Kapitel 39

 

Eine Weggabelung kann den Reisenden erfreuen oder entsetzen, erfreuen, wenn er auf ein Abenteuer hofft, entsetzen, wenn er dachte, sein Weg wäre klar vorgezeichnet und alle Entscheidungen wären bereits getroffen.

Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2

 

Eine weiße Fahne wehte über den Mauern Somerstorms. Ana hatte mit einem der Gardisten gesprochen, seitdem gab es keine Angriffe mehr. Sie wartete. Ab und zu sah sie zu dem Nachtschatten, der auf der Mauer neben dem Tor stand, aber er schüttelte jedes Mal den Kopf.

Ihr war kalt. Der Wind wehte durch den dünnen Stoff ihres Kleids. Es war nicht von einem Meisterschneider entworfen worden, nicht wie das, das sie damals am Tag ihres Geburtstags, als die Welt für immer eine andere wurde, getragen hatte, trotzdem war es von einer Eleganz und Reinheit, die den Geschmack ihrer Mutter widerspiegelte. Sie hoffte, sie konnte dem Kleid gerecht werden.

»Er kommt«, sagte der Nachtschatten auf der Mauer plötzlich.

Ana zuckte zusammen. Ihr Mund war trocken, ihre Handflächen feucht und kalt. Sie wischte sie am Rücken ihres Kleids ab.

Zwei alte Nachtschatten mit fleckigem Fell zogen die Riegel des Tors zurück. Sie brauchten ihre ganze Kraft dafür, doch schließlich öffnete sich das Tor knarrend.

Ana wich unwillkürlich zurück, als ihr Dutzende verkohlter Leichen entgegenfielen.

»Sie sind tot«, sagte Nebelläufer. Er stand im Hof, zusammen mit einigen alten oder verwundeten Nachtschatten. »Sie tun dir nichts.«

Gardisten tauchten hinter den Leichen auf und räumten sie zur Seite. In Zweierreihen marschierten andere an ihnen vorbei und nahmen in der Festung Aufstellung. Sie ignorierten Ana. Ein paar von ihnen umstellten die Nachtschatten und richteten Schwerter auf sie.

Nebelläufer streckte das Kinn vor, die anderen rührten sich nicht. Ana bewunderte ihren Mut.

Sie sah zurück zum Tor. Eine weiße Sänfte wurde von acht Gardisten herangetragen. Ana wischte sich erneut die Hände ab. Die Gardisten schienen sie anzustarren.

Die Sänfte wurde abgesetzt. Weiche, weiße Finger zogen einen Vorhang zur Seite, dann berührten Cascyrs noch weißere Stiefel den Boden. Seine Robe schien in der Sonne zu leuchten.

»Ein ungewöhnlich schöner Tag, meine Liebe«, sagte Cascyr, als er die Sänfte verließ. »Findet Ihr nicht auch?«

Ana knickste vor ihm. Ihr Herz schlug so schnell, dass ihr schwindelig wurde. »Nicht nur das Wetter macht ihn schön, mein König.«

Sie zwang sich, ihn anzusehen und zu lächeln.

Er erwiderte ihr Lächeln. Seine Zähne waren so weiß wie die Robe, die er trug. »Wir sollten böse mit Euch sein, Fürstin Ana. Ihr habt getötet und Uns hintergangen.«

Das Lächeln blieb auf seinen Lippen, aber verschwand aus seinen Augen.

»Ich tat, was meinen Zwecken dienlich war«, sagte Ana steif. »Aber verzeiht, mir ist kalt. Darf ich Euch hereinbitten?«

»Mit großer Freude.« Cascyr warf einen Blick auf die Nachtschatten. »Aber erklärt Uns zuerst, wer diese Kreaturen sind!«

»Die Verteidiger der Burg, mein König. Ich konnte sie überzeugen, sich zu ergeben.«

»Das sollen alle sein?«

Ana hatte die Frage befürchtet. Sie schluckte. »Die Festung lässt sich sehr leicht verteidigen. Wie Ihr wisst, wurde sie nur einmal genommen.«

Cascyr runzelte die Stirn. »Verzeiht Unseren Unglauben.« Er nickte einem Gardisten zu, der neben ihm stand. »Zehn Mann bleiben bei Uns, der Rest durchsucht die Festung.«

»Ja, Herr.« Der Gardist drehte sich um und gab den Befehl weiter.

Cascyr streckte den Ellenbogen aus, als wäre nichts geschehen. »Wenn Wir bitten dürften?«

Ana legte die Hand auf seinen Arm. »Bitte folgt mir zum Thronsaal, mein König.«

Gemeinsam gingen sie die Treppen hinauf. Die Gardisten liefen vor ihnen her, achteten auf Fallen und Hinterhalte. Cascyr wartete, bis sie den Thronsaal durchsucht und ihn mit einem kurzen Kopfschütteln verlassen hatten, dann trat er ein.

Die Nachtschatten hatten die meisten Möbel, die darin gestanden hatten, als Feuerholz verwertet, jedoch den Thron am Kopfende des langen Banketttisches und einige Stühle stehen gelassen. Nur noch ein Teppich hing an der Wand. Eine Weinkaraffe und zwei Kelche standen auf dem Tisch. Die Karaffe war leer.

»Wir hatten Uns Eure Festung anders vorgestellt«, sagte Cascyr, während er sich ungefragt auf den Thron setzte. Seine Männer nahmen an der Tür und den Wänden Aufstellung. »Düsterer und mit mehr Holz.« Er klopfte auf den Stuhl an seiner rechten Seite. »Kommt zu Uns.«

Ana zog den Stuhl zurück und setzte sich. »Was bringt Euch auf den Gedanken, es wäre hier düster?«

»Das, was Wir gesehen haben.« Er seufzte. »Ana, versucht nicht, mit Uns zu spielen. Ihr wisst genau, dass Wir durch die Augen derer blicken können, die der schwarze Sand zu Gardisten gemacht hat, ob sie sich nun so nennen oder nicht. Manchmal können Wir Unseren Willen über sie bringen, aber nicht immer.«

»Wie?« Ana hörte die lauten Schritte der Soldaten über ihrem Kopf. Sie durchsuchten bereits den ersten Stock.

Er lehnte sich in seinem Thron zurück. »Der schwarze Sand verbindet uns alle. Ohne ihn gäbe es keine Magier, keine Meister, keine Macht. Man muss ihn in sich aufnehmen, ihm den eigenen Geist darbieten.« Er hob den Zeigefinger. »Nimmt man zu viel, wird man wie sie …«, er zeigte auf die Gardisten, »… zu wenig, dann bleibt man eine armselige Kreatur. Das richtige Maß ist entscheidend. Natürlich zahlt man einen Preis für diese Macht.«

Er griff sich mit Daumen und Zeigefinger in den Mund. Ana unterdrückte ihre Übelkeit, als er seine Zähne aus dem Oberkiefer nahm und auf den Tisch legte.

»Walknochen«, sagte er. »Eine wirklich sehr schöne Arbeit. Man stellt sie auf der Insel der Meister her.«

Sie schluckte Galle hinunter und bemühte sich, die Zähne nicht anzusehen.

»Also«, fuhr Cascyr fort. Sein Mund sah grotesk aus. »Weshalb erklärt Ihr Uns nicht, was dieses Theater soll?«

Er hatte sie verstört und wusste es. Ana spürte, wie die Maske der Fürstin, die sie so sorgfältig angelegt hatte, zu rutschen begann.

»Ich bin die Fürstin von Somerstorm«, begann sie. Die Worte gaben ihr Halt. Sie überwand ihren Ekel und nahm die Zähne, die auf dem Tisch lagen, in die Hand. Sie waren warm und feucht. »Dies«, sagte sie mit einem Blick darauf, »ist der Preis, den Ihr für Eure Macht zahlt. Ihr seid der Preis, den ich zahlen muss.«

Seine Blicke musterten sie, schienen jede Nuance in ihrem Gesicht zu lesen. Er war interessiert, das spürte sie.

»Meine Familie hat sich schon immer auf die Seite des Siegers gestellt. Mein feiger Bruder ist mit den meisten Nachtschatten geflohen, als er hörte, dass Ihr auf dem Weg hierher wart, aber ich bin geblieben.«

Sie hörte, wie Türen geschlagen und Schränke verrückt wurden. Die Gardisten suchten nach den Nachtschatten.

Wie viele sind wohl in der Festung?, fragte sie sich.

»Fahrt fort«, sagte Cascyr.

Ana schob seine Zähne über den Tisch. Sie widerstand der Versuchung, sich die Hand abzuwischen. »Ihr habt mir den schwarzen Sand gezeigt. Dachtet Ihr, das wäre viel? Somerstorm ist voll davon. Man muss nur wissen, wo man danach sucht. Ich kenne die Orte, und ich bin bereit, Euch und Eure Armeen mit dem Sand zu versorgen, so wie Somerstorm die Provinzen mit Gold versorgt. Gebt mir mein Fürstentum, mehr verlange ich nicht dafür.«

Cascyr stapelte die Finger unter dem Kinn und betrachtete seine Zähne. Seine Oberlippe hing schlaff nach unten, wie ein nasses Tuch. »Ein interessantes Angebot«, sagte er. »Ihr kontrolliert Uns, Wir kontrollieren Euch.«

»So ist es.« Anas Mund war so trocken, dass sie kaum sprechen konnte. »Ihr habt Eure Armeen, ich mein Wissen.«

Er lächelte. »Aber wenn Wir Euer Wissen hätten, weil Wir … sagen Wir einmal, durch die Augen eines Mannes geblickt haben, der von der Festung zu einer Mine ging und dort schwarzen Sand fand, dann wäre das Angebot nicht mehr so interessant, oder?«

Rickard, dachte Ana.

Cascyr schob sich die Zähne zurück in den Mund. »Wir brauchen Euch nicht, Ana, nur Eure Provinz, und Wir sind wirklich sehr verstimmt über Erys' Tod.« Er nickte einem Gardisten zu. »Tötet sie!«

Ana sprang auf. Ihr Stuhl schlug krachend auf den Boden. Hinter ihr barst eine Wand. Eine Tür flog auf.

»Nein!«, schrie Jonan.

Cascyr rührte sich nicht. Nur sein Blick verriet, wie überrascht er war.

Zwei Gardisten stellten sich schützend neben ihn und zogen ihre Schwerter. Ein dritter, der, dem er den Befehl gegeben hatte, ging auf Ana zu. Sie erkannte ihn wieder. Es war der junge Mann, der ihr am Fluss das Handtuch gereicht hatte.

Nachtschatten stürmten hinter Jonan in den Saal. Mamee und Merie waren darunter, die Männer kannte Ana nicht. Sie war erleichtert, dass Gerit nicht dabei war.

»Greift sie an!«, brüllte Cascyr. »Ihr beide blockiert den Geheimgang, und du da hinten holst Verstärkung!«

Die Gardisten setzten sich in Bewegung. Ana warf dem, der auf sie zuging, einen Stuhl entgegen. Er zerschlug ihn mit seinem Schwert. Sie spürte Jonans Hand auf ihrer Schulter. Er zog sie zurück.

»Bleib hinter mir!«

Im nächsten Moment duckte er sich unter dem ersten Schwertstreich des Gardisten. Den zweiten fing er mit gekreuzten Klingen ab.

Der Saal erschien Ana plötzlich klein. Nachtschatten sprangen über den Tisch, kämpften vor, neben und hinter ihr. Gleich drei von ihnen stürzten sich auf den Gardisten, der Verstärkung hatte holen sollen.

»Bringt mich hier raus!«, hörte sie Cascyr den Männern neben sich befehlen. Sie sah, wie er aufstand. Seine Robe spannte sich über dem Bauch.

Voll mit schwarzem Sand, dachte sie angewidert.

Sie wich zurück, als Jonan beinahe gegen sie stieß. Schwertschläge prasselten auf ihn ein. Der Gardist war fast so schnell wie er, trieb ihn rückwärts der Wand entgegen.

»Verwandle dich«, sagte Ana. »Jonan, bitte.«

Sie wusste nicht, ob er sie hörte. Mit zusammengebissenen Zähnen setzte er sich zur Wehr.

Ana sah sich um, entdeckte den Teppich, der im Kampf von der Wand gerissen worden war. Sie lief hin und raffte ihn zusammen. Er war schwer.

Ein Schatten sprang an ihr vorbei. Es war Merie. Sie hatte sich verwandelt, ebenso wie all die anderen Nachtschatten im Raum – außer Jonan. Er kämpfte immer noch in Menschengestalt.

Merie sprang auf den Tisch. »Lasst Cascyr nicht entkommen!«, schrie sie. »Er kann die Toten erwecken!«

Sie nahm die Karaffe und warf sie nach ihm. Sie zerplatzte über ihm an der Wand. Cascyr duckte sich unter den Splittern.

Einer seiner Leibwächter drehte sich um und lief Merie entgegen. Sie sprang rasch vom Tisch.

Jonan war fast bis an die Wand zurückgedrängt worden. Ana sah seinen warnenden Blick, als sie vor ihm auftauchte. Sie breitete den Teppich aus, wollte ihn dem Gardisten überwerfen. Doch der schien zu spüren, dass sie dort war, denn er wirbelte das Schwert in seiner Hand herum und stach nach hinten.

Die Spitze bohrte sich in den Teppich vor Anas Brust. Sie spürte den Druck, dann ein Ziehen, als der Gardist versuchte, die Klinge herauszureißen. Nur einen Lidschlag lang blieb sie hängen.

Die Zeit reichte Jonan. Er stieß dem Gardisten eines seiner Schwerter durch das Kinn in den Kopf. Lautlos brach der Soldat zusammen.

Jonan sah Ana an und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. »Das war sehr dumm.«

Sie ignorierte ihn. »Wie weit ist Gerit? Wann fängt er an?«

Sein Blick glitt zur Decke. »Er hat schon angefangen!«

Ana sah empor. Grauer Rauch drang durch die Ritzen. Der Geruch nach brennendem Holz mischte sich in Essiggestank.

Es war Anas Idee gewesen, Cascyr in die Festung zu locken, die Geheimgänge mit Pech zu überschütten und anzuzünden. Sie war stolz darauf.

Ihr Blick glitt zur Tür. Die Nachtschatten drängten die Gardisten in den Gang.

»Steh auf!«, schrie Cascyr, als ein Soldat fiel.

Ana hörte ein Poltern auf der Treppe. Es gab Hunderte Gardisten in der Festung, aber keiner von ihnen reagierte auf den Kampf. Cascyr hatte ihnen befohlen, die Gebäude zu durchsuchen, und das taten sie. Noch schien er seinen Fehler nicht zu bemerken.

Der Rauch wurde stärker.

Ana drehte sich um. Nachtschatten kletterten aus den Gängen, ruß- und pechverschmiert. Sie sah Gerit zwischen ihnen.

»Wo ist Cascyr?«, rief er hustend.

»Er war eben noch an der Tür«, sagte Jonan. »Kommt.«

Sie verließen den Raum. Zwei tote Nachtschatten lagen zwischen den Gardisten. Ana sah, wie Gerit kurz stockte, dann die Lippen zusammenpresste und weiterlief.

Rauch quoll die Treppe empor. Das Gemälde, das einen alten Mann mit hoher Stirn zeigte, brannte. Ana hatte einmal gefragt, wer darauf abgebildet war, aber niemand hatte es gewusst. Nun war mit seinem Namen auch die Erinnerung an sein Gesicht verschwunden.

Gardisten liefen ihnen entgegen. Einige brannten. Flammen schlugen an ihnen empor, setzten Wandteppiche und Gemälde in Brand. Trotzdem zogen die Gardisten ihre Schwerter.

Die Nachtschatten warfen sich ihnen entgegen. Einige fluchten bei jedem Schritt. Ana spürte die Hitze des Feuers unter ihren Stiefelsohlen.

Sie hustete. Der Rauch war so dicht, dass ihre Augen tränten.

»Alle raus!«, hörte sie Gerit rufen. »Überlasst die Garde dem Feuer!«

Ana stolperte und rutschte ein paar Stufen hinunter. Die Steine waren heiß. Die Teppiche glimmten.

Sie kam auf die Beine, kämpfte sich durch den Rauch nach unten. Der Rauch raubte ihr die Sicht. Schritte polterten an ihr vorbei, und sie wusste nicht, ob es Gardisten oder Nachtschatten waren.

Eine Unendlichkeit schien zu vergehen, bis der Eingang vor ihr auftauchte. Sie stolperte darauf zu, zuckte aber im nächsten Moment zurück.

Gardisten.

Mehr als fünfzig standen wartend im Hof.

Ana drehte sich um, suchte nach den Nachtschatten, nach Jonan oder Gerit, aber es war niemand zu sehen. Sie schien allein zu sein.

Etwas Weißes leuchtete im Grau des Rauchs auf. Sie ging darauf zu. Ihr Fuß stieß gegen ein Schwert. Sein Griff war heiß, also riss sie ein Stück Stoff aus ihrem Kleid, wickelte es um ihre Hand und hob es dann auf.

Cascyr war allein. Mit ausgestreckten Armen tastete er sich durch den Rauch. Hinter ihm lag ein toter Gardist. Sein Kopf war unter einem brennenden Balken begraben.

Ana hielt die Luft an, um nicht husten zu müssen. Sie kam in seinen Rücken und presste ihm das Schwert in den Nacken. Sie waren beide keine Kämpfer, aber sie hatte eine Waffe und er nicht.

»Ruf sie«, flüsterte Ana.

Cascyr hustete. »Wen?«

»Die Garde. Ruf sie.« Sie drückte zu.

Er schrie auf. Blut lief aus einer kleinen Wunde über seinen Rücken und hinterließ rote Flecken auf seiner Robe.

»Garde!«, schrie er heiser. »Zu mir! Alle zu mir!« Mit dem Rücken zu ihr blieb er stehen. »Und jetzt?«

Ana zögerte. Sie dachte an die Höhle, an den schwarzen Sand, an das Stöhnen der Sklaven.

Im Gang vor sich hörte sie die polternden Schritte der Gardisten.

Sie stieß zu, und Cascyrs Blut spritzte ihr ins Gesicht.

Würgend ließ sie das Schwert fallen und lief in einen Nebengang. Sie fand einen Stuhl und schleuderte ihn durch ein Fenster.

Scherben schnitten in ihre Hände, dann sprang sie in den Hof.

Als sie zusammenbrach, fing Jonan sie auf.