Kapitel 14

 

Der unerfahrene Reisende sollte in Westfall Vorsicht walten lassen, denn nur allzu leicht ist es, Menschen, denen er dort begegnet, zu beleidigen. So gilt es als unhöflich, die Vergangenen ohne ausreichenden Anlass zu erwähnen, sich ihrer in Form eines Fluchs zu bedienen, an ihren Ruinen vorbeizuziehen, ohne sie zu besuchen, oder gar an ihrer Existenz zu zweifeln. Gerade Letzteres hat schon manche Reise vorzeitig an einem Galgen enden lassen.

Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 1

 

Wie war es nur so weit gekommen?

Die Frage ließ Craymorus nicht los. Sie kreiste durch seine Gedanken, während er, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe aus dem Kerker hinauflief. Schreie hallten von den Steinen wider, Rauch zog träge an ihm vorbei. Weit hinter ihm splitterte krachend Holz. Die Besessenen schlugen die nächste Tür ein.

Soldaten, Wärter und Gefangene flohen mit Craymorus aus dem Kerker. Er trat in etwas Weiches, wäre beinahe gestolpert und sah nach unten. Die blutige Leiche eines Soldaten blickte zurück. Er war zu Tode getrampelt worden. Schaudernd dachte er daran, was wohl mit ihm selbst geschehen wäre, wäre er noch auf seine Krücken angewiesen.

Er war außer Atem, als er das Ende der Treppe erreichte. Die Soldaten, die dort oben standen, schienen Bescheid zu wissen, denn sie trugen bereits Schränke und Tische zusammen, alles, was sich als Barrikaden verwenden ließ. Andere hielten Fackeln in der Hand, mit denen sie die Besessenen wohl zurücktreiben wollten.

»Wo sind die Magier?«, fragte Craymorus den ersten Offizier, den er sah.

»Ich weiß es nicht, Herr.« Angst flackerte in den Augen des Mannes wie Fieber. »Ist es wahr, dass die Besessenen ausgebrochen sind?«

»Ja. Sag deinen Männern, ich zahle jedem, der einen tötet, fünftausend Goldstücke.«

Der Offizier sah ihn entsetzt an. Craymorus glaubte nicht, dass er das Angebot weitergeben würde. Er spürte das Blut, das seine Finger verklebte, und fühlte sich schmutzig. Wer einen Besessenen tötete, hieß es, ließ den Dämon, der in dessen Innerem wütete, frei und brachte Unglück über sich und sein Dorf. So viele Geschichten hatte er darüber gelesen, so viele Legenden gehört, und doch hatte er es getan.

Er schüttelte den Gedanken ab. Es war geschehen, nichts ließ sich mehr daran ändern.

Hinter ihm wurde die Tür zugeschlagen. Soldaten begannen, Barrikaden zu errichten. Craymorus sah Korvellan zwischen ihnen. Er hatte wieder seine menschliche Gestalt angenommen und reichte den Männern Stühle und Tische an. Die meisten waren zu jung, um zu wissen, wer er war.

»Leutnant Barganim!«, rief Craymorus.

»Ja, Herr.« Barganim bahnte sich einen Weg durch die Menge.

»Ich will, dass vier Mann zu Korvellans Bewachung abgestellt werden. Sorge dafür.«

»Ja, mein Fürst.«

Craymorus wollte sich abwenden, aber der Leutnant griff nach seinem Arm. »Was wird jetzt aus uns?«, fragte er.

»Denk nicht darüber nach.«

Die Antwort schien Barganim zu enttäuschen, denn er senkte den Kopf. »Wenn ich sterben sollte, Herr«, sagte er so leise, dass Craymorus ihn über den Lärm kaum verstand, »werdet Ihr dann meiner Familie das Gold zukommen lassen?«

»Natürlich.« Craymorus sah ihn an. Barganim hatte den Blick eines Mannes, der seinen Tod bereits vor Augen hatte. Er würde sterben, das erkannte Craymorus in diesem Moment, und er selbst erwartete nichts anderes.

»Ich werde die Magier suchen«, sagte er. »Haltet die Tür, so lange es geht.«

»Ja, Herr.«

Soldaten liefen Craymorus entgegen, als er sich umdrehte und den Gang hinunterging, der zu den Quartieren der Magier führte. Jeden, den er traf, fragte er nach den Magiern, doch niemand hatte sie gesehen.

Ihre Quartiere lagen im Gästeflügel. Einen ganzen Gang mit mehr als zwanzig Zimmern hatte Craymorus ihnen zur Verfügung gestellt. Er blieb davor stehen, als er sah, dass die meisten Türen offen standen. Langsam ging er weiter, warf immer wieder einen Blick in die Zimmer. Er sah tiefe Teppiche, Weinkaraffen, Teller voller Obst – und tote Sklaven.

In fast jedem Zimmer lagen sie, zusammengekrümmt und mit aufgerissenen, gebrochenen Augen. Es war nicht zu erkennen, was sie getötet hatte, aber sie waren voller Angst und Schmerz gestorben. Bei ihrem Anblick wurde ihm kalt.

Am Ende des Gangs drehte er sich um und ging zurück, die Augen starr geradeaus gerichtet. Trotzdem glaubte er die Blicke der Toten in seinem Rücken zu fühlen. Die Stille, die über den Zimmern lag, schmeckte bitter.

Craymorus ging schneller, begann zu rennen. Seine Schritte hallten durch die leeren Gänge, dann wurde es laut. Er hörte Schreie, Rufe, Knurren und Stöhnen. Die Kerkertür war nur noch zwei Biegungen entfernt. Er hätte nach links gehen müssen, um zu ihr zu gelangen, doch er lief nach rechts, weg von dem Lärm und den Blicken, die ihn dort erwarteten. Die Soldaten hatten einen Fürsten verdient, nicht ihn.

Er keuchte, als er schließlich eine Tür aufstieß. Beim Anblick des Raums wurde ihm erst klar, dass er zu seinem alten Quartier gelaufen war. Rickard hatte es ihm damals gezeigt. Es roch immer noch nach Holz und kalter Asche.

Craymorus ging zu der Waschschüssel, die unter einem Spiegel stand, schüttete Wasser hinein und wusch sich Gesicht und Hände. Das Wasser kühlte seine Haut. Er sah auf und erblickte im Spiegel das Gesicht eines Fremden, hohlwangig, bärtig, mit tiefen Ringen unter den Augen. Wann hatte er sich das letzte Mal rasiert? Er wusste es nicht mehr.

Seine Hände erinnerten sich noch an die Bewegungen. Sie griffen in den Schrank unter der Waschschüssel, rührten den Rasierschaum an. Er rieb ihn sich ins Gesicht, dann griff er nach dem Rasiermesser. Ruhig zog er über seine Wangen, lauschte dem vertrauten Kratzen und dem Plätschern des Wassers, wenn er das Messer hineintauchte. Die Klinge berührte seinen Hals. Er hielt inne.

Schreie drangen aus dem Hof zu ihm hinauf. Sein Adamsapfel bewegte sich unter dem Messer. Er drückte dagegen, spürte den scharfen Stich, als er die Haut durchdrang. Die Adern in seinem Hals klopften.

Nur eine Bewegung, dachte er, ein schneller Ruck von links nach rechts.

Die Augen in seinem Spiegelbild starrten ihn an, müde und flehend. Blut lief in seinen Kragen. Eine Bewegung.

Craymorus ließ das Messer fallen. Es polterte vor seinen Füßen auf den Boden. »Nein«, sagte er laut. Der Klang seiner eigenen Stimme ließ ihn zusammenzucken. Er tauchte das Gesicht ins Wasser, fühlte, wie die Seife in seine Augen stach und kam wieder hoch. Mit dem Ärmel trocknete er sich ab.

»Nein«, sagte er seinen flehenden Augen. Er würde sein Leben nicht mit einem letzten Fehler beenden.

Ruckartig wandte er sich ab und ging zum Fenster.

Die Besessenen waren durchgebrochen. Ihre weißen Leiber taumelten im Sonnenlicht blind über den Hof. Flüchtlinge liefen in Panik vor ihnen davon, Soldaten versuchten sie mit Fackeln zusammenzutreiben, sprangen aber selbst zurück, wenn sie ihnen zu nahe kamen. Die Bogenschützen auf den Dächern schossen Salven in den Hof. Einen Moment lang glaubte Craymorus, sie würden auf die Besessenen schießen, doch dann sah er, dass sie einige Flüchtlinge angriffen, die versuchten, das Tor zu öffnen.

Er ging zur Tür. Sein Fuß stieß gegen die Rasierklinge und trat sie unter den Schrank. Er bemerkte es kaum.

Rauch schlug ihm entgegen, als er die letzte Treppe hinter sich ließ und auf den Haupteingang zulief. Ein Wandteppich stand in Flammen. Das Feuer hatte bereits auf einen Balken übergegriffen.

Beinahe wäre Craymorus über die Leiche gestolpert. Sie lag im Schatten, halb verborgen unter einem umgestürzten Schrank. Die Uniform war blutig, das Gesicht zur Hälfte weggerissen. Trotzdem erkannte er den Mann.

»Es tut mir leid, Leutnant Barganim«, sagte er, als er dem Toten das Schwert aus der schlaffen Hand nahm. »Du hast auf einen Narren gehört.«

In den Gängen hinter ihm polterte es. Einige Besessene schienen sich dort verlaufen zu haben, doch die meisten hatten den Weg auf den Hof gefunden. Sie schlugen um sich, trafen Männer, Frauen und Kinder. Waffen benutzten sie keine, noch nicht einmal abgebrochenes Holz. Die meisten wirkten jung, waren wohl in den Kellern geboren. Der Wahnsinn war ihre Mutter und ihr Vater gewesen, dort unten in der sprachlosen Dunkelheit. Sie wussten nicht, was eine Waffe war, ebenso wenig wie Sonnenlicht.

Craymorus lief die Treppe nach unten. »Öffnet das Tor!«, schrie er.

Niemand hörte ihn. Die meisten Soldaten hatten einen Kreis am anderen Ende des Hofs gebildet. Die Speere hatten sie mit dem stumpfen Ende nach vorn ausgestreckt, stießen damit Besessene zurück, die in immer größerer Zahl auf sie einstürmten. Die Speere sahen aus wie die Speichen eines übergroßen Wagenrads.

Andere Soldaten waren auf die Mauern geklettert und schlugen mit Schwertern auf die Sprossen der Leitern ein.

Craymorus ließ sein Schwert fallen und hob einen Speer vom Boden auf. »Öffnet das Tor!«, schrie er erneut.

Ein Soldat, der zwei brennende Fackeln in Händen hielt, lief an ihm vorbei. Craymorus griff nach seiner Schulter und duckte sich, als der Mann – nein, es war ein Junge, vielleicht gerade einmal vierzehn Jahre alt – mit einer Fackel nach ihm schlug.

Craymorus hielt ihn fest. »Hilf mir, zum Tor zu kommen!«

Der Junge starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an, schien ihn nicht zu erkennen. Craymorus ließ ihn los, sah ihm nach, als er in die Festung lief und im Rauch verschwand.

Er hörte ein Knurren hinter sich und fuhr herum.

Es war der Nachtschatten.

Er stand vor Craymorus, immer noch gefangen in seinem halb verwandelten Körper. Speichel lief ihm über das Kinn, die schweren zerrissenen Ketten hingen bis auf den Boden. Er trug keine Kleidung mehr. Haut und Fell waren blutverschmiert.

Craymorus wich zurück. Der Nachtschattenjunge machte einen Schritt auf ihn zu. Er kicherte und wischte sich den Speichel vom Kinn. Das Feuer in seinen Augen schien seinen Verstand verbrannt zu haben. Nichts als Hass war geblieben.

Craymorus hob den Speer. Erst da bemerkte er, dass die Spitze abgebrochen war. Beinahe hätte er gelacht. Sein Blick zuckte über den Hof. Kein Soldat war in seiner Nähe. Niemand sah, was geschah.

Er öffnete den Mund. So viele Stunden hatte er mit dem Nachtschatten in seiner Zelle verbracht, hatte ihm Dinge erzählt, die er sonst nicht einmal sich selbst eingestanden hätte, doch nun fiel ihm nichts ein, was er sagen konnte.

Vielleicht, dachte er, weil es nichts mehr zu sagen gibt.

Der Nachtschatten schlug mit seiner Klaue nach ihm. Craymorus wehrte den Schlag mit dem Speer ab. Ein zweiter Schlag. Auch den wehrte er ab. Langsam ging der Nachtschatten um ihn herum. Craymorus drehte sich mit ihm. Der Nachtschatten knurrte und grinste, als er unwillkürlich zurückwich.

Der nächste Schlag, doch dieses Mal zog der Junge seine Klaue nicht zurück, als der Speer auf sie zuschoss. Stattdessen packte er den Schaft und stieß zu, rammte seinem Gegner das stumpfe Ende in den Magen.

Der Schmerz raubte ihm den Atem. Würgend und keuchend brach Craymorus in die Knie. Tränen traten ihm in die Augen. Verschwommen sah er, wie der Nachtschatten den Speer wegwarf und wieder begann um ihn herumzugehen.

Es war ein Spiel, kalkuliert und grausam.

Nicht grausamer als das, was ich mit ihm gemacht habe, dachte Craymorus. Er kam wieder auf die Beine, blieb gekrümmt stehen. Der Schmerz ließ langsam nach.

Der Tritt des Nachtschattens kam so plötzlich, dass er ihn nicht einmal erahnte. Er traf seine Brust und warf ihn zurück gegen einen Unterstand. Holz knirschte, Stroh rieselte zu Boden. Ein alter Mann, der sich in einer Ecke versteckt hatte, schrie auf.

Der Nachtschatten setzte nach. Seine Faust zielte auf Craymorus' Kopf, seine Klaue auf dessen Bauch. Er war schnell, so wie alle seiner Art, aber die Zeit im Kerker hatte ihn geschwächt. Craymorus schlug seine Klaue zur Seite, tauchte unter der Faust hindurch und rammte ihm die Schulter in den Magen.

Der Nachtschatten knurrte, zu Craymorus' Enttäuschung eher wütend als vor Schmerz. Craymorus kam in seinem Rücken hoch, ballte die Fäuste und schlug sie ihm in den Nacken. Doch der Junge wich aus. Der Schlag streifte ihn nur.

Seine Faust traf Craymorus' Kopf. Die Beine gaben unter ihm nach. Er spürte, wie der Nachtschatten ihn auffing, dann seine Klaue an seinem Hals und faulig riechenden Atem auf seinem Gesicht.

»Lass ihn los!«

Die Stimme klang dumpf hinter dem Pochen in Craymorus' Kopf. Einen Moment lang war er sich nicht sicher, ob sie wirklich existierte. Er blinzelte, versuchte den Nebel vor seinen Augen zu durchdringen.

Der Nachtschatten über ihm fauchte. Der Halt, den ihm seine Arme gegeben hatten, verschwand unvermittelt. Craymorus sackte zusammen. Benommen blieb er liegen. Er hörte Fauchen, Knurren, dann ein nasses, klatschendes Geräusch.

Sein Blick klärte sich. Korvellan hockte vor ihm. »Wir müssen hier raus«, sagte er. »Eure Soldaten versuchen das Tor zu öffnen, aber die Bogenschützen bringen sie um. Sie haben die Eingänge zu den Türmen verbarrikadiert. Zeigt ihnen Euer Gesicht. Sie brauchen Euren Befehl.«

»Ich weiß.« Craymorus setzte sich auf, ignorierte Korvellans ausgestreckte Hand und zog sich an einem Balken des Unterstands hoch. Sein Blick fiel auf den Nachtschattenjungen, der reglos im Stroh lag.

»Ist er tot?«

»Nein, aber vielleicht wäre es besser.« Korvellan wirkte angewidert. »Kommt jetzt!«

Craymorus hob den Speer auf, den der Nachtschatten weggeworfen hatte. Korvellan zog ein Schwert aus dem Gürtel.

»Hast du keine Angst, einen zu töten?«, fragte Craymorus. Das Pochen in seinem Kopf ließ nach. Die Benommenheit wich.

»Ich habe schon ein paar getötet. Ich glaube nicht, dass man mehr als einmal verdammt werden kann.« Er trat einen vorbeitaumelnden Besessenen zur Seite. Ein anderer fiel unter seinem Schwert.

Craymorus folgte ihm durch die Menge. Blutlachen bedeckten den Boden. Einige Besessene hockten um eine Leiche herum und aßen. Craymorus würgte trocken.

Die Soldaten, die ihn sahen, kamen näher. »Was sollen wir tun, Herr?«, rief einer, der aus einer Stirnwunde blutete.

»Wir müssen zum Tor.«

Immer mehr Menschen schlossen sich ihnen an, angezogen von den Uniformen und vielleicht, dachte Craymorus, auch vom Anblick des Fürsten zwischen den Soldaten. Sie wichen den Besessenen aus, wann immer es ging, doch einige weiße Leiber fielen unter Korvellans Schwert.

»Nachtschatten«, hörte Craymorus einen Flüchtling sagen. »Sie haben keine Seele.«

Er sah zu den Türmen, als sie sich dem Tor näherten. Die Bogenschützen bemerkten die große Gruppe und richteten ihre Bögen auf sie. Ihre Pfeilspitzen blitzten in der Sonne.

»Auseinander.« Craymorus streckte die Arme aus. »Bogenschützen!«, schrie er, so laut er konnte. In seiner Kehle kratzte es. »Euer Fürst lässt jetzt das Tor öffnen. Erkennt ihr mich?«

Er sah Bewegung zwischen ihnen. Dann rief eine Stimme zurück: »Ja, Herr.«

Craymorus atmete auf. Er nickte den Soldaten zu. »Öffnet das Tor. Beeilt euch.«

Er sah wieder hinauf zum Turm. »Bringt euch in Sicherheit! Die Festung ist verloren.«

»Nein, ist sie nicht«, sagte jemand hinter ihm. »Seht doch!«

Er hatte sich noch nicht umgedreht, als die Rufe begannen.

»Magier!«

»Magier!«

»Magier!«

Sie tauchten aus dem Rauch auf wie Geister. Ihre Gesichter waren rußgeschwärzt, ihre Roben dreckig. Die Haare eines Magiers brannten; er schien es nicht zu bemerken. Mit der gleichen Ruhe, die auch alle anderen zeigten, schritt er die breite Treppe hinunter. Adelus und Milus bildeten die Spitze der Gruppe.

»Was zum …«, hörte er Korvellan neben sich sagen. Der Rest seiner Worte ging im Chor der Rufenden unter.

Dann sah er Mellie. Die Magier bildeten einen Kreis um sie. Ihr Gesicht war ein weißer Fleck zwischen Ruß und Rauch. Sie trug ein bodenlanges rotes Kleid. Es hatte Syrah gehört und war ihr zu groß.

Die Magier begannen zu tanzen. Ihre Schritte rissen Steine aus dem Boden und schleuderten Dreck empor. Die Luft knisterte. Funken stoben auf, Strohballen brannten.

»Magier!«

»Magier!«

»Magier!«

Die Rufe hallten von den Festungsmauern wider. Der brennende Magier schien die Menschen nicht so zu verstören wie Craymorus.

Sie wissen nicht, was ein Magier vermag und was nicht, dachte er. Sie denken, das ist Teil ihres Plans.

Erwachsene umarmten sich, Kinder, zu jung, um zu verstehen, was geschah, aber angesteckt von der Aufregung ihrer Eltern, klatschten in die Hände. Soldaten streckten die Speere in die Luft.

Und dann starben sie.

Sie griffen sich an die Kehle, ihre Gesichter färbten sich rot, so als hätte die Luft um sie herum plötzlich zu kochen begonnen. Mellie schlenderte an ihnen vorbei, zeigte mal auf den einen, dann auf den anderen, tötete mit einem Fingerzeig, einem Blinzeln, einem Lächeln.

Rufe verwandelten sich in Schreie. Menschen rannten mit angstverzerrten Gesichtern über den Hof. Besessene rissen sie auseinander, nur um sich im nächsten Moment selbst an die Kehlen zu greifen.

Der brennende Magier brach zusammen. Sein Kopf war verkohlt, seine Robe hatte Feuer gefangen.

Ein Schaudern schien Mellie zu durchlaufen. Sie legte den Kopf in den Nacken, als wolle sie die Luft trinken. Craymorus hatte sie noch nie so lebendig gesehen.

Korvellan zog ihn zur Seite. »Was macht sie da?«

Craymorus hob die Schultern. Er konnte nicht aufhören, Mellie anzusehen. Sie war so schön wie an dem Tag, an dem sie zum ersten Mal in seinem Zimmer gestanden hatte. Er erinnerte sich auf einmal wieder daran, wie sehr er sie einmal geliebt hatte.

Doch das war vorbei. Es war eine Lüge gewesen, nicht mehr.

»Bogenschützen!«, schrie er den Turm hinauf. »Tötet die Frau im roten Kleid!«

Er nahm den Blick nicht von Mellie. Ein paar Lidschläge vergingen, dann schossen Pfeile surrend über ihn hinweg.

Adelus hob die Hand. Die Pfeile verschwanden, so als habe es sie nie gegeben. Craymorus sah zu den Türmen hinauf. Die Bogenschützen wichen zurück. Er machte ihnen keinen Vorwurf.

Korvellan drehte sein Schwert zwischen den Händen. Er sah sich um, als suche er etwas, dann schüttelte er den Kopf. »Wir müssen raus aus der Festung. Sie sind zu stark.«

Mellie blieb stehen. Die Magier tanzten um sie herum wie Betende um eine Götterstatue. Sie sah Craymorus an. Ihr Blick durchdrang ihn, ihr Zeigefinger richtete sich auf ihn. Es wurde still. Die Schreie der Menschen, das Brüllen der Besessenen, der Lärm der Kämpfe verging. Die ganze Welt schien anzuhalten.

»Armer kleiner Fürst«, sagte Mellie. Ihre Stimme füllte diese neue, leere Welt aus. »So schwach, so dumm.«

Craymorus öffnete den Mund, aber sie erlaubte ihm nicht zu sprechen. Er blinzelte, und sie stand vor ihm. Ihr Zeigefinger glitt über seine Wange. Die Berührung war weder fest noch sanft, nicht warm und nicht kalt. Es war, als würde das Nichts ihn berühren.

»Nicht wie dein Bruder«, sagte Mellie. Sie wandte sich ab. »Leb wohl.«

Die Geräusche der Welt stürzten auf Craymorus ein. Mit einem lauten Knall flog das Tor auseinander.

Mellie schritt hindurch, umgeben von tanzenden, schwitzenden Magiern, vorbei an Soldaten, denen Holzsplitter die Körper zerfetzt hatten. Besessene taumelten hinterher, angezogen von dem Lärm.

Craymorus spürte Korvellans Hand auf seinem Arm und schüttelte sie ab. »Hast du das gesehen?«, fragte er.

Der Nachtschatten wirkte ungeduldig. »Was gesehen?«

»Mellie. Sie hat mit mir geredet und …«

»Später. Kommt jetzt. Wir brauchen Pferde.«

Korvellan lief vor zu den Stallungen. Craymorus folgte ihm und nahm die Zügel eines der beiden Pferde, die er in den Hof führte. Sie waren ungesattelt. Auf ihrem Rücken lagen Decken.

»Ich kann nicht reiten«, sagte Craymorus.

Korvellan sah ihn an. »Was?«

»Hast du vergessen, dass ich ein Krüppel bin?« Es klang verbitterter, als er beabsichtigt hatte.

»Nein.« Der Nachtschatten zögerte. »Ja«, sagte er dann. Er schwang sich auf sein Pferd und nahm Craymorus die Zügel aus der Hand. Rauch hüllte ihn einen Moment lang ein. Er hustete. »Du wirst es lernen.«

»Nachtschatten!«, gellte ein Ruf von den Mauern. »Nachtschatten!«

»Schnell lernen«, sagte Korvellan.