KAEDY MIA
Sie flogen hoch oben, wo an weniger klaren Tagen die Wolken über den Himmel zogen. So weit entfernt vom Boden, dass auch im Tageslicht niemand sie genau erkennen konnte, höchstens erahnen, wie groß Aiphyron war. Doch ob ein freier Drache oder ein gigantischer Adler, wie es sie weit im Osten geben sollte, würde niemand sagen können.
Bens Hemd und Hose flatterten im Gegenwind, während der Drache mit mächtigen Flügelschlägen voraneilte. Sie kannten nur die grobe Richtung, in der Chybhia lag, doch am Tag wollten sie nicht nach unten gehen. Sie würden einfach bis tief in die Nacht fliegen und dann in der Nähe einer Siedlung lagern. Am Morgen konnte Ben dann den genauen Weg erfragen.
Er starrte hinab und betrachtete die Welt, wie sie unter ihnen vorbeizog. Dunkle Wälder wechselten sich ab mit offenen Ebenen und Auen, Flüssen und einem See, dessen Wasser hell im Sonnenlicht funkelte. Sorgsam abgesteckte Felder lagen in der Nähe der wenigen Siedlungen, hier und da schnitt eine Straße als dünner Strich durch die Landschaft. Die einzelnen Häuser der Dörfer und Städte waren so klein, dass Ben das Gefühl hatte, er könne sie mit einer Hand zerquetschen. Dort unten brachte er viel Geld ein, hier oben, fern aller Menschen, fühlte er sich frei.
»Was hält uns eigentlich im Großtirdischen Reich?«, fragte Aiphyron, als hätte er seine Gedanken erraten. »Wir Drachen werden hier sowieso gejagt, ihr drei nun auch. Dabei könnten wir ohne weiteres über die nächste Grenze fliegen und alles hinter uns lassen. Juri und Feuerschuppe haben die Ritter hinübergeschafft, aber warum nicht uns selbst?«
»Der Schwur hält uns.«
»Stimmt.« Aiphyron schüttelte über die eigene Gedankenlosigkeit den Kopf. »Deshalb schwören wir Drachen nicht.«
»Ich werde auch nie wieder schwören«, knurrte Ben. »Das schwöre ich.«
»Klappt ja hervorragend.« Aiphyron klang amüsiert.
»Ach, sei ruhig. Du weißt doch, wie ich es meine. Das war kein richtiger Schwur, sondern nur so dahingesagt.«
»Dann ist es ja gut.« Aiphyron lachte. »Kann man denn keine Pause machen von einem Schwur? Zwei oder drei Monate irgendwo ausharren, vielleicht ein ganzes Jahr, bis die Steckbriefe ausgeblichen und ein neues Kopfgeld auf einen anderen ausgesetzt wurde. Ihr wollt den Schwur doch erfüllen und nicht bei dem Versuch sterben, oder?«
»Meinst du, Nica hätte drei Monate Geduld?«
»Nein.« Aiphyron schnaubte.
»Außerdem verblasst mit der Zeit doch jede Spur. Ich will den Drachen befreien und nicht vor dem Orden kapitulieren. Eine Pause klingt wie Kapitulation. Und ich will vor ihnen nicht kapitulieren, egal, wie sehr sie uns jagen. Weißt du, den Schwur haben wir uns selbst ausgesucht, wenigstens die eine Hälfte, und das will ich mir nicht nehmen lassen. Ich will nicht nur weglaufen. Verstehst du das?«
»Klar.«
»Erst wenn der Drache frei ist, können wir also über ein fernes Land nachdenken. Und dann machen wir das auch.«
»Gut«, sagte Aiphyron. »Ich hätte da auch schon eine Idee. Ich glaube, dort könnte es dir gefallen.«
Doch bevor der Drache ihm von diesem Land vorschwärmen konnte, drang Ben ein Hauch von Verfall in die Nase. Der Wind roch plötzlich nach Herbst und nassem Laub, das am Straßenrand vergammelte, nach einer offenen, eitrigen Wunde, nach Blut. Aus seinem Pfeifen schien ein Klagen geworden zu sein. Gerade wollte Ben Aiphyron fragen, ob er es auch roch, da stockte dessen Flügelschlag. Sie gerieten ins Trudeln, so plötzlich, dass Ben kurz den Halt verlor und zur Seite wegrutschte.
»He!«, stieß er hervor und presste die Beine fest zusammen, krallte die Finger in die Schuppen, stützte sich auf einem Flügel ab und konnte sich so mühsam auf dem schlingernden Drachen halten.
»Riechst du das?«, fragte Aiphyron statt einer Entschuldigung, während er wieder begann, mit den Flügeln zu schlagen und Ben sich mühsam eine sichere Sitzposition suchte. »Hörst du das leise Klagen?«
»Ja. Was ist das?«
»Ein sterbender Drache.«
»Was?« Vor Überraschung hätte Ben beinahe schon wieder losgelassen und wäre doch noch in die Tiefe gestürzt.
»Nun muss dein Schwur doch warten«, sagte Aiphyron und änderte den Kurs.
»Aber...«
»Hör zu. Ich habe dich noch nie um etwas gebeten, nicht ein einziges Mal. Aber jetzt brauche ich deine Hilfe. Kaedymia braucht sie.«
»Wer ist Kaedymia?«
»Der sterbende Drache.«
»Du kannst riechen, welcher Drache das ist? Verdammt, wie gut ist deine Nase?«
»Kaedymia ist der einzige Drache, den man im Wind riechen kann.«
»Warum?«
»Weil er im Wind geboren wurde«, erklärte Aiphyron. »Er wuchs in einem Felsen heran, hoch auf dem Gipfel eines einsamen Bergs weit im Süden, der von den Menschen dort Himmelsklippe genannt wird. Es ist ein Berg, um dessen zerklüfteten Gipfel zahlreiche Winde toben und dessen Nordseite über mehrere Tausend Schritt steil abfällt. Es sieht aus, als wäre der Berg hier von einer riesigen Axt gespalten worden und die andere Hälfte verschwunden, besser gesagt: als zerschmettertes Geröll über die angrenzende Ebene verteilt worden. Dort oben, am höchsten Punkt, wuchs er heran, die Winde schabten über die Jahre langsam den Stein von seinen Schuppen, und dann, just in dem Moment, in dem er aus dem Fels schlüpfen wollte, stieß ihn eine plötzliche Böe über den Klippenrand und in die Tiefe. Wäre das eine Minute früher geschehen, wäre er auf dem Boden zerschellt und Kaedymia wäre aus Schmerz und Gesteinssplittern geboren worden. Doch nun wurde er im Flug geboren, mitten in den Winden, welche die Himmelsklippe stets umwehten. Er breitete die Flügel aus und flog, noch bevor er seinen ersten richtigen Gedanken fassen konnte. Unter uns Drachen ist er der einzige Windgeborene, und so wie die Winde ihre Spuren in ihm hinterlassen haben, hat er seine in ihnen hinterlassen. Er ist ein Teil von ihnen, und wenn er stirbt, wird der Geruch nach Verfall und Tod über Jahre hinweg mit jedem Sturm über das Land wehen, jeder Frühlingstag wird nach Herbst riechen.«
»Aber warum stirbt er?«, fragte Ben. »Ist er alt oder krank?« An den Orden dachte er nicht, der Orden tötete nicht.
»Ja, er ist alt. Sehr alt. Aber deshalb stirbt er nicht.« Aiphyron schnupperte hektisch in der Luft und schlug immer schneller mit den Flügeln. Sie rasten dahin, Bens Augen tränten, mit solcher Wucht schlug ihm der Wind ins Gesicht. Schweigend klammerte er sich fest und hoffte, dass es nicht mehr allzu weit sei.
 
Schließlich setzte Aiphyron zur Landung an. Bens Knie und Ellbogen waren steif vom Flug, seine Augen verklebt und die Finger klamm vom Festkrallen. Die Luft hier schmeckte grundsätzlich frisch und salzig, doch von unten stieg der Geruch nach Verfall zu ihnen auf, wie auch ein schwerer, süßlicher Duft. Ein fernes Schnattern, Quaken und Glucksen drang in Bens Ohren.
Er öffnete die Augen und erblickte zuerst das Meer. Die Küste lag nur noch wenige Meilen von ihnen entfernt, dahinter erstreckte sich die glitzernde Wasserfläche bis zum Horizont. Weiße Linien aus Wellenschaum liefen langsam auf den Strand zu. Noch nie hatte Ben das Meer gesehen, und er erstarrte angesichts seiner Schönheit.
»Das ist...«, setzte er an, doch dann schwenkte Aiphyron ab und ging tiefer. Direkt unter ihnen lag ein breites, sumpfiges Flussdelta, das fast überall mit wuchernden krummen Bäumen bewachsen war, die kopfgroße rot-weiß marmorierte Blüten trugen. Mit angelegten Flügeln tauchte er hinab auf einen Flecken aus fester Erde, der sich wie eine Insel mitten im Morast erhob. Schlick spritzte auf, als er hart auf dem Boden landete.
Im dichten Sumpfgras vor ihnen krümmte sich ein Drache mit weißgrauen Schuppen, die mit zahlreichen rötlichen und grünen Einsprengseln verziert waren und von kristallin blauen Adern durchzogen. Sein Körper war kaum größer als ein ausgewachsener Mann, rechnete man den ebenso langen Schwanz nicht hinzu; nach Aiphyrons Worten hatte er ihn sich größer vorgestellt. Dennoch, und obwohl er nur schwach atmete, ging eine spürbare Würde von ihm aus.
Hier unten herrschte vollkommene Windstille, und doch schien ein ständiges Wispern durch die hochgewachsenen Halme zu laufen.
»Aiphyron«, murmelte der Drache und blinzelte mit trüben, gelblichen Augen. Der Schatten eines Lächelns huschte über seine lippenlosen Züge, dann wurde es von einem rasselnden Husten weggefegt. Seine Brust war mit getrocknetem Blut und Schlamm bespritzt, ein Flügel von dem spitzen Ast eines Baums durchstoßen, die Knochen des anderen vollkommen zerschmettert, als sei Kaedymia aus großer Höhe darauf gestürzt. Auch in der Brust schien ein abgebrochener Ast zu stecken, doch bei näherem Hinsehen erkannte Ben eine Art Pfeil, dicker als sein Arm, mit einer blutverschmierten Spitze aus Blausilber, die ihn zur Gänze durchbohrt hatte und aus dem Rücken ragte.
»Was ist geschehen?«, fragte Aiphyron den Drachen und scheuchte Ben zugleich zu ihm hinüber.
»Ich...« Wieder erschütterte ein Röcheln den verwundeten Drachen.
»Nicht bewegen!«, befahl Ben und warf sich neben ihm auf die Knie. Schmerz und Mitleid, das er beim ersten Anblick empfunden hatte, waren verschwunden; er dachte nur noch an das, was er tun musste.
»Hör auf ihn«, sagte Aiphyron. »Das ist Ben. Er ist ein Drachenflüsterer.«
Ungläubiges Erstaunen spiegelte sich in Kaedymias Augen, dann Hoffnung. Als Ben ihm die Hand auf die Brust legte und die Heilkräfte zu wirken begannen, schloss der Drache die Augen und seufzte schwer und glücklich.
»Hilf mir«, keuchte Ben und forderte Aiphyron auf, Kaedymia auf die Seite zu drehen und ihm dabei den Ast aus dem Flügel zu entfernen, ganz vorsichtig. Dann hieß er Aiphyron die Blausilberspitze von dem Pfeil brechen. »Zieh ihn ganz langsam raus. Wenn du das getan hast, wechsel die Seiten und halte ihm das Loch im Rücken zu, ich kümmere mich zuerst um seine Brust.«
Ben presste beide Hände auf die offene Wunde und zwang all seine Heilkräfte in den grauen Drachen. Blut quoll zwischen seinen Fingern hindurch, doch schon bald hatte er dessen Fluss gestoppt. Seine Handflächen pochten und kribbelten, sie brannten. Hundert kleine Nadeln schienen hineinzustechen, und dazu noch eine besonders lange, die sich bis zum Ellbogen hinaufbohrte. Er knirschte mit den Zähnen, stöhnte, schwitzte, fluchte und beschimpfte den Pfeil inbrünstig. Der war so gigantisch, dass er sich fragte, ob in diesem Sumpf etwa riesige Trolle lebten, die gelernt hatten, einen Bogen zu bauen.
Bevor er zu ausgelaugt war, um sich auch um den Rücken zu kümmern, nahm er langsam die Hände von der Wunde. Sie hatte sich in einer Mischung aus weicher heller Haut und rostbraunem, rauem Schorf geschlossen. Tief atmete Ben durch und vertrieb das aufkommende Schwindelgefühl mit einem kräftigen Kopfschütteln. Dann schlich er um den Drachen herum und legte seine Hände dorthin, wo der Pfeil wieder ausgetreten war. Als er auch dort die Blutung gestoppt hatte, stürzte er keuchend auf die Knie.
»Danke«, sagte Aiphyron.
»Wasser«, entgegnete Ben. Er fühlte sich vollkommen ausgelaugt.
Kaedymia atmete regelmäßig.
Ben lächelte und trank gierig das Wasser, das Aiphyron ihm aus dem Fluss geschöpft hatte und ihm mit der hohlen Klaue unter die Nase hielt. Dann legte er sich auf den Rücken und starrte stumm in den Himmel, während langsam die Kräfte in ihn zurückflossen.
 
Einen ganzen Tag lang legte Ben Kaedymia immer wieder die Hände auf, sandte seine Heilkräfte in den Körper des Drachen, bis dieser endlich die gelben Augen aufschlug. Nun strahlten sie viel lebendiger, und in ihnen glomm eine Wärme, die direkt von der Sonne zu stammen schien.
»Ein Drachenflüsterer, ich bin wirklich überrascht. Und erfreut. Und zutiefst dankbar natürlich.« Kaedymias Stimme war wie das Säuseln einer warmen Sommerbrise.
»Keine Ursache«, sagte Ben verlegen.
»Das nenne ich Glück, dass ihr gerade in der Gegend wart.«
»Nicht direkt in der Gegend. Wir haben dich gerochen«, erwiderte Aiphyron. »Aber jetzt sag schon, was ist passiert? Gibt es hier schießwütige Riesen?«
»War das ein Troll?«, fragte Ben.
»Nein, nein. Ein Mensch.«
»Ein Mensch? Das ist unmöglich! Der Pfeil war beinahe drei Schritt lang!« Er hätte sogar einen großen Drachen wie Aiphyron durchbohren können, dachte Ben.
»Nun, es war möglich. Sie hat ihn nicht mit einem Bogen abgeschossen.«
»Sie?«
»Ja, sie. Sie lebt in einem einsamen Turm am Meer, ganz am Rande des sumpfigen Deltas. Ich hatte schon von ihr gehört, der Wind trägt viele Stimmen und Gespräche mit sich, und er wispert sie auch aus großer Entfernung an mein Ohr. Die besessene Gujferra wird sie genannt, denn sie hat geschworen, so lange als Einsiedlerin zu leben, bis der Orden der Drachenritter bereit sei, sie als Ritterin aufzunehmen, nicht nur als Jungfrau. Doch der Orden war nicht an ihr als Kriegerin interessiert und kümmerte sich nicht um ihre Worte.
In den ersten Jahren kamen stattdessen zahlreiche Freier an ihr Tor, denn sie war außerordentlich schön und klug, und als Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns hätte sie auch eine ordentliche Mitgift in die Ehe gebracht. Über all diese Vorzüge ließe sich ihre Besessenheit schon vergessen, dachten die Freier, oder sogar austreiben, wenn sie erst einmal in festen Händen war. Doch sie wies jeden ab, denn keiner von ihnen konnte ihre Aufnahme in den Orden erwirken, was die Bedingung für ein Ja gewesen wäre.
Mit den Jahren wurde sie verbittert und begann den Orden zu hassen, der sie so oft zurückgewiesen hatte. Keine Freier klopften mehr an ihre Tür, und damit war ihr sogar die Freude genommen, sie abzuweisen. Sie verfluchte Hellwah und begann uns Drachen zu hassen. Sie schwor, fortan jeden Drachen zu töten, bevor er vom Orden befreit werden konnte, denn sie wollte nicht länger ertragen, dass dummen, tiergleichen Kreaturen etwas ermöglicht wurde, was man ihr so hochnäsig verweigerte: die Aufnahme in den Orden.
Wer immer von diesem Schwur hörte, lachte über sie, denn was konnte eine einzelne Frau schon gegen einen großen Drachen ausrichten? Wie wollte sie ohne die Hilfe einer Jungfrau einen solchen überhaupt aus den Lüften locken, ganz zu schweigen davon, wie im Kampf gegen ihn bestehen? Auch ich dachte mir nichts dabei, in bestimmt zweihundert Schritt Höhe über ihren Turm hinwegzufliegen, mir war nicht einmal bewusst, dass das alte Gemäuer dort unten ihr Turm war.
Doch das war ein Fehler, denn wie ich schon sagte, ist sie eine kluge Frau. Sie hat ein Gerät konstruiert, dass halb Bogen, halb Katapult ist und Pfeile in solcher Größe verschießt wie diesen hier. Damit hat sie mich einfach vom Himmel geholt, während ich nur Augen für das Meer hatte. Mit letzter Kraft kämpfte ich mich bis weit über den Sumpf, um mich hier zu verstecken. Einen ganzen Tag lang dämmerte ich vor mich hin und hoffte, sie würde nicht nach mir suchen, um mir den Garaus zu machen, nicht so weit entfernt von ihrem Turm. Dabei wusste ich, sie würde mich nur erlösen, denn ich lag im Sterben. Trotzdem klammerte ich mich an das Leben, und tatsächlich habt ihr mich gefunden.« Schwer atmend beendete Kaedymia seine Erzählung.
»Wie hoch bist du geflogen?«, vergewisserte sich Aiphyron. »Zweihundert Schritt? Was ist das für eine riesige Konstruktion?«
»Sie ist eine erfindungsreiche Frau, ja«, sagte Kaedymia. »Wenn ich wieder ganz auf den Beinen bin, statte ich ihr einen Besuch ab.«
»Nein«, knurrte Aiphyron. »Bis dahin hat sie vielleicht noch einen von uns erwischt. Ich erledige das jetzt, auf der Stelle.«
»Aber der Pfeil...«, setzte Ben an, doch der Drache hatte sich bereits in die Luft erhoben und stürmte in Richtung Meer, so dass Ben den Satz nur kraftlos und ganz leise beendete. Aiphyron konnte es nicht mehr hören. »... ist groß genug, dich zu töten.«
»Er passt schon auf sich auf«, sagte Kaedymia. »Im Unterschied zu mir weiß er ja nun, welche Gefahr ihm droht.«
Schweigend machte sich Ben wieder daran, den Drachen weiter zu heilen. Er fügte den zerrissenen Flügel zusammen und richtete im zweiten einen Knochenbruch nach dem anderen. Immer wieder legte er eine Pause ein, um Kraft zu schöpfen, Wasser zu trinken und nach Aiphyron Ausschau zu halten.
»Wie weit ist ihr Turm entfernt?«, fragte Ben, als der Drache nach bestimmt drei Stunden noch immer nicht zurück war.
»Nicht weit, nur wenige Meilen.«
»Dann sehe ich jetzt nach ihm. Er müsste längst zurück sein.« Ben sprang auf.
»Ihm ist nichts geschehen«, sagte Kaedymia. »Mein Gehör ist gut. Wäre er getötet worden, hätte es mir der Wind zugetragen.«
Unentschlossen betrachtete Ben den verwundeten Drachen. Sprach er die Wahrheit? Oder wollte er nur verhindern, dass der Drachenflüsterer ihn verließ, bevor er völlig geheilt war? »Ich...«
»Du würdest dich im Morast leicht verirren. Glaub mir, hier gibt es Schlicklöcher, in denen stapeln sich die Knochen der Toten. Und zwischen ihnen hausen hungrige Kreaturen, auf die du ganz bestimmt nicht treffen möchtest. Aiphyron geht es gut.«
In den Augen des Drachen konnte Ben keinen Trug erkennen. Natürlich war er nicht sicher, ob er überhaupt dazu in der Lage war, so etwas zu erkennen, aber er vertraute ihm. Hatte Aiphyron ihn nicht als Freund bezeichnet? Oder bildete er sich das ein?
»Erzähl mir doch einfach, wie du auf Aiphyron getroffen bist«, forderte ihn Kaedymia auf. »Und was euch hierher verschlagen hat. Aiphyron wird wohl noch eine Weile brauchen.«
Ben begann zu erzählen. Er ließ sich Zeit und fragte nicht, warum Kaedymia davon nicht wusste, wenn er doch angeblich alles im Wind hören konnte. Doch wahrscheinlich wäre alles tatsächlich zu viel, um es zu verkraften, und er lauschte nur hier und da, während zahllose ferne Worte, Sätze und Geschichten unbeachtet an ihm vorbeirauschten. Also berichtete Ben von ihrer Jagd nach dem Ketzer, dem Kampf gegen den Orden und ihrem Schwur, einen Drachen zu befreien. Auch von dem Streit mit Nica und Yanko sprach er, doch er versuchte, die beiden nicht schlecht aussehen zu lassen, betonte, dass auch sie sich um das Wohl der Drachen sorgten. Als die Sonne unterging, entfachte Ben ein Feuer. Nun war es zu spät und zu dunkel, um sich auf die Suche nach dem Turm zu machen.
Stundenlang blieb Aiphyron verschwunden. Als Ben schließlich tief in der Nacht die Hände in seine Hosentaschen steckte und dort auf den Schlüssel aus der Ruine stieß, setzte er an, auch von diesem unwichtigen Detail ihrer Abenteuer zu erzählen, doch er kam nicht weit. Mit einem selbstzufriedenen Grinsen landete Aiphyron direkt neben ihnen.
»Endlich«, rief Ben. »Wo warst du so lange? Was hast du mit ihr gemacht?«
»Ich habe ihr Pfeilkatapult in kleine Stücke zerrissen und ins Meer geworfen. Auch die Pfeilspitzen aus Blausilber. Dann habe ich den Turm dem Erdboden gleichgemacht und ihre Möbel mit meinem Feuer in Brand gesetzt, damit auch ja nirgendwo ein versteckter Konstruktionsplan heil blieb.«
»Und mit ihr? Was hast du mit ihr gemacht?«
»Na, verbannt. Was denn sonst? Ich dachte, das hat sich einmal bewährt, das wäre das Beste. Also habe ich ihr eine schöne fruchtbare Insel weit draußen auf dem Meer ausgesucht, auf der sie genug Wasser und Früchte findet, jedoch keine Steine, um einen Turm zu errichten. Und kein Blausilber.«
»Hat sie sich gewehrt?«
»Ein wenig. Aber vor allem hat sie mir versichert, sie würde mich nicht heiraten, unter keinen Umständen.«
Die Frau scheint mehr verwirrt als verbittert zu sein, dachte Ben, auch wenn sie noch klar genug im Kopf war, um einen fliegenden Drachen mit einem Pfeil zu treffen. Er war froh, dass sie dazu nun nicht mehr in der Lage war. Froh, dass sie von ihrem Weg auf der Erfüllung des Schwurs abgewichen waren. Froh, dass sie Kaedymia geheilt hatten.
»Magst du mir diesen interessanten Schlüssel mal zeigen?«, fragte der gerade und lächelte Ben an.
»Welchen Schlüssel?«, entgegnete Ben, in Gedanken noch immer bei der besessenen Gujferra.
»Dem, von dem du mir eben erzählt hast.«
Verwundert zog Ben den großen goldenen Schlüssel aus der Tasche, der im Licht des Feuers schimmerte. Kurz wischte er mit dem Ärmel über die roten Augen des Drachenkopfs, zu dem die Räute geformt war. Dann drückte er ihn Kaedymia in die Klaue.
»Tatsächlich.« Der Drache lächelte versonnen. »Es ist ewig her, seit ich zum letzten Mal einen gesehen habe. Jahrhunderte. Ich dachte, sie wären längst alle verloren oder zerstört.«
»Du kennst den Schlüssel?« Ehrfürchtig sah Ben den Drachen an, der beinahe beiläufig über eine Zeitspanne von Jahrhunderten sprach.
»Der alte Kerl weiß einfach alles«, brummte Aiphyron mit gespieltem Missmut und schüttelte den Kopf. »Immer eine ewig alte Geschichte auf Lager, was? Aber ich hab doch gesagt, dass ich das Ding irgendwoher kenne. Auch ich weiß so manches.«
»Ja, hast du«, bestätigte Ben beiläufig.
»Wenn wir gerade über dich und Wissen reden«, wandte sich Kaedymia lächelnd an Aiphyron. »Hast du eigentlich inzwischen mehr über deine Herkunft erfahren? Das ist noch etwas, das ich nicht weiß und das mich brennend interessiert.«
»Brennend. Sehr witzig«, knurrte Aiphyron, der im Unterschied zu den meisten Drachen nicht wusste, worin er herangewachsen war. Die erste Erinnerung, die er in sich trug, war die an furchtbare, stechende Schmerzen, und als er die Augen aufgeschlagen hatte, hatte er in einer mit grauer Asche überzogenen Ebene gelegen. Weißer Staub hatte wie Nebel in der Luft gehangen. Irgendein Feuer musste seinen Herkunftsort verbrannt haben, kurz bevor er schlüpfen wollte.
Wie auch Kaedymia hatte er keine normale Geburt gehabt, überlegte Ben, vielleicht war das der Grund, weshalb sich die beiden so verbunden fühlten. Doch im Augenblick interessierte ihn anderes viel mehr.
»Was ist jetzt mit dem Schlüssel?«, drängte er.
»Er ist einer der neun Großen Schlüssel, die Rauna geschmiedet hat.« Kaedymia strahlte ihn an, als müsse Ben jetzt vor Begeisterung zu tanzen beginnen. Doch Ben hatte noch nie von einem Rauna gehört, und dass der Schlüssel groß war, konnte er selbst sehen. Das sagte er auch Kaedymia, und der lachte.
»Eine Rauna«, sagte er. »Eine. Rauna war eine Frau. Und sie war eine Schlüsselmacherin, geboren mit einer besonderen Gabe, so wie du eben ein Drachenflüsterer bist. Rauna konnte schmieden wie keine zweite Frau und wie kein Mann zu ihrer Zeit. Schon als Kind fertigte sie beim Schmied ihres Dorfs Schlösser an, die von niemandem zu knacken waren. Doch als sie sich als junge Frau ihrer Gabe vollends bewusst wurde, schuf sie Schlüssel, die mehr konnten, als ein bestimmtes Schloss zu öffnen oder zu verschließen. Sie schmiedete kleine silberne Schlüssel, die für das Herz eines bestimmten Menschen geformt wurden und besser wirkten als jeder Liebestrank. Aus rotem Lehm formte und brannte sie einen Schlüssel für die Schleusen des Himmels, als eine anhaltende Trockenzeit ihre Heimat mit einem Jahr des Hungers bedrohte. Mit einem Messer aus Blausilber schnitzte sie aus dem Herz einer Goldesche einen bartlosen Schlüssel, der jedes Schloss öffnete, dessen Schlüssel verloren gegangen war.
Über die nächsten drei Jahrzehnte stellte sie diese und andere Schlüssel her. Schließlich verschwand sie spurlos, als sie den zur Unterwelt für den Fürsten von Aphrasehr gießen sollte, der drei Kinder bei einer schrecklichen Sturmflut verloren hatte und sie zurückhaben wollte. Damals sagten viele, sie hätte wohl auch diese Aufgabe bewältigt, wenn es ihr nur gelungen wäre, das Tor zu finden. Doch sie vermuteten, dass sie nie so weit gekommen, sondern dass ihr auf der Suche danach etwas zugestoßen war. Wer wusste schon, wo das Tor lag und wie es bewacht wurde? Andere waren überzeugt, sie habe es trotz allem geschafft, doch wer einmal das Tor zur Unterwelt durchschritten habe, kehre nicht zurück, auch nicht die fähigste Schlüsselmacherin aller Zeiten. Seither lebe sie einsam unter den Toten, als Einzige, die nie wirklich gestorben war.
Was auch immer der Grund für ihr Verschwinden war, zuvor hatte sie noch die neun Großen Schlüssel gefertigt; Schlüssel aus reinstem Gold, die im Feuer eines vulkangeborenen Drachen geschmiedet worden waren. Diese Großen Schlüssel öffneten weder Tür noch Tor, sondern taten das Gegenteil: Sie verriegelten ein ganzes Gebäude. Vergrub man sie unter der Schwelle des Eingangs, konnte kein Unbefugter eintreten; ein Schutzzauber legte sich nicht nur über diesen Eingang, sondern über alle Türen und Fenster.
Auf diese Art wurde auch die berühmte Burg Drachensturz gesichert. Jahrelang wurde sie von sieben feindlichen Heeren belagert, jedoch nicht eingenommen. Eine wilde Horde Trolle versuchte sie zu stürmen – vergeblich. Mit welcher Übermacht die Burg auch angegriffen wurde, nie wurde sie eingenommen, bis selbst die Burgherren, viele Generationen nachdem der Schlüssel vergraben worden war, vergessen hatten, woher die Stärke ihrer Festung kam. Sie erinnerten sich nicht mehr daran, ein besonderes Augenmerk auf die unscheinbare Ausfalltür zu haben, unter welcher der Schlüssel lag, und achteten nicht auf die Tiere, die sich dort herumtrieben. Manch einer behauptete, es wäre ein allzu eifriger Maulwurf gewesen, der den Schlüssel ausgrub, doch ich bin davon überzeugt, dass ihn ein Hund auf der Suche nach einem Platz für seinen Knochen aus der Erde gewühlt hat. Achtlos ließ er ihn liegen, und eine große Königselster trug das glitzernde Ding schließlich davon. Als Drachensturz Jahre später erneut angegriffen wurde, wurden die in ihrer Selbstherrlichkeit viel zu nachlässigen Verteidiger, die sich allein auf den Ruf ihrer Feste verließen, böse überrascht.
Insgesamt neun stolze Burgen und Wehrklöster hatte Rauna mit ihren Großen Schlüsseln geschützt, doch sie alle verloren sie im Lauf der Jahrhunderte auf die eine oder andere Weise. Durch neugierige Tiere, spielende Kinder oder auch ein schlimmes, reißendes Hochwasser, das die Erde unter einer solchen Schwelle fortspülte. Nichts bewahrt einen für immer vor den Launen des Zufalls. Die Schlüssel wurden gefunden und von Wissenden genutzt und erneut unter einer Schwelle vergraben. Oder auch von Unwissenden eingeschmolzen, die nur Augen für das Gold und die Edelsteine hatten und daraus Schmuck fertigten. So nahm die Zahl von Raunas Großen Schlüsseln über die Jahrhunderte beständig ab. Bis eben wusste ich nicht, dass überhaupt noch einer existiert.«
In Bens Kopf drehte sich alles. Ein Schlüssel, dessen Zauber ein Gebäude uneinnehmbar machte. Wenn das wirklich stimmte, könnten sie damit den Orden aussperren, egal, mit welcher Übermacht dieser nach ihnen suchte. Sie benötigten nur ein Haus, einen Turm oder eine alte verlassene Burg, die sie sich aneignen konnten. Ein Gebäude, das er, Yanko und Nica auf den Drachen durch die Luft verlassen und betreten konnten, denn dann wären sie selbst unter Belagerung nicht eingesperrt.
Er schluckte. Ganz selbstverständlich hatte er Yanko und Nica in diesen Traum mit eingebunden. Schnell drängte er die Gedanken an die beiden wieder fort.
Konnte es einen solchen Schlüssel wirklich geben?, fragte er sich und antworte: Konnte es einen Jungen geben, der mit bloßen Händen abgeschlagene Drachenjlügel nachwachsen ließ? Er grinste, doch dann fiel ihm wieder ein, wo sie den Schlüssel gefunden hatten, und misstrauisch fragte er Kaedymia, weshalb sie dann den Turm dieser Ruine hatten betreten können, wenn der Zauber des Schlüssels so mächtig sei.
»Ich weiß es nicht, dafür kann es viele Gründe geben«, antwortete der Drache. »Wenn die Tür nicht geschlossen war, dann wirkt der Zauber nicht, er versiegelt nur verschlossene Türen. Vielleicht lag es auch daran, dass die Ruine herrenlos war, dass es dort niemanden gab, der geschützt werden musste, und der Schlüssel erkannte euch als die neuen Besitzer an. Damit durftet ihr natürlich eintreten. Mit Sicherheit kann ich es dir nicht sagen, ich bin kein Schlüsselmacher, ich kannte nur den Drachen, der das Feuer für die Schlüssel gab.«
»Du kanntest ihn? Ist er tot?«
»Seit vielen Jahren. Aus irgendeinem Grund war er, der Vulkangeborene, besessen von dem Gedanken ans Meer. Er wollte seine Tiefen sehen, stürzte sich nach langem Zögern hinein und tauchte nicht wieder auf. Ich weiß nicht, ob ihn ein Seeungeheuer geholt hat oder ob sein Feuer im Wasser einfach erloschen ist.« Kaedymia starrte zu Boden und fuhr fort, doch es klang wenig überzeugt. »Vielleicht gefiel es ihm dort unten auch einfach so sehr, dass er deshalb nie wieder auftauchte. Schließlich gibt es einige Drachen, die im Wasser leben.«
Ben und Aiphyron sagten darauf nichts, sie sahen Kaedymia auch nicht in die Augen. Gemeinsam saßen sie schweigend in der Nacht, dann erhob sich Ben und legte Kaedymia noch einmal die Hände auf die heilende Brustwunde. Dabei spürte er, wie sich der flatternde Herzschlag des Drachen langsam beruhigte.