EIN ALTER ZAUBER
In den folgenden Tagen pflegten sie ihre Wunden und fragten Krawinyjan über seine Vergangenheit aus, wieder und wieder suchten sie nach einer Verbindung zu Norkham, doch vergeblich. So wenig ihnen der Gedanke gefiel, so wenig sie es verstanden, er war nicht der gesuchte Drache. Doch wo war er abgeblieben? Hatte etwa noch ein anderer Sieger eines Wettkampfs einen Drachen verliehen bekommen?
»Ich glaube, er war nie in Chybhia«, sagte Yanko schließlich, dessen Fuß wieder normale Temperatur angenommen hatte. »So oft wie die Ritter in Vierzinnen das gegenüber den einfachen Leuten betonten, daran war etwas faul. Und das haben sie nicht getan, um die Ketzer zu demütigen, sondern einzig, um Norkham auf eine falsche Fährte zu locken. Sie waren überzeugt, irgendwer würde es dem geflohenen Ketzer berichten, doch weil sie nicht wussten, wer es verraten würde, mussten sie es möglichst jeden wissen lassen. Deshalb war auch der Käfig in Chybhia verhangen. Niemand sollte den Drachen vorzeitig sehen und beschreiben können, und ganz besonders nicht Norkham, von dem sie hofften, er würde in Verkleidung auftauchen, um ihn zurückzugewinnen. Oder zu befreien versuchen.«
»Das alles war nur eine Falle? Und warum haben sie nicht den richtigen Drachen genommen?«, fragte Nica. »Dann hätten sie sich das Theater mit dem Käfig sparen können.«
»Vielleicht weil er schon irgendwohin unterwegs war, als sie den Plan fassten? Ich weiß es nicht.«
»Oder sie hatten Angst, dass der geraubte Drache vielleicht doch noch auf seinen alten Herrn hören würde«, vermutete Ben. »Das hätte zu ziemlich unangenehmen Schwierigkeiten führen können, hätte Norkham es tatsächlich in seine Nähe geschafft.«
»Aber wo befindet sich der richtige Drache jetzt?«
»Bei diesem Abt. Oder dem Fürsten von Vierzinnen.«
Lautlos verfluchte Ben den geleisteten Schwur. In diesem Moment wollte er nur noch nach Falcenzca aufbrechen, zu Anula. Einen Drachen hatten sie doch befreit, auch einen weiteren könnten sie unterwegs gern von seinen Unterdrückern erlösen. Er wollte ja Drachen befreien, ganz sicher, doch im Moment hatte er keine Kraft mehr, weiterzusuchen. Sich weiter hetzen zu lassen.
Sie hatten doch geschworen, den Drachen eines Ketzers zu befreien, um sich nicht mit dem Orden der Drachenritter anzulegen. Und jetzt? Jetzt war dieser idiotische Drache doch bei einem Abt oder Fürsten gelandet. Ben hatte einfach die Nase voll! Wieso hatte sich dieser verfluchte Norkham den Drachen klauen lassen? Tat man das etwa, wenn man den Beinamen der Hohe trug? Hätte er nicht besser der Hohle heißen sollen?
Warum nur hatten sie geschworen? Doch nicht, um dann gezwungen zu sein, in eine Burg oder ein Wehrkloster einzudringen – etwas, das ganze Heere oft genug vergeblich versuchten. Wie sollte das gelingen? Doch Jammern half nicht – ein Schwur war ein Schwur, daran war nichts zu rütteln. Jedenfalls war das ganz sicher der letzte Schwur, den er geleistet hatte.
»Ich bin überzeugt, der Abt hat ihn sich gekrallt«, sagte Yanko. »Wieso sollte denn der Orden einen Fürsten, der Ketzer in seinem Herrschaftsbereich nur halbherzig verfolgt, mit einem solchen Geschenk stärken? Nein, er wird selbst scharf darauf sein, den Drachen eines wichtigen Ketzers in seinem Stall zu haben, um ihn dann stolz jedem Gast zu präsentieren.«
»Meint ihr, es war auch dieser Abt, der die weißen Drachen auf uns gehetzt hat?«, fragte Nica leise.
Yanko zögerte einen Moment lang, dann sagte er: »Das kann gut sein.«
»Hat er noch mehr?« Nicas Stimme war nun kaum zu verstehen, doch das war egal. Jeder von ihnen hatte sich diese Frage selbst gestellt. Was würde sie erwarten, wenn sie dorthin kamen?
»Hm.« Ben sah hinüber zu der Stelle, wo das Eis aus Feuerschuppe getropft war. Noch immer wuchs dort kein Gras, die Erde war kahl und schwarz wie ein Acker im Winter. Auch hatte er in den letzten Tagen nie beobachtet, dass dort ein Vogel gelandet wäre. Ein junges neugieriges Baumreh war gestern im Morgengrauen davor zurückgeschreckt und hatte den Fleck nicht betreten.
»Dann versuchen wir es also als Nächstes bei dem Abt?«, dröhnte Juri.
Einer nach dem anderen nickte.
»Und ich?«, fragte Krawinyjan und hob die noch immer verkümmerten Flügel, die inzwischen wenigstens auf die Länge eines Männerarms herangewachsen waren.
»So tief im Wald bist du sicher, bis du wieder fliegen kannst.«
»Aber...«
»Sie wachsen auch ohne meine ständige Berührung«, versicherte ihm Ben zum sicherlich hundertsten Mal. »Wirklich. Ich muss nur dafür sorgen, dass sie einmal damit anfangen. Und wir dürfen einfach nicht noch mehr Zeit verlieren.«
Krawinyjan grummelte etwas davon, dass ihm das nicht gefalle und er sich selbst überhaupt nicht als verlorene Zeit betrachte.
Doch sie kümmerten sich nicht um seine Proteste, verabschiedeten sich noch am selben Abend und machten sich auf den Weg.
»Danke«, sagte Krawinyjan doch noch, und es klang auf richtig.
»Lass dich nicht mehr erwischen«, brummte Aiphyron.
»Trau keiner Jungfrau, so sehr sie auch um Hilfe schreit«, fügte Yanko lachend hinzu.
Dann verschluckte die Dunkelheit des Waldes Krawinyjan unter ihnen. Sie kannten den Namen des Abts und den des Flusses, an dem das Kloster lag. Dorthin würden sie sich hof fentlich leicht durchfragen können. Dabei hofften sie, dass in der nächsten Stadt einmal kein Steckbrief hängen würde. Dennoch beschlossen sie, sich möglichst nur in kleinen Dörfern zu zeigen.
 
Drei Tage später hatten sie ein Versteck unweit des Wehrklosters gefunden. Wieder war es ein Wald, der ihnen Schutz vor neugierigen Blicken bot. In den Dörfern, in denen sie nach dem Weg gefragt hatten, hatten sie auch mehrfach gehört, der heilige Orden würde nun endlich mit aller Macht gegen das Ketzerpack vorgehen.
»Im ganzen Reich«, hatte ein alter zahnloser Bauer gemurmelt. »Keine Schlupflöcher mehr bei weichherzigen Fürsten, die sich von dem Abschaum auf der Nase herumtanzen lassen. Was soll das überhaupt? Früher hat es das nicht gegeben. Nicht, als ich jung war.«
Und seine kantige Tochter hatte Ben und Yanko gefragt, ob sie auch von den räuberischen Ketzern im hohen Norden gehört hätten, die einen gigantischen wilden Drachen auf eine kleine Stadt gehetzt haben sollen. Nachdem das Untier die halbe Bevölkerung verschlungen und ganze Straßen in Schutt und Asche gelegt habe, hätten die drei die Herrschaft dort an sich gerissen. Drei blutjunge Ketzer seien das gewesen, einer solle gar der Sohn Samoths sein, aber das könne sie nicht so recht glauben. Auf jeden Fall müsse ihnen das Handwerk gelegt werden, selbst wenn das Bürgerkrieg bedeute.
»Haben wir gehört, ja«, hatte Yanko gesagt und sich ein überdrehtes Lachen und heftigen Protest gleichermaßen verbissen. Lautstark hatten sie daraufhin die übelsten aller üblen Ketzer beschimpft und auf den Bürgerkrieg angestoßen, auf einen baldigen Sieg, und dem Alten versprochen, sich ebenfalls freiwillig zu melden, in ihrem Alter sei das schließlich das Mindeste, was sie tun könnten.
»Mein Enkel ist auch gleich gegangen.« Wieder hatte der Alte den Becher gehoben.
Die Tochter hatte grimmig genickt und ihm zugeprostet. »Auf den Sieg.«
Ben und Yanko hatten sich nach dieser Runde hastig verabschiedet. Nicht, dass irgendwo im Dorf doch ein Steckbrief hing. Auch wenn sie bewusst jedes Dorf nur zu zweit betraten, um nicht schon durch ihre Anzahl aufzufallen, wurden sie doch unruhig. Diese Familie wirkte nicht so, als würde sie so genau zählen oder über die Aufforderung, die Gesuchten lebendig abzuliefern, groß nachdenken. Nicht bei Ketzern und Samothanbetern, da wurde vorsichtshalber erst zugeschlagen, dann gezählt und gefragt, sofern das Fragen noch möglich war. Sie waren gegangen und hatten beschlossen, dass dieser Bürgerkrieg sie nichts anginge.
Doch nun hatten sie das Wehrkloster gefunden und festgestellt, dass diese Jagd nach den Ketzern, der an verschiedenen Ecken des Großtirdischen Reichs schwelende Bürgerkrieg, sie sehr wohl betraf und ihre Aufgabe erschwerte. Denn kein Fremder wurde in dieser angespannten Lage eingelassen, ohne vorher genau untersucht worden zu sein. Es herrschte die Furcht vor einem Attentat auf den Abt.
Trutzig erhob sich das verschachtelte Kloster mit den strahlend weißen Mauern und den zwölf weithin sichtbaren Zinnoberzinnen auf einer kleinen Anhöhe in der Ebene. Schnurgerade führte eine sorgsam gepflegte Straße aus grauen Pflastersteinen auf das mächtige Tor zu; aus welcher Stadt sie kam, wusste Ben nicht.
Auf der Rückseite des Klosters schlängelte sich der Firnh entlang, ein gemächlicher Fluss von mittlerer Größe. Sein Ufer war dicht mit Bäumen und Büschen bewachsen, und nicht fern davon begann der Wald, in dessen Tiefen sich Ben und die anderen meist verbargen, viele Meilen entfernt. Nahe des Klosters war es zu gefährlich, dort trieben sich der Jäger des Ordens mit seinen Gehilfen und auch Bauern aus dem nahen Dorf herum, die Holz schlugen. Und sicherlich versteckten sich dann und wann auch Jungen dort, um in der Dämmerung zu wildern.
Das Dorf lag unweit des Klosters in der Ebene. Reiche Felder und Weiden voller fetter Tiere erstreckten sich ringsum, die Häuser waren groß und gut in Schuss. Zahlreiche Streifenhühner tummelten sich pickend in den Straßen, Kühe muhten zufrieden.
Ben lag mit Yanko im Ufergestrüpp und beobachtete, wie ein dralles schwarzhaariges Mädchen eine weiße Zicke zum Kloster hinauftrieb. Unter einem Arm trug sie einen großen Korb, die Zicke zerrte an ihrem Strick. Ihr Meckern war über das Rauschen des Flusses hinweg nicht zu hören. Von ihrem Versteck aus hatte Ben keinen Einblick auf das Tor, doch noch bevor das Mädchen auf dem Weg dahin von einem breiten Rundturm verdeckt wurde, hob sie die Hand und winkte fröhlich.
»Da«, raunte Yanko. »Die kennen sich alle. Einfach alle. Wie sollen wir uns da verkleiden und als Dörfler ausgeben?«
»Das geht auf keinen Fall«, bestätigte Ben. Den Gedanken, einfach in der Nacht mit den Drachen im Innenhof zu landen, hatten sie schon vor einer Weile verworfen. Zu groß war die Übermacht hinter diesen Mauern, zu zahlreich die flügellosen Drachen, die unter fremdem Befehl standen. Sobald sie bemerkt würden, hätten sie sie alle am Hals, dazu Dutzende Ritter, viele sicherlich mit Blausilberklingen bewaffnet, starken Klingen, die Drachenschuppen durchdringen und Flügel vom Körper trennen konnten. Und egal, wie sie es anstellten, sie würden bemerkt werden. Alle Türme waren Tag und Nacht besetzt, und ein geflügelter Drache von Aiphyrons Größe war viel zu auffällig. Ganz zu schweigen von dreien.
»Da! Das Gitter im Rundturm.« Yanko stieß ihm den Ellbogen in die Seite.
»Was?« Doch kaum hatte Ben die Frage ausgesprochen, sah er es selbst. Eine kleine diesige Wolke schwappte heraus und sank zu Boden. Das Gras dort schimmerte weiß in der Sonne, als wäre es mit Reif bedeckt. Er fluchte. Eisgeborene Drachen.
»Wie wollen wir unseren Burschen da nur herausholen? Das Kloster ist uneinnehmbar.«
»Ob uneinnehmbar oder nicht, spielt doch keine Rolle. Einnehmen wollen wir es nicht, wir wollen nur ungesehen hineinkommen. Und wieder hinaus.«
»Jetzt hör schon auf mit deiner Wortklauberei, du weißt, was ich gemeint habe«, knurrte Yanko. »So oder so sind es zu viele Wachen. Unbetretbar oder uneinnehmbar ist da doch egal.«
»Es ist nicht...« Ben stockte, dann musste er sich vor Auf regung zusammenreißen, um nicht laut loszujubeln. Mit einem Mal, einer kleinen Idee waren alle Zweifel und Grübeleien plötzlich in den Hintergrund gedrängt. Er wusste, wie sie hineingelangen würden. »Es ist eben nicht uneinnehmbar! Nur die Großen Schlüssel sorgen dafür, dass ein Gebäude mit einem Zauber derart geschützt ist. Und die sind fast alle verschollen, nur wir haben noch einen.«
»Ja und? Hast du deinen Verstand mit dem letzten Nieser jetzt vollständig rausgerotzt, oder was? Willst du das Kloster auch noch mit einem Zauber schützen? Das erleichtert uns die Sache nicht, sondern... Dir ist schon klar, dass wir es nicht verteidigen wollen, sondern dort eindringen?«
»Ja.« Ben grinste breit, sagte aber nichts. Er genoss es, Yanko zappeln zu lassen.
»Und deshalb hilfst du ihnen?«
»Nein. Ich helfe uns.«
»Und wie?«
»Denk doch mal nach.«
»Was soll ich nachdenken, wenn du es schon weißt? Spuck es aus!«
»Erinnerst du dich an die Sage von dem verfluchten Ritter, der keine Eiche mit bloßen Händen berühren konnte, weil sie auf der Stelle verdorrten und innerhalb von einer Stunde zu schwarzem Humus zerfielen? Der in den Turm des wahnsinnigen Trollkönigs eindrang, indem er das schwere Eichentor berührte?«
»Ja«, sagte Yanko zögernd. Die Ratlosigkeit war noch immer nicht aus seinem Gesicht gewichen.
»Das hat mit unserem Eindringen in das Kloster überhaupt rein gar nichts zu tun.« Übermütig kicherte Ben.
»Kindskopf!«
»Sauertopf!«
»Ich hoffe, deine Zunge wird von Warzen überwuchert und du erstickst daran, wenn du nicht sofort redest!«
»Denk nach.« Er musste ihn einfach noch zappeln lassen.
»Rede!« Yankos Augen blitzten.
»Schon gut, schon gut. Wie schützt man ein Gebäude mit dem Großen Schlüssel?«
»Lass die Fragerei. Rede!«
»Wie?«
Yanko knirschte mit den Zähnen und verdrehte die Augen, dann knurrte er: »Indem man ihn unter einer Schwelle vergräbt.«
»Und wann wird der Zauber gebrochen?«
»Wenn...«, hob Yanko schnaubend an, dann riss er die Augen auf, und der Kiefer klappte ihm nach unten. »Das ist es! Wir müssen den Schlüssel unter einer Schwelle vergraben und anschließend einfach wieder ausgraben, dann stehen uns alle Türen offen.«
Ben klopfte ihm grinsend auf die Schulter.
»Aber das ist doch kompletter Unsinn. Das kann so nicht funktionieren!««
»Genau deshalb klappt es. Lass es uns doch einfach versuchen.«
Noch immer grinsend und kopfschüttelnd schlichen sie ein Stück in den Wald hinein, während auf der anderen Flussseite das Mädchen ohne Korb und Ziege in ihr Dorf zurückkehrte.
 
Um Mitternacht waren sie zurück, diesmal in Begleitung von Nica. Leise schwammen sie weiter flussabwärts ans andere Ufer, dann schlichen sie sich im Schatten der Büsche an das Kloster heran. Abgesehen vom leisen Plätschern hinter ihnen, den vereinzelten Schreien jagender Raubvögel und dem Piepsen einer Fledermaus war es still. Nur wenn sie genau lauschten, konnten sie hin und wieder einen der Wächter hoch auf den Zinnen hören, Gemurmel, schwere Schritte oder ein Schwert oder Schild, das versehentlich über Stein schrabbte.
Auf der Suche nach einer unscheinbaren Seitentür oder einer Ausfallpforte ließen sie die Blicke über die Mauer wandern. Unter dem Haupttor konnten sie schließlich schlecht unbemerkt den Schlüssel vergraben. Doch die zwei Pforten, die sie entdeckten, waren zu nah an den Türmen. Hier würden die Wächter sie hören.
»Und jetzt?«, raunte Nica. »Soll ich sie ablenken?«
»Nein.« Vehement schüttelte Yanko den Kopf. »Wir brauchen Zeit zum Graben. So lange kannst du sie nicht in ein Gespräch verwickeln.«
»Aber...«
»Nein. Am Ende kommen sie dann noch genau durch die Tür heraus, an der wir buddeln, um dich näher kennenzulernen oder dich einzulassen.«
Nica schwieg.
Die Wächter hinter den Zinnen waren nur als dunkle Schemen gegen den Himmel zu erkennen, doch stets bemerkten sie einen in der Nähe der Türen. Ben bezweifelte, dass sie allzu aufmerksam in die Tiefe starrten. Unbemerkt hinüberzuhuschen, wäre wahrscheinlich kein Problem, aber graben? Das ging nicht.
»Warum haben sie keine ihrer Türen vergessen? Irgendeinen unbedeutenden Eingang in einem lange unbenutzten Seitenflügel.«
»Weil es keinen unbenutzten Seitenflügel gibt«, sagte Ben enttäuscht. »Lasst uns gehen und nachdenken. Wir kommen morgen wieder.«
Widerstrebend zogen sie sich zurück. Ohne einen größeren Umweg glitten sie gleich unterhalb des Klosters in den Fluss und ließen sich von der Strömung davontreiben. Nach einer Weile warf Nica noch einen letzten Blick zurück und verharrte, packte die anderen beiden an den Armen.
»Da.« Aufgeregt zeigte sie auf eine Handvoll besonders dichter Sträucher am Ufer, vielleicht fünfzig oder hundert Schritt vom Kloster entfernt. Zwischen zweien spiegelte sich der Mond im Wasser. Es wirkte, als würde hier ein höchstens zwei Schritt breiter Bach in den Fluss münden. Doch auf der Anhöhe war keine Spur davon zu erkennen. Handelte es sich etwa um einen unterirdischen Zufluss, der unter dem Kloster hindurchführte?
»Was ist das?«
»Kommt mit«, flüsterte Nica und zog sie hinüber. Tatsächlich führte dort ein schmaler Graben, <in dem das Wasser knöcheltief stand, zwischen zwei dichten Büschen hindurch. Vorsichtig schob Nica das Gesträuch auseinander. Dahinter öffnete sich eine gut mannshohe und ebenso breite Höhle, die sich horizontal in die Anhöhe erstreckte. Es war stockdunkel, nach zwei Schritten konnten sie nichts mehr erkennen. Keiner von ihnen hatte eine Fackel dabei.
»Was wollen wir hier? Trolle oder Bären jagen?«, zischte Yanko.
»Dafür ist die Höhle zu klein«, sagte Ben. »Und viel zu gerade, wie von Menschenhand angelegt.«
»Ich glaube, das ist ein geheimer Fluchtweg aus dem Kloster«, sagte Nica. »Als ich das Wasser zwischen den Sträuchern gesehen habe, ist mir eingefallen, wie Sidhy immer von solchen Fluchtwegen gesprochen hat.«
»Das passt.«
»Wie meinst du das?«
»Das passt zu dem Feigling Sidhy und zu diesem Abt, dass sie sich immer eine Fluchtmöglichkeit offen halten«, knurrte Ben.
»Dumm ist es aber nicht«, sagte Nica. »Wenn du dich lieber von einer Übermacht ausräuchern lässt...«
»Na dann los. Worauf warten wir noch?«, drängte Yanko, streckte die Arme aus und schlurfte tastend in die Dunkelheit. Ben konnte hören, wie seine Schritte durch das flache Wasser platschten, dann schien er den Fluss ganz zu verlassen.
»Warte«, flüsterte Nica und folgte ihm. Ben stapfte hinterher.
Und Nica hatte Recht. Nach einer Weile erreichten sie ein schmiedeeisernes Gitter, das fest in der Wand verankert war.
»Ist es nur eine Absperrung oder eine Tür?«, fragte Ben.
»Ein Schloss, ich fühle ein Schloss«, keuchte Yanko aufgeregt, als er es abtastete. »Und Scharniere. Es ist eine Tür!«
Begeistert warfen sie sich auf die Knie und wühlten mit Händen und Messern in der festgestampften Erde, die über dem Felsboden lag. Dann brachen sie kleinere Brocken aus dem Stein, die durch Risse schon halb gelöst waren. Mühsam drangen sie Stück für Stück tiefer. Sie wechselten sich ab, bis die Klingen stumpf und die Finger blutig waren. Dann betteten sie den Schlüssel ehrfurchtsvoll in das ausgehobene Loch.
Ben bildete sich ein, ein Kribbeln wie beim Heilen zu spüren, als er ein letztes Mal über das Gold strich, doch nur ganz schwach. Dann füllten sie das Loch mit Steinen und Erde wieder auf und traten den Boden fest.
»Und jetzt?«, fragte Yanko.
»Jetzt warten wir, bis der Zauber wirkt.« Vorsichtig berührte Ben das Gitter, ob er auch dort das Kribbeln spüren konnte, doch da war nichts. Aber es war schließlich auch nicht seine Gabe, warum sollte er da ihr Wirken fühlen können?
»Und wie lange dauert das?«
»Bestimmt bis morgen«, sagte Ben. »So ein Zauber ist zu mächtig, um sich sofort zu entfalten. Das klappt nicht einmal beim Fortzaubern von Warzen. Und Drachenflügel wachsen ja auch nicht in ein paar Augenblicken nach.«
Enttäuscht gaben die anderen ihm Recht. Es klang, als hätten sie gehofft, schon in wenigen Minuten ins Kloster eindringen zu können.
»Wir brauchen ohnehin noch einen genauen Plan«, sagte er. »Und wenn wir uns dort hineinwagen, sollten die Drachen nicht weit sein. Für alle Fälle.«
»Aber was, wenn in der Zwischenzeit einer den Schlüssel stiehlt?«, fragte Yanko.
»Unsinn.« Ben lachte. »Wer soll denn hierherkommen? Und wenn, dann bricht eben er den Zauber. Hauptsache, wir kommen morgen hinein.«
Spät in der Nacht und müde erreichten sie ihr Lager. Dort erwartete sie Juri mit einem breiten Grinsen. »Na, hat alles geklappt?«
»Wir hoffen es.« Ben erzählte von der geheimen Gittertür. »Gab es bei euch irgendetwas?«
»Na ja, wir dachten, wenn ihr euch durch das Kloster schleichen wollt, dann solltet ihr auch aussehen wie Ritter.« Er deutete auf einen kleinen Haufen mit drei Ritterkutten, wie sie sie oft genug über oder statt der Rüstung trugen.
»Woher...?«
»Wir sind ein bisschen herumgeflogen und haben das Nachtlager von einer Gruppe Ritter zwischen hier und Falcenzca entdeckt. Sie führten einen leeren Käfigwagen mit sich, als würde der Orden jetzt schon Luft einsperren und bewachen. Als gönnten sie nichts und niemandem seine Freiheit. Wie auch immer, sie haben die Mäntel als Zudecken benutzt, und wir haben sie ihnen im Schlaf entrissen. Das war ein fröhliches Erwachen für die Helden, sage ich dir. Fluchend, vor Erschrecken kreischend, grunzend und japsend, was für ein vergnügliches Durcheinander. Wir waren weg, bevor sie uns richtig gesehen haben.« Juris Grinsen wurde noch breiter, Feuerschuppe und Aiphyron glucksten. »Keine Angst, es war weit weg von hier. Niemand zieht eine Verbindung von da zu dem Kloster hier.«
»Großartig, danke. Das hat uns noch gefehlt. Ehrlich.« Glücklich hob Ben eine der Kutten auf, sie war riesig. Nica und er würden sie nach dem Aufstehen noch kürzen und enger nähen müssen, aber es wäre eine ausgezeichnete Tarnung, wenn sie morgen Nacht durchs Kloster schlichen. Sah sie jemand von ferne, würde er sie für Ritter oder Knappen halten. Jetzt war er überzeugt, dass alles klappen würde.