er in der freien Hand. Seine Augen waren blutunterlaufen.

»Bist du wirklich ein Leibwächter, Jonan?«, lallte er. »Hast du nie erwähnt.«

»Du hast ja auch nie gefragt.«

»Stimmt, hab ich nicht.« Tohm rülpste. Eine Wolke aus Alkohol und Fäulnis hüllte Ana ein. Sie hielt die Luft an.

»Ich kann nicht zurück«, sagte Tohm unvermittelt. »Sie haben uns im Dorf wie Könige behandelt, als wir heimkehrten, weißt du. Ging eine ganze Weile so, aber irgendwann war alles wieder wie vorher.« Er trank einen großen Schluck Bier. »›Ja, Herr‹, ›Natürlich, Herr‹, ›Verzeiht, Herr‹ … Verdammt noch mal, ich hab Nachtschatten aufgeschlitzt, aber ich soll vor einem Steuereintreiber kuschen?«

Ana verstand nicht ganz, wovon er redete. Er schien von einem Thema zum nächsten zu springen.

»Also hast du ihn umgebracht«, sagte Jonan, so als wisse er genau, worum es ging.

Tohm nickte so heftig, dass er beinahe umgefallen wäre. Im letzten Moment hielt er sich an der Wand fest. »Genau. Hab ihm mit der Axt den Kopf gespalten, mittendurch.« Mit der Hand, die den Schlauch hielt, zog er eine Linie durch sein Gesicht, von der Stirn bis zum Kinn. »Zu dem muss nie wieder einer ›Ja, Herr‹ sagen.« Er starrte auf einen Punkt am Boden. Sein Oberkörper schwankte vor und zurück. »Und jetzt bin ich hier.«

»Du hast einen Fehler gemacht«, sagte Jonan.

»Ja.« Tohm räusperte sich und spuckte aus. Dann hob er die Schultern. Sein Lallen war kaum noch zu verstehen. »Aber wenigstens jagt mich nicht die Ewige Garde.«

»Du dämlicher Narr!«, brüllte Drebbard aus dem Gasthaus.

Ana erstarrte.