EIN ALTER ZAUBER
In den folgenden Tagen pflegten sie ihre
Wunden und fragten Krawinyjan über seine Vergangenheit aus, wieder
und wieder suchten sie nach einer Verbindung zu Norkham, doch
vergeblich. So wenig ihnen der Gedanke gefiel, so wenig sie es
verstanden, er war nicht der gesuchte Drache. Doch wo war er
abgeblieben? Hatte etwa noch ein anderer Sieger eines Wettkampfs
einen Drachen verliehen bekommen?
»Ich glaube, er war nie in Chybhia«, sagte Yanko
schließlich, dessen Fuß wieder normale Temperatur angenommen hatte.
»So oft wie die Ritter in Vierzinnen das gegenüber den einfachen
Leuten betonten, daran war etwas faul. Und das haben sie nicht
getan, um die Ketzer zu demütigen, sondern einzig, um Norkham auf
eine falsche Fährte zu locken. Sie waren überzeugt, irgendwer würde
es dem geflohenen Ketzer berichten, doch weil sie nicht wussten,
wer es verraten würde, mussten sie es möglichst jeden wissen
lassen. Deshalb war auch der Käfig in Chybhia verhangen. Niemand
sollte den Drachen vorzeitig sehen und beschreiben können, und ganz
besonders nicht Norkham, von dem sie hofften, er würde in
Verkleidung auftauchen, um ihn zurückzugewinnen. Oder zu befreien
versuchen.«
»Das alles war nur eine Falle? Und warum haben sie
nicht den richtigen Drachen genommen?«, fragte Nica. »Dann hätten
sie sich das Theater mit dem Käfig sparen können.«
»Vielleicht weil er schon irgendwohin unterwegs
war, als sie den Plan fassten? Ich weiß es nicht.«
»Oder sie hatten Angst, dass der geraubte Drache
vielleicht doch noch auf seinen alten Herrn hören würde«, vermutete
Ben. »Das hätte zu ziemlich unangenehmen Schwierigkeiten führen
können, hätte Norkham es tatsächlich in seine Nähe
geschafft.«
»Aber wo befindet sich der richtige Drache
jetzt?«
»Bei diesem Abt. Oder dem Fürsten von
Vierzinnen.«
Lautlos verfluchte Ben den geleisteten Schwur. In
diesem Moment wollte er nur noch nach Falcenzca aufbrechen, zu
Anula. Einen Drachen hatten sie doch befreit, auch einen weiteren
könnten sie unterwegs gern von seinen Unterdrückern erlösen. Er
wollte ja Drachen befreien, ganz sicher, doch im Moment hatte er
keine Kraft mehr, weiterzusuchen. Sich weiter hetzen zu
lassen.
Sie hatten doch geschworen, den Drachen eines
Ketzers zu befreien, um sich nicht mit dem Orden der Drachenritter
anzulegen. Und jetzt? Jetzt war dieser idiotische Drache doch bei
einem Abt oder Fürsten gelandet. Ben hatte einfach die Nase voll!
Wieso hatte sich dieser verfluchte Norkham den Drachen klauen
lassen? Tat man das etwa, wenn man den Beinamen der Hohe trug?
Hätte er nicht besser der Hohle heißen sollen?
Warum nur hatten sie geschworen? Doch nicht, um
dann gezwungen zu sein, in eine Burg oder ein Wehrkloster
einzudringen – etwas, das ganze Heere oft genug vergeblich
versuchten. Wie sollte das gelingen? Doch Jammern half nicht – ein
Schwur war ein Schwur, daran war nichts zu rütteln. Jedenfalls war
das ganz sicher der letzte Schwur, den er geleistet hatte.
»Ich bin überzeugt, der Abt hat ihn sich gekrallt«,
sagte Yanko. »Wieso sollte denn der Orden einen Fürsten, der
Ketzer in seinem Herrschaftsbereich nur halbherzig verfolgt, mit
einem solchen Geschenk stärken? Nein, er wird selbst scharf darauf
sein, den Drachen eines wichtigen Ketzers in seinem Stall zu haben,
um ihn dann stolz jedem Gast zu präsentieren.«
»Meint ihr, es war auch dieser Abt, der die weißen
Drachen auf uns gehetzt hat?«, fragte Nica leise.
Yanko zögerte einen Moment lang, dann sagte er:
»Das kann gut sein.«
»Hat er noch mehr?« Nicas Stimme war nun kaum zu
verstehen, doch das war egal. Jeder von ihnen hatte sich diese
Frage selbst gestellt. Was würde sie erwarten, wenn sie dorthin
kamen?
»Hm.« Ben sah hinüber zu der Stelle, wo das Eis aus
Feuerschuppe getropft war. Noch immer wuchs dort kein Gras, die
Erde war kahl und schwarz wie ein Acker im Winter. Auch hatte er in
den letzten Tagen nie beobachtet, dass dort ein Vogel gelandet
wäre. Ein junges neugieriges Baumreh war gestern im Morgengrauen
davor zurückgeschreckt und hatte den Fleck nicht betreten.
»Dann versuchen wir es also als Nächstes bei dem
Abt?«, dröhnte Juri.
Einer nach dem anderen nickte.
»Und ich?«, fragte Krawinyjan und hob die noch
immer verkümmerten Flügel, die inzwischen wenigstens auf die Länge
eines Männerarms herangewachsen waren.
»So tief im Wald bist du sicher, bis du wieder
fliegen kannst.«
»Aber...«
»Sie wachsen auch ohne meine ständige Berührung«,
versicherte ihm Ben zum sicherlich hundertsten Mal. »Wirklich.
Ich muss nur dafür sorgen, dass sie einmal damit anfangen. Und wir
dürfen einfach nicht noch mehr Zeit verlieren.«
Krawinyjan grummelte etwas davon, dass ihm das
nicht gefalle und er sich selbst überhaupt nicht als verlorene Zeit
betrachte.
Doch sie kümmerten sich nicht um seine Proteste,
verabschiedeten sich noch am selben Abend und machten sich auf den
Weg.
»Danke«, sagte Krawinyjan doch noch, und es klang
auf richtig.
»Lass dich nicht mehr erwischen«, brummte
Aiphyron.
»Trau keiner Jungfrau, so sehr sie auch um Hilfe
schreit«, fügte Yanko lachend hinzu.
Dann verschluckte die Dunkelheit des Waldes
Krawinyjan unter ihnen. Sie kannten den Namen des Abts und den des
Flusses, an dem das Kloster lag. Dorthin würden sie sich hof
fentlich leicht durchfragen können. Dabei hofften sie, dass in der
nächsten Stadt einmal kein Steckbrief hängen würde. Dennoch
beschlossen sie, sich möglichst nur in kleinen Dörfern zu
zeigen.
Drei Tage später hatten sie ein Versteck unweit
des Wehrklosters gefunden. Wieder war es ein Wald, der ihnen Schutz
vor neugierigen Blicken bot. In den Dörfern, in denen sie nach dem
Weg gefragt hatten, hatten sie auch mehrfach gehört, der heilige
Orden würde nun endlich mit aller Macht gegen das Ketzerpack
vorgehen.
»Im ganzen Reich«, hatte ein alter zahnloser Bauer
gemurmelt. »Keine Schlupflöcher mehr bei weichherzigen Fürsten, die
sich von dem Abschaum auf der Nase herumtanzen lassen.
Was soll das überhaupt? Früher hat es das nicht gegeben. Nicht,
als ich jung war.«
Und seine kantige Tochter hatte Ben und Yanko
gefragt, ob sie auch von den räuberischen Ketzern im hohen Norden
gehört hätten, die einen gigantischen wilden Drachen auf eine
kleine Stadt gehetzt haben sollen. Nachdem das Untier die halbe
Bevölkerung verschlungen und ganze Straßen in Schutt und Asche
gelegt habe, hätten die drei die Herrschaft dort an sich gerissen.
Drei blutjunge Ketzer seien das gewesen, einer solle gar der Sohn
Samoths sein, aber das könne sie nicht so recht glauben. Auf jeden
Fall müsse ihnen das Handwerk gelegt werden, selbst wenn das
Bürgerkrieg bedeute.
»Haben wir gehört, ja«, hatte Yanko gesagt und sich
ein überdrehtes Lachen und heftigen Protest gleichermaßen
verbissen. Lautstark hatten sie daraufhin die übelsten aller üblen
Ketzer beschimpft und auf den Bürgerkrieg angestoßen, auf einen
baldigen Sieg, und dem Alten versprochen, sich ebenfalls freiwillig
zu melden, in ihrem Alter sei das schließlich das Mindeste, was sie
tun könnten.
»Mein Enkel ist auch gleich gegangen.« Wieder hatte
der Alte den Becher gehoben.
Die Tochter hatte grimmig genickt und ihm
zugeprostet. »Auf den Sieg.«
Ben und Yanko hatten sich nach dieser Runde hastig
verabschiedet. Nicht, dass irgendwo im Dorf doch ein Steckbrief
hing. Auch wenn sie bewusst jedes Dorf nur zu zweit betraten, um
nicht schon durch ihre Anzahl aufzufallen, wurden sie doch unruhig.
Diese Familie wirkte nicht so, als würde sie so genau zählen oder
über die Aufforderung, die Gesuchten lebendig abzuliefern, groß
nachdenken. Nicht bei Ketzern und Samothanbetern, da wurde
vorsichtshalber erst zugeschlagen,
dann gezählt und gefragt, sofern das Fragen noch möglich war. Sie
waren gegangen und hatten beschlossen, dass dieser Bürgerkrieg sie
nichts anginge.
Doch nun hatten sie das Wehrkloster gefunden und
festgestellt, dass diese Jagd nach den Ketzern, der an
verschiedenen Ecken des Großtirdischen Reichs schwelende
Bürgerkrieg, sie sehr wohl betraf und ihre Aufgabe erschwerte. Denn
kein Fremder wurde in dieser angespannten Lage eingelassen, ohne
vorher genau untersucht worden zu sein. Es herrschte die Furcht vor
einem Attentat auf den Abt.
Trutzig erhob sich das verschachtelte Kloster mit
den strahlend weißen Mauern und den zwölf weithin sichtbaren
Zinnoberzinnen auf einer kleinen Anhöhe in der Ebene. Schnurgerade
führte eine sorgsam gepflegte Straße aus grauen Pflastersteinen auf
das mächtige Tor zu; aus welcher Stadt sie kam, wusste Ben
nicht.
Auf der Rückseite des Klosters schlängelte sich der
Firnh entlang, ein gemächlicher Fluss von mittlerer Größe. Sein
Ufer war dicht mit Bäumen und Büschen bewachsen, und nicht fern
davon begann der Wald, in dessen Tiefen sich Ben und die anderen
meist verbargen, viele Meilen entfernt. Nahe des Klosters war es zu
gefährlich, dort trieben sich der Jäger des Ordens mit seinen
Gehilfen und auch Bauern aus dem nahen Dorf herum, die Holz
schlugen. Und sicherlich versteckten sich dann und wann auch Jungen
dort, um in der Dämmerung zu wildern.
Das Dorf lag unweit des Klosters in der Ebene.
Reiche Felder und Weiden voller fetter Tiere erstreckten sich
ringsum, die Häuser waren groß und gut in Schuss. Zahlreiche
Streifenhühner tummelten sich pickend in den Straßen, Kühe muhten
zufrieden.
Ben lag mit Yanko im Ufergestrüpp und beobachtete,
wie ein dralles schwarzhaariges Mädchen eine weiße Zicke zum
Kloster hinauftrieb. Unter einem Arm trug sie einen großen Korb,
die Zicke zerrte an ihrem Strick. Ihr Meckern war über das Rauschen
des Flusses hinweg nicht zu hören. Von ihrem Versteck aus hatte Ben
keinen Einblick auf das Tor, doch noch bevor das Mädchen auf dem
Weg dahin von einem breiten Rundturm verdeckt wurde, hob sie die
Hand und winkte fröhlich.
»Da«, raunte Yanko. »Die kennen sich alle. Einfach
alle. Wie sollen wir uns da verkleiden und als Dörfler
ausgeben?«
»Das geht auf keinen Fall«, bestätigte Ben. Den
Gedanken, einfach in der Nacht mit den Drachen im Innenhof zu
landen, hatten sie schon vor einer Weile verworfen. Zu groß war die
Übermacht hinter diesen Mauern, zu zahlreich die flügellosen
Drachen, die unter fremdem Befehl standen. Sobald sie bemerkt
würden, hätten sie sie alle am Hals, dazu Dutzende Ritter, viele
sicherlich mit Blausilberklingen bewaffnet, starken Klingen, die
Drachenschuppen durchdringen und Flügel vom Körper trennen konnten.
Und egal, wie sie es anstellten, sie würden bemerkt werden. Alle
Türme waren Tag und Nacht besetzt, und ein geflügelter Drache von
Aiphyrons Größe war viel zu auffällig. Ganz zu schweigen von
dreien.
»Da! Das Gitter im Rundturm.« Yanko stieß ihm den
Ellbogen in die Seite.
»Was?« Doch kaum hatte Ben die Frage ausgesprochen,
sah er es selbst. Eine kleine diesige Wolke schwappte heraus und
sank zu Boden. Das Gras dort schimmerte weiß in der Sonne, als wäre
es mit Reif bedeckt. Er fluchte. Eisgeborene Drachen.
»Wie wollen wir unseren Burschen da nur
herausholen? Das Kloster ist uneinnehmbar.«
»Ob uneinnehmbar oder nicht, spielt doch keine
Rolle. Einnehmen wollen wir es nicht, wir wollen nur ungesehen
hineinkommen. Und wieder hinaus.«
»Jetzt hör schon auf mit deiner Wortklauberei, du
weißt, was ich gemeint habe«, knurrte Yanko. »So oder so sind es zu
viele Wachen. Unbetretbar oder uneinnehmbar ist da doch
egal.«
»Es ist nicht...« Ben stockte, dann musste er sich
vor Auf regung zusammenreißen, um nicht laut loszujubeln. Mit einem
Mal, einer kleinen Idee waren alle Zweifel und Grübeleien plötzlich
in den Hintergrund gedrängt. Er wusste, wie sie hineingelangen
würden. »Es ist eben nicht uneinnehmbar! Nur die Großen Schlüssel
sorgen dafür, dass ein Gebäude mit einem Zauber derart geschützt
ist. Und die sind fast alle verschollen, nur wir haben noch
einen.«
»Ja und? Hast du deinen Verstand mit dem letzten
Nieser jetzt vollständig rausgerotzt, oder was? Willst du das
Kloster auch noch mit einem Zauber schützen? Das erleichtert uns
die Sache nicht, sondern... Dir ist schon klar, dass wir es nicht
verteidigen wollen, sondern dort eindringen?«
»Ja.« Ben grinste breit, sagte aber nichts. Er
genoss es, Yanko zappeln zu lassen.
»Und deshalb hilfst du ihnen?«
»Nein. Ich helfe uns.«
»Und wie?«
»Denk doch mal nach.«
»Was soll ich nachdenken, wenn du es schon weißt?
Spuck es aus!«
»Erinnerst du dich an die Sage von dem verfluchten
Ritter,
der keine Eiche mit bloßen Händen berühren konnte, weil sie auf
der Stelle verdorrten und innerhalb von einer Stunde zu schwarzem
Humus zerfielen? Der in den Turm des wahnsinnigen Trollkönigs
eindrang, indem er das schwere Eichentor berührte?«
»Ja«, sagte Yanko zögernd. Die Ratlosigkeit war
noch immer nicht aus seinem Gesicht gewichen.
»Das hat mit unserem Eindringen in das Kloster
überhaupt rein gar nichts zu tun.« Übermütig kicherte Ben.
»Kindskopf!«
»Sauertopf!«
»Ich hoffe, deine Zunge wird von Warzen überwuchert
und du erstickst daran, wenn du nicht sofort redest!«
»Denk nach.« Er musste ihn einfach noch zappeln
lassen.
»Rede!« Yankos Augen blitzten.
»Schon gut, schon gut. Wie schützt man ein Gebäude
mit dem Großen Schlüssel?«
»Lass die Fragerei. Rede!«
»Wie?«
Yanko knirschte mit den Zähnen und verdrehte die
Augen, dann knurrte er: »Indem man ihn unter einer Schwelle
vergräbt.«
»Und wann wird der Zauber gebrochen?«
»Wenn...«, hob Yanko schnaubend an, dann riss er
die Augen auf, und der Kiefer klappte ihm nach unten. »Das ist es!
Wir müssen den Schlüssel unter einer Schwelle vergraben und
anschließend einfach wieder ausgraben, dann stehen uns alle Türen
offen.«
Ben klopfte ihm grinsend auf die Schulter.
»Aber das ist doch kompletter Unsinn. Das kann so
nicht funktionieren!««
»Genau deshalb klappt es. Lass es uns doch einfach
versuchen.«
Noch immer grinsend und kopfschüttelnd schlichen
sie ein Stück in den Wald hinein, während auf der anderen
Flussseite das Mädchen ohne Korb und Ziege in ihr Dorf
zurückkehrte.
Um Mitternacht waren sie zurück, diesmal in
Begleitung von Nica. Leise schwammen sie weiter flussabwärts ans
andere Ufer, dann schlichen sie sich im Schatten der Büsche an das
Kloster heran. Abgesehen vom leisen Plätschern hinter ihnen, den
vereinzelten Schreien jagender Raubvögel und dem Piepsen einer
Fledermaus war es still. Nur wenn sie genau lauschten, konnten sie
hin und wieder einen der Wächter hoch auf den Zinnen hören,
Gemurmel, schwere Schritte oder ein Schwert oder Schild, das
versehentlich über Stein schrabbte.
Auf der Suche nach einer unscheinbaren Seitentür
oder einer Ausfallpforte ließen sie die Blicke über die Mauer
wandern. Unter dem Haupttor konnten sie schließlich schlecht
unbemerkt den Schlüssel vergraben. Doch die zwei Pforten, die sie
entdeckten, waren zu nah an den Türmen. Hier würden die Wächter sie
hören.
»Und jetzt?«, raunte Nica. »Soll ich sie
ablenken?«
»Nein.« Vehement schüttelte Yanko den Kopf. »Wir
brauchen Zeit zum Graben. So lange kannst du sie nicht in ein
Gespräch verwickeln.«
»Aber...«
»Nein. Am Ende kommen sie dann noch genau durch die
Tür heraus, an der wir buddeln, um dich näher kennenzulernen oder
dich einzulassen.«
Nica schwieg.
Die Wächter hinter den Zinnen waren nur als dunkle
Schemen gegen den Himmel zu erkennen, doch stets bemerkten sie
einen in der Nähe der Türen. Ben bezweifelte, dass sie allzu
aufmerksam in die Tiefe starrten. Unbemerkt hinüberzuhuschen, wäre
wahrscheinlich kein Problem, aber graben? Das ging nicht.
»Warum haben sie keine ihrer Türen vergessen?
Irgendeinen unbedeutenden Eingang in einem lange unbenutzten
Seitenflügel.«
»Weil es keinen unbenutzten Seitenflügel gibt«,
sagte Ben enttäuscht. »Lasst uns gehen und nachdenken. Wir kommen
morgen wieder.«
Widerstrebend zogen sie sich zurück. Ohne einen
größeren Umweg glitten sie gleich unterhalb des Klosters in den
Fluss und ließen sich von der Strömung davontreiben. Nach einer
Weile warf Nica noch einen letzten Blick zurück und verharrte,
packte die anderen beiden an den Armen.
»Da.« Aufgeregt zeigte sie auf eine Handvoll
besonders dichter Sträucher am Ufer, vielleicht fünfzig oder
hundert Schritt vom Kloster entfernt. Zwischen zweien spiegelte
sich der Mond im Wasser. Es wirkte, als würde hier ein höchstens
zwei Schritt breiter Bach in den Fluss münden. Doch auf der Anhöhe
war keine Spur davon zu erkennen. Handelte es sich etwa um einen
unterirdischen Zufluss, der unter dem Kloster hindurchführte?
»Was ist das?«
»Kommt mit«, flüsterte Nica und zog sie hinüber.
Tatsächlich führte dort ein schmaler Graben, <in dem das Wasser
knöcheltief stand, zwischen zwei dichten Büschen hindurch.
Vorsichtig schob Nica das Gesträuch auseinander. Dahinter öffnete
sich eine gut mannshohe und ebenso breite Höhle,
die sich horizontal in die Anhöhe erstreckte. Es war stockdunkel,
nach zwei Schritten konnten sie nichts mehr erkennen. Keiner von
ihnen hatte eine Fackel dabei.
»Was wollen wir hier? Trolle oder Bären jagen?«,
zischte Yanko.
»Dafür ist die Höhle zu klein«, sagte Ben. »Und
viel zu gerade, wie von Menschenhand angelegt.«
»Ich glaube, das ist ein geheimer Fluchtweg aus dem
Kloster«, sagte Nica. »Als ich das Wasser zwischen den Sträuchern
gesehen habe, ist mir eingefallen, wie Sidhy immer von solchen
Fluchtwegen gesprochen hat.«
»Das passt.«
»Wie meinst du das?«
»Das passt zu dem Feigling Sidhy und zu diesem Abt,
dass sie sich immer eine Fluchtmöglichkeit offen halten«, knurrte
Ben.
»Dumm ist es aber nicht«, sagte Nica. »Wenn du dich
lieber von einer Übermacht ausräuchern lässt...«
»Na dann los. Worauf warten wir noch?«, drängte
Yanko, streckte die Arme aus und schlurfte tastend in die
Dunkelheit. Ben konnte hören, wie seine Schritte durch das flache
Wasser platschten, dann schien er den Fluss ganz zu
verlassen.
»Warte«, flüsterte Nica und folgte ihm. Ben stapfte
hinterher.
Und Nica hatte Recht. Nach einer Weile erreichten
sie ein schmiedeeisernes Gitter, das fest in der Wand verankert
war.
»Ist es nur eine Absperrung oder eine Tür?«, fragte
Ben.
»Ein Schloss, ich fühle ein Schloss«, keuchte Yanko
aufgeregt, als er es abtastete. »Und Scharniere. Es ist eine
Tür!«
Begeistert warfen sie sich auf die Knie und wühlten
mit Händen und Messern in der festgestampften Erde, die über
dem Felsboden lag. Dann brachen sie kleinere Brocken aus dem
Stein, die durch Risse schon halb gelöst waren. Mühsam drangen sie
Stück für Stück tiefer. Sie wechselten sich ab, bis die Klingen
stumpf und die Finger blutig waren. Dann betteten sie den Schlüssel
ehrfurchtsvoll in das ausgehobene Loch.
Ben bildete sich ein, ein Kribbeln wie beim Heilen
zu spüren, als er ein letztes Mal über das Gold strich, doch nur
ganz schwach. Dann füllten sie das Loch mit Steinen und Erde wieder
auf und traten den Boden fest.
»Und jetzt?«, fragte Yanko.
»Jetzt warten wir, bis der Zauber wirkt.«
Vorsichtig berührte Ben das Gitter, ob er auch dort das Kribbeln
spüren konnte, doch da war nichts. Aber es war schließlich auch
nicht seine Gabe, warum sollte er da ihr Wirken fühlen
können?
»Und wie lange dauert das?«
»Bestimmt bis morgen«, sagte Ben. »So ein Zauber
ist zu mächtig, um sich sofort zu entfalten. Das klappt nicht
einmal beim Fortzaubern von Warzen. Und Drachenflügel wachsen ja
auch nicht in ein paar Augenblicken nach.«
Enttäuscht gaben die anderen ihm Recht. Es klang,
als hätten sie gehofft, schon in wenigen Minuten ins Kloster
eindringen zu können.
»Wir brauchen ohnehin noch einen genauen Plan«,
sagte er. »Und wenn wir uns dort hineinwagen, sollten die Drachen
nicht weit sein. Für alle Fälle.«
»Aber was, wenn in der Zwischenzeit einer den
Schlüssel stiehlt?«, fragte Yanko.
»Unsinn.« Ben lachte. »Wer soll denn hierherkommen?
Und wenn, dann bricht eben er den Zauber. Hauptsache, wir kommen
morgen hinein.«
Spät in der Nacht und müde erreichten sie ihr
Lager. Dort erwartete sie Juri mit einem breiten Grinsen. »Na, hat
alles geklappt?«
»Wir hoffen es.« Ben erzählte von der geheimen
Gittertür. »Gab es bei euch irgendetwas?«
»Na ja, wir dachten, wenn ihr euch durch das
Kloster schleichen wollt, dann solltet ihr auch aussehen wie
Ritter.« Er deutete auf einen kleinen Haufen mit drei Ritterkutten,
wie sie sie oft genug über oder statt der Rüstung trugen.
»Woher...?«
»Wir sind ein bisschen herumgeflogen und haben das
Nachtlager von einer Gruppe Ritter zwischen hier und Falcenzca
entdeckt. Sie führten einen leeren Käfigwagen mit sich, als würde
der Orden jetzt schon Luft einsperren und bewachen. Als gönnten sie
nichts und niemandem seine Freiheit. Wie auch immer, sie haben die
Mäntel als Zudecken benutzt, und wir haben sie ihnen im Schlaf
entrissen. Das war ein fröhliches Erwachen für die Helden, sage ich
dir. Fluchend, vor Erschrecken kreischend, grunzend und japsend,
was für ein vergnügliches Durcheinander. Wir waren weg, bevor sie
uns richtig gesehen haben.« Juris Grinsen wurde noch breiter,
Feuerschuppe und Aiphyron glucksten. »Keine Angst, es war weit weg
von hier. Niemand zieht eine Verbindung von da zu dem Kloster
hier.«
»Großartig, danke. Das hat uns noch gefehlt.
Ehrlich.« Glücklich hob Ben eine der Kutten auf, sie war riesig.
Nica und er würden sie nach dem Aufstehen noch kürzen und enger
nähen müssen, aber es wäre eine ausgezeichnete Tarnung, wenn sie
morgen Nacht durchs Kloster schlichen. Sah sie jemand von ferne,
würde er sie für Ritter oder Knappen halten. Jetzt war er
überzeugt, dass alles klappen würde.