KAEDY MIA
Sie flogen hoch oben, wo an weniger klaren
Tagen die Wolken über den Himmel zogen. So weit entfernt vom Boden,
dass auch im Tageslicht niemand sie genau erkennen konnte,
höchstens erahnen, wie groß Aiphyron war. Doch ob ein freier Drache
oder ein gigantischer Adler, wie es sie weit im Osten geben sollte,
würde niemand sagen können.
Bens Hemd und Hose flatterten im Gegenwind, während
der Drache mit mächtigen Flügelschlägen voraneilte. Sie kannten nur
die grobe Richtung, in der Chybhia lag, doch am Tag wollten sie
nicht nach unten gehen. Sie würden einfach bis tief in die Nacht
fliegen und dann in der Nähe einer Siedlung lagern. Am Morgen
konnte Ben dann den genauen Weg erfragen.
Er starrte hinab und betrachtete die Welt, wie sie
unter ihnen vorbeizog. Dunkle Wälder wechselten sich ab mit offenen
Ebenen und Auen, Flüssen und einem See, dessen Wasser hell im
Sonnenlicht funkelte. Sorgsam abgesteckte Felder lagen in der Nähe
der wenigen Siedlungen, hier und da schnitt eine Straße als dünner
Strich durch die Landschaft. Die einzelnen Häuser der Dörfer und
Städte waren so klein, dass Ben das Gefühl hatte, er könne sie mit
einer Hand zerquetschen. Dort unten brachte er viel Geld ein, hier
oben, fern aller Menschen, fühlte er sich frei.
»Was hält uns eigentlich im Großtirdischen Reich?«,
fragte Aiphyron, als hätte er seine Gedanken erraten. »Wir Drachen
werden hier sowieso gejagt, ihr drei nun auch. Dabei könnten
wir ohne weiteres über die nächste Grenze fliegen und alles hinter
uns lassen. Juri und Feuerschuppe haben die Ritter
hinübergeschafft, aber warum nicht uns selbst?«
»Der Schwur hält uns.«
»Stimmt.« Aiphyron schüttelte über die eigene
Gedankenlosigkeit den Kopf. »Deshalb schwören wir Drachen
nicht.«
»Ich werde auch nie wieder schwören«, knurrte Ben.
»Das schwöre ich.«
»Klappt ja hervorragend.« Aiphyron klang
amüsiert.
»Ach, sei ruhig. Du weißt doch, wie ich es meine.
Das war kein richtiger Schwur, sondern nur so dahingesagt.«
»Dann ist es ja gut.« Aiphyron lachte. »Kann man
denn keine Pause machen von einem Schwur? Zwei oder drei Monate
irgendwo ausharren, vielleicht ein ganzes Jahr, bis die Steckbriefe
ausgeblichen und ein neues Kopfgeld auf einen anderen ausgesetzt
wurde. Ihr wollt den Schwur doch erfüllen und nicht bei dem Versuch
sterben, oder?«
»Meinst du, Nica hätte drei Monate Geduld?«
»Nein.« Aiphyron schnaubte.
»Außerdem verblasst mit der Zeit doch jede Spur.
Ich will den Drachen befreien und nicht vor dem Orden kapitulieren.
Eine Pause klingt wie Kapitulation. Und ich will vor ihnen nicht
kapitulieren, egal, wie sehr sie uns jagen. Weißt du, den Schwur
haben wir uns selbst ausgesucht, wenigstens die eine Hälfte, und
das will ich mir nicht nehmen lassen. Ich will nicht nur weglaufen.
Verstehst du das?«
»Klar.«
»Erst wenn der Drache frei ist, können wir also
über ein fernes Land nachdenken. Und dann machen wir das
auch.«
»Gut«, sagte Aiphyron. »Ich hätte da auch schon
eine Idee. Ich glaube, dort könnte es dir gefallen.«
Doch bevor der Drache ihm von diesem Land
vorschwärmen konnte, drang Ben ein Hauch von Verfall in die Nase.
Der Wind roch plötzlich nach Herbst und nassem Laub, das am
Straßenrand vergammelte, nach einer offenen, eitrigen Wunde, nach
Blut. Aus seinem Pfeifen schien ein Klagen geworden zu sein. Gerade
wollte Ben Aiphyron fragen, ob er es auch roch, da stockte dessen
Flügelschlag. Sie gerieten ins Trudeln, so plötzlich, dass Ben kurz
den Halt verlor und zur Seite wegrutschte.
»He!«, stieß er hervor und presste die Beine fest
zusammen, krallte die Finger in die Schuppen, stützte sich auf
einem Flügel ab und konnte sich so mühsam auf dem schlingernden
Drachen halten.
»Riechst du das?«, fragte Aiphyron statt einer
Entschuldigung, während er wieder begann, mit den Flügeln zu
schlagen und Ben sich mühsam eine sichere Sitzposition suchte.
»Hörst du das leise Klagen?«
»Ja. Was ist das?«
»Ein sterbender Drache.«
»Was?« Vor Überraschung hätte Ben beinahe schon
wieder losgelassen und wäre doch noch in die Tiefe gestürzt.
»Nun muss dein Schwur doch warten«, sagte Aiphyron
und änderte den Kurs.
»Aber...«
»Hör zu. Ich habe dich noch nie um etwas gebeten,
nicht ein einziges Mal. Aber jetzt brauche ich deine Hilfe.
Kaedymia braucht sie.«
»Wer ist Kaedymia?«
»Der sterbende Drache.«
»Du kannst riechen, welcher Drache das ist?
Verdammt, wie gut ist deine Nase?«
»Kaedymia ist der einzige Drache, den man im Wind
riechen kann.«
»Warum?«
»Weil er im Wind geboren wurde«, erklärte Aiphyron.
»Er wuchs in einem Felsen heran, hoch auf dem Gipfel eines einsamen
Bergs weit im Süden, der von den Menschen dort Himmelsklippe
genannt wird. Es ist ein Berg, um dessen zerklüfteten Gipfel
zahlreiche Winde toben und dessen Nordseite über mehrere Tausend
Schritt steil abfällt. Es sieht aus, als wäre der Berg hier von
einer riesigen Axt gespalten worden und die andere Hälfte
verschwunden, besser gesagt: als zerschmettertes Geröll über die
angrenzende Ebene verteilt worden. Dort oben, am höchsten Punkt,
wuchs er heran, die Winde schabten über die Jahre langsam den Stein
von seinen Schuppen, und dann, just in dem Moment, in dem er aus
dem Fels schlüpfen wollte, stieß ihn eine plötzliche Böe über den
Klippenrand und in die Tiefe. Wäre das eine Minute früher
geschehen, wäre er auf dem Boden zerschellt und Kaedymia wäre aus
Schmerz und Gesteinssplittern geboren worden. Doch nun wurde er im
Flug geboren, mitten in den Winden, welche die Himmelsklippe stets
umwehten. Er breitete die Flügel aus und flog, noch bevor er seinen
ersten richtigen Gedanken fassen konnte. Unter uns Drachen ist er
der einzige Windgeborene, und so wie die Winde ihre Spuren in ihm
hinterlassen haben, hat er seine in ihnen hinterlassen. Er ist ein
Teil von ihnen, und wenn er stirbt, wird der Geruch nach Verfall
und Tod über Jahre hinweg mit jedem Sturm über das Land wehen,
jeder Frühlingstag wird nach Herbst riechen.«
»Aber warum stirbt er?«, fragte Ben. »Ist er alt
oder krank?« An den Orden dachte er nicht, der Orden tötete
nicht.
»Ja, er ist alt. Sehr alt. Aber deshalb stirbt er
nicht.« Aiphyron schnupperte hektisch in der Luft und schlug immer
schneller mit den Flügeln. Sie rasten dahin, Bens Augen tränten,
mit solcher Wucht schlug ihm der Wind ins Gesicht. Schweigend
klammerte er sich fest und hoffte, dass es nicht mehr allzu weit
sei.
Schließlich setzte Aiphyron zur Landung an. Bens
Knie und Ellbogen waren steif vom Flug, seine Augen verklebt und
die Finger klamm vom Festkrallen. Die Luft hier schmeckte
grundsätzlich frisch und salzig, doch von unten stieg der Geruch
nach Verfall zu ihnen auf, wie auch ein schwerer, süßlicher Duft.
Ein fernes Schnattern, Quaken und Glucksen drang in Bens
Ohren.
Er öffnete die Augen und erblickte zuerst das Meer.
Die Küste lag nur noch wenige Meilen von ihnen entfernt, dahinter
erstreckte sich die glitzernde Wasserfläche bis zum Horizont. Weiße
Linien aus Wellenschaum liefen langsam auf den Strand zu. Noch nie
hatte Ben das Meer gesehen, und er erstarrte angesichts seiner
Schönheit.
»Das ist...«, setzte er an, doch dann schwenkte
Aiphyron ab und ging tiefer. Direkt unter ihnen lag ein breites,
sumpfiges Flussdelta, das fast überall mit wuchernden krummen
Bäumen bewachsen war, die kopfgroße rot-weiß marmorierte Blüten
trugen. Mit angelegten Flügeln tauchte er hinab auf einen Flecken
aus fester Erde, der sich wie eine Insel mitten im Morast erhob.
Schlick spritzte auf, als er hart auf dem Boden landete.
Im dichten Sumpfgras vor ihnen krümmte sich ein
Drache mit weißgrauen Schuppen, die mit zahlreichen rötlichen und
grünen Einsprengseln verziert waren und von kristallin
blauen Adern durchzogen. Sein Körper war kaum größer als ein
ausgewachsener Mann, rechnete man den ebenso langen Schwanz nicht
hinzu; nach Aiphyrons Worten hatte er ihn sich größer vorgestellt.
Dennoch, und obwohl er nur schwach atmete, ging eine spürbare Würde
von ihm aus.
Hier unten herrschte vollkommene Windstille, und
doch schien ein ständiges Wispern durch die hochgewachsenen Halme
zu laufen.
»Aiphyron«, murmelte der Drache und blinzelte mit
trüben, gelblichen Augen. Der Schatten eines Lächelns huschte über
seine lippenlosen Züge, dann wurde es von einem rasselnden Husten
weggefegt. Seine Brust war mit getrocknetem Blut und Schlamm
bespritzt, ein Flügel von dem spitzen Ast eines Baums durchstoßen,
die Knochen des anderen vollkommen zerschmettert, als sei Kaedymia
aus großer Höhe darauf gestürzt. Auch in der Brust schien ein
abgebrochener Ast zu stecken, doch bei näherem Hinsehen erkannte
Ben eine Art Pfeil, dicker als sein Arm, mit einer
blutverschmierten Spitze aus Blausilber, die ihn zur Gänze
durchbohrt hatte und aus dem Rücken ragte.
»Was ist geschehen?«, fragte Aiphyron den Drachen
und scheuchte Ben zugleich zu ihm hinüber.
»Ich...« Wieder erschütterte ein Röcheln den
verwundeten Drachen.
»Nicht bewegen!«, befahl Ben und warf sich neben
ihm auf die Knie. Schmerz und Mitleid, das er beim ersten Anblick
empfunden hatte, waren verschwunden; er dachte nur noch an das, was
er tun musste.
»Hör auf ihn«, sagte Aiphyron. »Das ist Ben. Er ist
ein Drachenflüsterer.«
Ungläubiges Erstaunen spiegelte sich in Kaedymias
Augen,
dann Hoffnung. Als Ben ihm die Hand auf die Brust legte und die
Heilkräfte zu wirken begannen, schloss der Drache die Augen und
seufzte schwer und glücklich.
»Hilf mir«, keuchte Ben und forderte Aiphyron auf,
Kaedymia auf die Seite zu drehen und ihm dabei den Ast aus dem
Flügel zu entfernen, ganz vorsichtig. Dann hieß er Aiphyron die
Blausilberspitze von dem Pfeil brechen. »Zieh ihn ganz langsam
raus. Wenn du das getan hast, wechsel die Seiten und halte ihm das
Loch im Rücken zu, ich kümmere mich zuerst um seine Brust.«
Ben presste beide Hände auf die offene Wunde und
zwang all seine Heilkräfte in den grauen Drachen. Blut quoll
zwischen seinen Fingern hindurch, doch schon bald hatte er dessen
Fluss gestoppt. Seine Handflächen pochten und kribbelten, sie
brannten. Hundert kleine Nadeln schienen hineinzustechen, und dazu
noch eine besonders lange, die sich bis zum Ellbogen hinaufbohrte.
Er knirschte mit den Zähnen, stöhnte, schwitzte, fluchte und
beschimpfte den Pfeil inbrünstig. Der war so gigantisch, dass er
sich fragte, ob in diesem Sumpf etwa riesige Trolle lebten, die
gelernt hatten, einen Bogen zu bauen.
Bevor er zu ausgelaugt war, um sich auch um den
Rücken zu kümmern, nahm er langsam die Hände von der Wunde. Sie
hatte sich in einer Mischung aus weicher heller Haut und
rostbraunem, rauem Schorf geschlossen. Tief atmete Ben durch und
vertrieb das aufkommende Schwindelgefühl mit einem kräftigen
Kopfschütteln. Dann schlich er um den Drachen herum und legte seine
Hände dorthin, wo der Pfeil wieder ausgetreten war. Als er auch
dort die Blutung gestoppt hatte, stürzte er keuchend auf die
Knie.
»Danke«, sagte Aiphyron.
»Wasser«, entgegnete Ben. Er fühlte sich vollkommen
ausgelaugt.
Kaedymia atmete regelmäßig.
Ben lächelte und trank gierig das Wasser, das
Aiphyron ihm aus dem Fluss geschöpft hatte und ihm mit der hohlen
Klaue unter die Nase hielt. Dann legte er sich auf den Rücken und
starrte stumm in den Himmel, während langsam die Kräfte in ihn
zurückflossen.
Einen ganzen Tag lang legte Ben Kaedymia immer
wieder die Hände auf, sandte seine Heilkräfte in den Körper des
Drachen, bis dieser endlich die gelben Augen aufschlug. Nun
strahlten sie viel lebendiger, und in ihnen glomm eine Wärme, die
direkt von der Sonne zu stammen schien.
»Ein Drachenflüsterer, ich bin wirklich überrascht.
Und erfreut. Und zutiefst dankbar natürlich.« Kaedymias Stimme war
wie das Säuseln einer warmen Sommerbrise.
»Keine Ursache«, sagte Ben verlegen.
»Das nenne ich Glück, dass ihr gerade in der Gegend
wart.«
»Nicht direkt in der Gegend. Wir haben dich
gerochen«, erwiderte Aiphyron. »Aber jetzt sag schon, was ist
passiert? Gibt es hier schießwütige Riesen?«
»War das ein Troll?«, fragte Ben.
»Nein, nein. Ein Mensch.«
»Ein Mensch? Das ist unmöglich! Der Pfeil war
beinahe drei Schritt lang!« Er hätte sogar einen großen
Drachen wie Aiphyron durchbohren können, dachte
Ben.
»Nun, es war möglich. Sie hat ihn nicht mit einem
Bogen abgeschossen.«
»Sie?«
»Ja, sie. Sie lebt in einem einsamen Turm am Meer,
ganz am
Rande des sumpfigen Deltas. Ich hatte schon von ihr gehört, der
Wind trägt viele Stimmen und Gespräche mit sich, und er wispert sie
auch aus großer Entfernung an mein Ohr. Die besessene Gujferra wird
sie genannt, denn sie hat geschworen, so lange als Einsiedlerin zu
leben, bis der Orden der Drachenritter bereit sei, sie als Ritterin
aufzunehmen, nicht nur als Jungfrau. Doch der Orden war nicht an
ihr als Kriegerin interessiert und kümmerte sich nicht um ihre
Worte.
In den ersten Jahren kamen stattdessen zahlreiche
Freier an ihr Tor, denn sie war außerordentlich schön und klug, und
als Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns hätte sie auch eine
ordentliche Mitgift in die Ehe gebracht. Über all diese Vorzüge
ließe sich ihre Besessenheit schon vergessen, dachten die Freier,
oder sogar austreiben, wenn sie erst einmal in festen Händen war.
Doch sie wies jeden ab, denn keiner von ihnen konnte ihre Aufnahme
in den Orden erwirken, was die Bedingung für ein Ja gewesen
wäre.
Mit den Jahren wurde sie verbittert und begann den
Orden zu hassen, der sie so oft zurückgewiesen hatte. Keine Freier
klopften mehr an ihre Tür, und damit war ihr sogar die Freude
genommen, sie abzuweisen. Sie verfluchte Hellwah und begann uns
Drachen zu hassen. Sie schwor, fortan jeden Drachen zu töten, bevor
er vom Orden befreit werden konnte, denn sie wollte nicht länger
ertragen, dass dummen, tiergleichen Kreaturen etwas ermöglicht
wurde, was man ihr so hochnäsig verweigerte: die Aufnahme in den
Orden.
Wer immer von diesem Schwur hörte, lachte über sie,
denn was konnte eine einzelne Frau schon gegen einen großen Drachen
ausrichten? Wie wollte sie ohne die Hilfe einer Jungfrau einen
solchen überhaupt aus den Lüften locken, ganz zu schweigen davon,
wie im Kampf gegen ihn bestehen? Auch
ich dachte mir nichts dabei, in bestimmt zweihundert Schritt Höhe
über ihren Turm hinwegzufliegen, mir war nicht einmal bewusst, dass
das alte Gemäuer dort unten ihr Turm war.
Doch das war ein Fehler, denn wie ich schon sagte,
ist sie eine kluge Frau. Sie hat ein Gerät konstruiert, dass halb
Bogen, halb Katapult ist und Pfeile in solcher Größe verschießt wie
diesen hier. Damit hat sie mich einfach vom Himmel geholt, während
ich nur Augen für das Meer hatte. Mit letzter Kraft kämpfte ich
mich bis weit über den Sumpf, um mich hier zu verstecken. Einen
ganzen Tag lang dämmerte ich vor mich hin und hoffte, sie würde
nicht nach mir suchen, um mir den Garaus zu machen, nicht so weit
entfernt von ihrem Turm. Dabei wusste ich, sie würde mich nur
erlösen, denn ich lag im Sterben. Trotzdem klammerte ich mich an
das Leben, und tatsächlich habt ihr mich gefunden.« Schwer atmend
beendete Kaedymia seine Erzählung.
»Wie hoch bist du geflogen?«, vergewisserte sich
Aiphyron. »Zweihundert Schritt? Was ist das für eine riesige
Konstruktion?«
»Sie ist eine erfindungsreiche Frau, ja«, sagte
Kaedymia. »Wenn ich wieder ganz auf den Beinen bin, statte ich ihr
einen Besuch ab.«
»Nein«, knurrte Aiphyron. »Bis dahin hat sie
vielleicht noch einen von uns erwischt. Ich erledige das jetzt, auf
der Stelle.«
»Aber der Pfeil...«, setzte Ben an, doch der Drache
hatte sich bereits in die Luft erhoben und stürmte in Richtung
Meer, so dass Ben den Satz nur kraftlos und ganz leise beendete.
Aiphyron konnte es nicht mehr hören. »... ist groß genug, dich zu
töten.«
»Er passt schon auf sich auf«, sagte Kaedymia. »Im
Unterschied zu mir weiß er ja nun, welche Gefahr ihm droht.«
Schweigend machte sich Ben wieder daran, den
Drachen weiter zu heilen. Er fügte den zerrissenen Flügel zusammen
und richtete im zweiten einen Knochenbruch nach dem anderen. Immer
wieder legte er eine Pause ein, um Kraft zu schöpfen, Wasser zu
trinken und nach Aiphyron Ausschau zu halten.
»Wie weit ist ihr Turm entfernt?«, fragte Ben, als
der Drache nach bestimmt drei Stunden noch immer nicht zurück
war.
»Nicht weit, nur wenige Meilen.«
»Dann sehe ich jetzt nach ihm. Er müsste längst
zurück sein.« Ben sprang auf.
»Ihm ist nichts geschehen«, sagte Kaedymia. »Mein
Gehör ist gut. Wäre er getötet worden, hätte es mir der Wind
zugetragen.«
Unentschlossen betrachtete Ben den verwundeten
Drachen. Sprach er die Wahrheit? Oder wollte er nur verhindern,
dass der Drachenflüsterer ihn verließ, bevor er völlig geheilt war?
»Ich...«
»Du würdest dich im Morast leicht verirren. Glaub
mir, hier gibt es Schlicklöcher, in denen stapeln sich die Knochen
der Toten. Und zwischen ihnen hausen hungrige Kreaturen, auf die du
ganz bestimmt nicht treffen möchtest. Aiphyron geht es gut.«
In den Augen des Drachen konnte Ben keinen Trug
erkennen. Natürlich war er nicht sicher, ob er überhaupt dazu in
der Lage war, so etwas zu erkennen, aber er vertraute ihm. Hatte
Aiphyron ihn nicht als Freund bezeichnet? Oder bildete er sich das
ein?
»Erzähl mir doch einfach, wie du auf Aiphyron
getroffen bist«, forderte ihn Kaedymia auf. »Und was euch hierher
verschlagen hat. Aiphyron wird wohl noch eine Weile
brauchen.«
Ben begann zu erzählen. Er ließ sich Zeit und
fragte nicht, warum Kaedymia davon nicht wusste, wenn er doch
angeblich alles im Wind hören konnte. Doch wahrscheinlich wäre
alles tatsächlich zu viel, um es zu verkraften, und er lauschte nur
hier und da, während zahllose ferne Worte, Sätze und Geschichten
unbeachtet an ihm vorbeirauschten. Also berichtete Ben von ihrer
Jagd nach dem Ketzer, dem Kampf gegen den Orden und ihrem Schwur,
einen Drachen zu befreien. Auch von dem Streit mit Nica und Yanko
sprach er, doch er versuchte, die beiden nicht schlecht aussehen zu
lassen, betonte, dass auch sie sich um das Wohl der Drachen
sorgten. Als die Sonne unterging, entfachte Ben ein Feuer. Nun war
es zu spät und zu dunkel, um sich auf die Suche nach dem Turm zu
machen.
Stundenlang blieb Aiphyron verschwunden. Als Ben
schließlich tief in der Nacht die Hände in seine Hosentaschen
steckte und dort auf den Schlüssel aus der Ruine stieß, setzte er
an, auch von diesem unwichtigen Detail ihrer Abenteuer zu erzählen,
doch er kam nicht weit. Mit einem selbstzufriedenen Grinsen landete
Aiphyron direkt neben ihnen.
»Endlich«, rief Ben. »Wo warst du so lange? Was
hast du mit ihr gemacht?«
»Ich habe ihr Pfeilkatapult in kleine Stücke
zerrissen und ins Meer geworfen. Auch die Pfeilspitzen aus
Blausilber. Dann habe ich den Turm dem Erdboden gleichgemacht und
ihre Möbel mit meinem Feuer in Brand gesetzt, damit auch ja
nirgendwo ein versteckter Konstruktionsplan heil blieb.«
»Und mit ihr? Was hast du mit ihr gemacht?«
»Na, verbannt. Was denn sonst? Ich dachte, das hat
sich einmal
bewährt, das wäre das Beste. Also habe ich ihr eine schöne
fruchtbare Insel weit draußen auf dem Meer ausgesucht, auf der sie
genug Wasser und Früchte findet, jedoch keine Steine, um einen Turm
zu errichten. Und kein Blausilber.«
»Hat sie sich gewehrt?«
»Ein wenig. Aber vor allem hat sie mir versichert,
sie würde mich nicht heiraten, unter keinen Umständen.«
Die Frau scheint mehr verwirrt als
verbittert zu sein, dachte Ben, auch wenn sie noch klar
genug im Kopf war, um einen fliegenden Drachen mit einem Pfeil zu
treffen. Er war froh, dass sie dazu nun nicht mehr in der Lage war.
Froh, dass sie von ihrem Weg auf der Erfüllung des Schwurs
abgewichen waren. Froh, dass sie Kaedymia geheilt hatten.
»Magst du mir diesen interessanten Schlüssel mal
zeigen?«, fragte der gerade und lächelte Ben an.
»Welchen Schlüssel?«, entgegnete Ben, in Gedanken
noch immer bei der besessenen Gujferra.
»Dem, von dem du mir eben erzählt hast.«
Verwundert zog Ben den großen goldenen Schlüssel
aus der Tasche, der im Licht des Feuers schimmerte. Kurz wischte er
mit dem Ärmel über die roten Augen des Drachenkopfs, zu dem die
Räute geformt war. Dann drückte er ihn Kaedymia in die Klaue.
»Tatsächlich.« Der Drache lächelte versonnen. »Es
ist ewig her, seit ich zum letzten Mal einen gesehen habe.
Jahrhunderte. Ich dachte, sie wären längst alle verloren oder
zerstört.«
»Du kennst den Schlüssel?« Ehrfürchtig sah Ben den
Drachen an, der beinahe beiläufig über eine Zeitspanne von
Jahrhunderten sprach.
»Der alte Kerl weiß einfach alles«, brummte
Aiphyron mit gespieltem Missmut und schüttelte den Kopf. »Immer
eine
ewig alte Geschichte auf Lager, was? Aber ich hab doch gesagt,
dass ich das Ding irgendwoher kenne. Auch ich weiß so
manches.«
»Ja, hast du«, bestätigte Ben beiläufig.
»Wenn wir gerade über dich und Wissen reden«,
wandte sich Kaedymia lächelnd an Aiphyron. »Hast du eigentlich
inzwischen mehr über deine Herkunft erfahren? Das ist noch etwas,
das ich nicht weiß und das mich brennend interessiert.«
»Brennend. Sehr witzig«, knurrte Aiphyron, der im
Unterschied zu den meisten Drachen nicht wusste, worin er
herangewachsen war. Die erste Erinnerung, die er in sich trug, war
die an furchtbare, stechende Schmerzen, und als er die Augen
aufgeschlagen hatte, hatte er in einer mit grauer Asche überzogenen
Ebene gelegen. Weißer Staub hatte wie Nebel in der Luft gehangen.
Irgendein Feuer musste seinen Herkunftsort verbrannt haben, kurz
bevor er schlüpfen wollte.
Wie auch Kaedymia hatte er keine normale Geburt
gehabt, überlegte Ben, vielleicht war das der Grund, weshalb sich
die beiden so verbunden fühlten. Doch im Augenblick interessierte
ihn anderes viel mehr.
»Was ist jetzt mit dem Schlüssel?«, drängte
er.
»Er ist einer der neun Großen Schlüssel, die Rauna
geschmiedet hat.« Kaedymia strahlte ihn an, als müsse Ben jetzt vor
Begeisterung zu tanzen beginnen. Doch Ben hatte noch nie von einem
Rauna gehört, und dass der Schlüssel groß war, konnte er selbst
sehen. Das sagte er auch Kaedymia, und der lachte.
»Eine Rauna«, sagte er. »Eine. Rauna war
eine Frau. Und sie war eine Schlüsselmacherin, geboren mit einer
besonderen Gabe, so wie du eben ein Drachenflüsterer bist. Rauna
konnte schmieden wie keine zweite Frau und wie kein
Mann zu ihrer Zeit. Schon als Kind fertigte sie beim Schmied ihres
Dorfs Schlösser an, die von niemandem zu knacken waren. Doch als
sie sich als junge Frau ihrer Gabe vollends bewusst wurde, schuf
sie Schlüssel, die mehr konnten, als ein bestimmtes Schloss zu
öffnen oder zu verschließen. Sie schmiedete kleine silberne
Schlüssel, die für das Herz eines bestimmten Menschen geformt
wurden und besser wirkten als jeder Liebestrank. Aus rotem Lehm
formte und brannte sie einen Schlüssel für die Schleusen des
Himmels, als eine anhaltende Trockenzeit ihre Heimat mit einem Jahr
des Hungers bedrohte. Mit einem Messer aus Blausilber schnitzte sie
aus dem Herz einer Goldesche einen bartlosen Schlüssel, der jedes
Schloss öffnete, dessen Schlüssel verloren gegangen war.
Über die nächsten drei Jahrzehnte stellte sie diese
und andere Schlüssel her. Schließlich verschwand sie spurlos, als
sie den zur Unterwelt für den Fürsten von Aphrasehr gießen sollte,
der drei Kinder bei einer schrecklichen Sturmflut verloren hatte
und sie zurückhaben wollte. Damals sagten viele, sie hätte wohl
auch diese Aufgabe bewältigt, wenn es ihr nur gelungen wäre, das
Tor zu finden. Doch sie vermuteten, dass sie nie so weit gekommen,
sondern dass ihr auf der Suche danach etwas zugestoßen war. Wer
wusste schon, wo das Tor lag und wie es bewacht wurde? Andere waren
überzeugt, sie habe es trotz allem geschafft, doch wer einmal das
Tor zur Unterwelt durchschritten habe, kehre nicht zurück, auch
nicht die fähigste Schlüsselmacherin aller Zeiten. Seither lebe sie
einsam unter den Toten, als Einzige, die nie wirklich gestorben
war.
Was auch immer der Grund für ihr Verschwinden war,
zuvor hatte sie noch die neun Großen Schlüssel gefertigt; Schlüssel
aus reinstem Gold, die im Feuer eines vulkangeborenen
Drachen geschmiedet worden waren. Diese Großen Schlüssel öffneten
weder Tür noch Tor, sondern taten das Gegenteil: Sie verriegelten
ein ganzes Gebäude. Vergrub man sie unter der Schwelle des
Eingangs, konnte kein Unbefugter eintreten; ein Schutzzauber legte
sich nicht nur über diesen Eingang, sondern über alle Türen und
Fenster.
Auf diese Art wurde auch die berühmte Burg
Drachensturz gesichert. Jahrelang wurde sie von sieben feindlichen
Heeren belagert, jedoch nicht eingenommen. Eine wilde Horde Trolle
versuchte sie zu stürmen – vergeblich. Mit welcher Übermacht die
Burg auch angegriffen wurde, nie wurde sie eingenommen, bis selbst
die Burgherren, viele Generationen nachdem der Schlüssel vergraben
worden war, vergessen hatten, woher die Stärke ihrer Festung kam.
Sie erinnerten sich nicht mehr daran, ein besonderes Augenmerk auf
die unscheinbare Ausfalltür zu haben, unter welcher der Schlüssel
lag, und achteten nicht auf die Tiere, die sich dort herumtrieben.
Manch einer behauptete, es wäre ein allzu eifriger Maulwurf
gewesen, der den Schlüssel ausgrub, doch ich bin davon überzeugt,
dass ihn ein Hund auf der Suche nach einem Platz für seinen Knochen
aus der Erde gewühlt hat. Achtlos ließ er ihn liegen, und eine
große Königselster trug das glitzernde Ding schließlich davon. Als
Drachensturz Jahre später erneut angegriffen wurde, wurden die in
ihrer Selbstherrlichkeit viel zu nachlässigen Verteidiger, die sich
allein auf den Ruf ihrer Feste verließen, böse überrascht.
Insgesamt neun stolze Burgen und Wehrklöster hatte
Rauna mit ihren Großen Schlüsseln geschützt, doch sie alle verloren
sie im Lauf der Jahrhunderte auf die eine oder andere Weise. Durch
neugierige Tiere, spielende Kinder oder auch ein schlimmes,
reißendes Hochwasser, das die Erde unter einer
solchen Schwelle fortspülte. Nichts bewahrt einen für immer vor
den Launen des Zufalls. Die Schlüssel wurden gefunden und von
Wissenden genutzt und erneut unter einer Schwelle vergraben. Oder
auch von Unwissenden eingeschmolzen, die nur Augen für das Gold und
die Edelsteine hatten und daraus Schmuck fertigten. So nahm die
Zahl von Raunas Großen Schlüsseln über die Jahrhunderte beständig
ab. Bis eben wusste ich nicht, dass überhaupt noch einer
existiert.«
In Bens Kopf drehte sich alles. Ein Schlüssel,
dessen Zauber ein Gebäude uneinnehmbar machte. Wenn das wirklich
stimmte, könnten sie damit den Orden aussperren, egal, mit welcher
Übermacht dieser nach ihnen suchte. Sie benötigten nur ein Haus,
einen Turm oder eine alte verlassene Burg, die sie sich aneignen
konnten. Ein Gebäude, das er, Yanko und Nica auf den Drachen durch
die Luft verlassen und betreten konnten, denn dann wären sie selbst
unter Belagerung nicht eingesperrt.
Er schluckte. Ganz selbstverständlich hatte er
Yanko und Nica in diesen Traum mit eingebunden. Schnell drängte er
die Gedanken an die beiden wieder fort.
Konnte es einen solchen Schlüssel wirklich
geben?, fragte er sich und antworte: Konnte es einen
Jungen geben, der mit bloßen Händen abgeschlagene
Drachenjlügel nachwachsen ließ? Er grinste, doch dann
fiel ihm wieder ein, wo sie den Schlüssel gefunden hatten, und
misstrauisch fragte er Kaedymia, weshalb sie dann den Turm dieser
Ruine hatten betreten können, wenn der Zauber des Schlüssels so
mächtig sei.
»Ich weiß es nicht, dafür kann es viele Gründe
geben«, antwortete der Drache. »Wenn die Tür nicht geschlossen war,
dann wirkt der Zauber nicht, er versiegelt nur verschlossene
Türen. Vielleicht lag es auch daran, dass die Ruine herrenlos war,
dass es dort niemanden gab, der geschützt werden musste, und der
Schlüssel erkannte euch als die neuen Besitzer an. Damit durftet
ihr natürlich eintreten. Mit Sicherheit kann ich es dir nicht
sagen, ich bin kein Schlüsselmacher, ich kannte nur den Drachen,
der das Feuer für die Schlüssel gab.«
»Du kanntest ihn? Ist er tot?«
»Seit vielen Jahren. Aus irgendeinem Grund war er,
der Vulkangeborene, besessen von dem Gedanken ans Meer. Er wollte
seine Tiefen sehen, stürzte sich nach langem Zögern hinein und
tauchte nicht wieder auf. Ich weiß nicht, ob ihn ein Seeungeheuer
geholt hat oder ob sein Feuer im Wasser einfach erloschen ist.«
Kaedymia starrte zu Boden und fuhr fort, doch es klang wenig
überzeugt. »Vielleicht gefiel es ihm dort unten auch einfach so
sehr, dass er deshalb nie wieder auftauchte. Schließlich gibt es
einige Drachen, die im Wasser leben.«
Ben und Aiphyron sagten darauf nichts, sie sahen
Kaedymia auch nicht in die Augen. Gemeinsam saßen sie schweigend in
der Nacht, dann erhob sich Ben und legte Kaedymia noch einmal die
Hände auf die heilende Brustwunde. Dabei spürte er, wie sich der
flatternde Herzschlag des Drachen langsam beruhigte.