PROLOG
Der namenlose Ritter in der roten Rüstung
trieb den flügellosen Drachen voran. Es war ein schlanker,
sandfarbener Drache mit unregelmäßigen schwarzen Flecken und
langen, kräftigen Hinterbeinen, schneller und ausdauernder als
jedes Pferd. Laut schlugen die breiten Tatzen auf die staubigen
Pflastersteine der Straße, die schnurgerade auf das Kloster mit den
zwölf Zinnoberzinnen zuführte.
Der Helm des hageren Ritters – der geschworen
hatte, seinen Namen erst dann wieder zu führen, wenn er den großen
grauen Meerdrachen von seinen Flügeln befreit hatte – war hinter
den Sattel geschnallt, zwischen Schwertscheide und Packtaschen. Das
unrasierte Gesicht war voller Schweiß und Dreck, er wirkte
angespannt.
»Schneller!«, knurrte er und leckte sich über die
ausgetrockneten Lippen. Er schmeckte Salz und Staub. »Gleich gibt
es ja was zu trinken.«
Die Sonne brannte vom Himmel, kein Lüftchen regte
sich. Trotzdem beschleunigte der Drache noch einmal. Auch er hatte
das massive Kloster entdeckt, dessen weiße Mauern weithin
leuchteten, und hielt die Augen starr auf die weitläufige und
verschachtelte Anlage gerichtet, die sich auf einer felsigen Anhöhe
am Ufer des sanften Firnh erhob. Hechelnd stürmten sie immer weiter
und achteten nicht darauf, wie erschöpft sie waren.
Eine halbe Stunde später erreichten sie das Tor,
das aufmerksame Wachen für sie geöffnet hatten. Zwei Ritter in
blinkenden Rüstungen grüßten vom Wehrgang herunter, die große
Fahne mit dem Symbol des Sonnengottes Hellwah hing schlaff und
reglos an der Stange auf dem Tor.
Der rote Ritter sprengte in den Hof und zügelte
den Drachen erst im Inneren des Klosters. Dort sprang er aus dem
Sattel, zerrte ein kleines Päckchen aus der Satteltasche und gab
dem Drachen einen Klaps auf die Seite. »Geh trinken, alter Junge.
Hast du dir verdient.«
Der Drache tapste hinüber zu dem riesigen, im
Boden versenkten Marmortrog vor den hohen Ställen. Hier landete das
Regenwasser der umliegenden Dächer, das in kupfernen Rinnen
gefangen und über ein ausgeklügeltes Rohrsystem in den Trog
geleitet wurde. Wobei Trog eigentlich eine irreführende Bezeichnung
war – es war ein Becken von sicherlich dreißig Schritt Länge und
vier Schritt Tiefe, durch das die Novizen am Ende ihres ersten
Monats tauchen mussten, während alle Drachen zugleich getränkt
wurden. Eine kleine Mutprobe unter den Ritteranwärtern, keine vom
Abt gestellte Aufgabe. Im Moment dösten dort nur zwei Drachen und
ein halbes Dutzend Pferde in der Sonne.
Der Ritter verdrängte die Erinnerungen an seinen
eigenen Tauchgang vor vielen Jahren, an die langen rauen Zungen,
die einem Tauchenden neugierig und durstig über die bloße Haut
leckten, und eilte auf die breite gewundene Treppe zu, die in den
Haupttrakt des Klosters führte. Doch auf der untersten Stufe
verharrte er überrascht. Oben an der steinernen Balustrade, direkt
unter der leuchtenden goldenen Sonne über dem Eingang, stand der
Hohe Abt; noch nie war dieser einem Boten entgegengekommen. Einen
winzigen Augenblick lang zögerte der Ritter, dann erinnerte er sich
der Etikette und neigte den Kopf. »Hoher Herr«, murmelte
er mit trockenem Mund. Er sprach den Namen Morlan nicht aus.
»Hast du es?«, fragte der Abt, ohne die Begrüßung
zu erwidern. Morlan war ein kleiner kräftiger Mann mit weißem Haar,
großer Nase und eiskalten blauen Augen. Er trug die schlichte
Tunika des Ritterordens, keine Rüstung, keine Kutte, und außer der
goldenen Kette kein sichtbares Zeichen seiner Macht. Doch Hellwahs
Segen lag auf ihm, er brauchte keine Insignien, die seinen Rang
verkündeten. Jeder in seiner Nähe konnte die Kraft und
Befehlsgewalt spüren, die ihm vom höchsten der Götter geschenkt
worden war.
»Es war nicht leicht, Hoher Herr«, sagte der rote
Ritter und blickte zu Boden. Er schluckte. »Die Wahnsinnigen haben
seinen ganzen Besitz verbrannt, und die Asche hat der Wind längst
verweht. Doch sein Topf ist dem Feuer nicht zum Opfer gefallen, ich
fand ihn verbeult, halb geschmolzen und rußverschmiert im Wald. Ich
hoffe, die Flammen und irgendwelche Tiere haben ihn nicht gänzlich
unbrauchbar gemacht. Im Fall der anderen beiden war es einfacher.
Als fahrender Händler habe ich mich in das ketzerische Trollfurt
eingeschlichen und ein Hemd seines Freundes mitgenommen und ein
Kleid des Mädchens. Sie ist wohl wirklich freiwillig mit ihm
gegangen, ihre verbitterte Mutter beschuldigt den toten
Vater.«
Ohne die geringste Gefühlsregung musterte ihn der
Hohe Abt, schließlich nickte er. »Nun gut, dann muss es eben mit
einem Topf gehen. Begleite mich zum Zwinger.«
Gehorsam folgte der Ritter dem Abt an seinem
gierig saufenden Drachen und den Stallungen vorbei. Vereinzeltes
Schnaufen, ein Wiehern und der strenge Geruch nach Drache und Hitze
drangen heraus.
»Nachher kannst du berichten, wie viele Ketzer
Trollfurt besetzt halten und wie viele der Bürger noch zum rechten
Glauben stehen, seit Priester Habemaas fliehen musste. Wir werden
es für König und Orden zurückerobern. Die Ketzer sind zu einer
Plage geworden, die ausgemerzt werden muss. Aber zuerst erzähl mir,
was du von dem Jungen weißt«, forderte der Abt.
»Nicht viel«, entgegnete der Ritter. »Oder zu
viel. Zahlreiche Geschichten sind über ihn im Umlauf. Er ist ein
Rebell, ein Mörder und Anhänger des dunklen Gottes. Angeblich
reitet er einen geflügelten und damit verfluchten Drachen, auch
seine beiden Gefährten Yanko und Nica wurden mehreren Zeugen
zufolge gemeinsam auf einer solchen Bestie gesehen. Ob dies der
Wahrheit entspricht, wage ich zu bezweifeln, doch es ist wohl
erwiesen, dass dieser Ben den ehrenwerten Ritter Narfried und seine
entzückende Jungfrau getötet hat. Ich weiß nicht, wie viele
Spießgesellen ihm außer den beiden Freunden folgen, doch er hat die
ganze Stadt in Aufruhr und Angst versetzt, und er hat sich nicht
nur gegen das Recht, sondern auch gegen die Ketzer gestellt. Er
muss tollkühn sein oder verrückt, auf jeden Fall aber gefährlich
trotz seines jungen Alters von gerade mal fünfzehn Jahren. Und er
hat seine Motive noch nicht offengelegt; niemand weiß, was er
wirklich will, was ihn zu diesen Taten treibt. Die einfachen Leute
in Trollfurt fürchten ihn und seine Rache. Unverfänglich habe ich
beim Bier mit mehreren ausgewachsenen Männern gesprochen, die sich
ihm nicht entgegenstellen würden, trotz der Belohnung, die der
Orden auf ihn ausgesetzt hat. Sie schwören auf ihr Leben, er sei
mit Samoth im Bunde, und nachts glühten seine Augen rot. Nur der
Schmied wollte ihm sofort den Schädel einschlagen, der Bastard habe
ihm seinen
Sohn gestohlen. Er will von Anfang an gesagt haben, dass dieser
Ben nichts tauge, aber er selbst sei einfach zu weich und gutherzig
gewesen, nicht streng genug zu seinem Yanko. Die Belohnung
interessiere ihn nicht, er täte es schließlich nicht des Geldes
wegen. Bens Mutter ist vor gut zwei Jahren gestorben, eine
Säuferin, der Vater schon viel länger verschwunden. Niemand hatte
ein gutes Wort für diesen Jungen übrig.«
»So, so, sie haben also alle Angst.« Der Hohe Abt
nickte, auf seinen Lippen zeigte sich ein dünnes Lächeln. »Das habe
ich mir gedacht. Deshalb werden wir uns selbst um ihn kümmern und
es nicht bei der Ächtung und Belohnung belassen.«
Inzwischen hatten sie die Außenbereiche der
Klosteranlage erreicht. Ganz im Norden, direkt an der gewaltigen
Wehrmauer, hinter der das Plätschern des gemächlich
dahinflie-ßenden Firnh zu vernehmen war, dessen Wasser im
Sonnenlicht kristallgrün schimmerte, kauerte ein gedrungener runder
Turm, der sicherlich zwanzig Schritt durchmaß und dessen Außenwand
aus großen verwitterten Granitquadern bestand. In dem Gebäude
befanden sich rundum hohe, vergitterte Fensteröffnungen, welche die
Strahlen der göttlichen Sonne hineinließen, und im Süden war ein
Durchgang aus der Mauer gebrochen, der mit einem schwarzen
Fallgatter verschlossen war. Einen solch gewaltigen Zwinger besaßen
nur die bedeutendsten Klöster des Drachenordens. Die Luft um ihn
war kalt, obwohl die Sonne hier ebenso schien wie im vorderen
Hof.
Als sich Abt und Ritter dem Zwinger näherten,
drängten sich vier weiße Drachen im Eingangsbereich. Mit gewaltigen
Klauen rüttelten sie an dem massiven Gestänge und sogen die Luft
mit geweiteten Nüstern ein. Sie schnupperten gierig und bleckten
die Zähne, scharrten aufgeregt über den ausgetretenen
Steinboden und stießen sich gegenseitig zur Seite – jeder suchte
die Nähe des Abts, der nur einen halben Schritt vom Gitter entfernt
stand.
Der kleinste Drache maß gute fünf Schritt, der
größte wohl an die zwölf. Ihr Weiß glich dem einer unberührten
Eisfläche, die in der klaren Mittagssonne glitzert, ihre Schuppen
waren der irdische Abglanz von Hellwahs Reinheit – sie strahlten
heller als jeder Edelstein. Ihre Augen waren klein und blutrot, die
Pupillen schwarze Punkte, die Mäuler riesig, selbst für Drachen;
darin wuchsen drei wilde Reihen langer spitzer Zähne, unregelmäßig
und klar wie Eiszapfen.
Die weißen Drachen waren so kalt, dass niemand
länger auf ihnen zu reiten vermochte, kein Sattel hielt diese Kälte
fern. Angeblich konnte sie jedes noch so hitzige Herz gefrieren
lassen, dass es hart wurde wie Stein und bei der nächsten
Erschütterung in tausend Splitter zerbarst.
Dies waren die Hunde Hellwahs, rastlose
Jagddrachen, einzig dazu ausgebildet, Geächtete und Glaubensfeinde
zur Strecke zu bringen, wo immer sie sich verbergen mochten. Sie
waren Hellwahs Zorn und strafender Arm und bei Weitem nicht so
sanftmütig wie andere Drachen.
»Wirklich bedauerlich, dass du nur diesen Topf
von dem Jungen auftreiben konntest«, sagte der Abt und ließ den
Blick über die Drachen wandern, die tatendurstig mit den Klauen
scharrten. »Aber dann müssen wir eben hoffen, dass sich der Geruch
nicht vollkommen verflüchtigt hat. Oder wir finden ihn über seine
zwei kleinen Freunde.«
Den Ritter fröstelte in der Nähe der weißen
Drachen. Er nickte und reichte dem Abt das Päckchen. Dieser nahm es
und bedeutete den beiden Wachen an der großen Kurbel, das Gatter zu
öffnen. Eifrig folgten sie dem Befehl, und ratternd
hob sich das Tor, während der Abt mit schneidender Stimme die drei
größten Drachen herausrief und den vierten anwies, im Zwinger zu
bleiben.
Aufgeregt hechelnd warteten die drei ausgewählten
Drachen auf weitere Anweisungen. Mit ihren roten Augen starrten sie
den Abt an, rührten sich jedoch nicht. Ohne einen von ihnen zu
berühren, warf er dem ersten ein zerdrücktes Jungenhemd vor die
Nüstern und sagte: »Such!«
Dem zweiten legte er ein grünes Kleid zwischen
die Tatzen und sagte auch ihm: »Such!«
Den verbeulten Topf ließ er dem größten zwischen
die Vordertatzen fallen. »Such!«
Die drei Drachen schnüffelten an den Stoffen und
dem Metall, ließen ein eisiges Knurren hören, das dem roten Ritter
eine Gänsehaut über den ganzen Körper jagte, und trabten los. Sie
verließen das Kloster und würden nun kreuz und quer durch das Land
laufen, ohne Rast auf der Suche nach den Menschen, deren Geruch
sich auf ewig in ihren Nüstern festgesetzt hatte. Noch nie war
ihnen jemand entkommen.
»Das wäre erledigt«, sagte der Abt und sah ihnen
mit einem kalten Lächeln hinterher. »Jetzt stärke dich erst einmal,
und dann erzähle mir von Trollfurt. Wir müssen es zurückgewinnen,
bevor der Einfluss der Ketzer im Reich noch größer wird. Es darf
keine Nachsicht mehr geben, die Jagd ist eröffnet, wo immer sie
sich verstecken. Selbst wenn es zum Bürgerkrieg kommen sollte – wir
können ihre Lügen nicht weiter hinnehmen. Zu Hellwahs Ehren und zum
Schutz des einfachen Volks.«