NÄCHTLICHE HEIMKEHR
Die Sonne war noch nicht lange untergegangen, da schwang sich Ben auf Aiphyrons Rücken. Er wollte einfach nur weg von hier. So sehr er sich an die Ruine gewöhnt hatte, so gute Tage sie hier auch gehabt hatten, sie lag zu nah an Falcenzca, zu nah an der geifernden Menschenmenge, die ihn gehetzt hatte, zu nah an dem Steckbrief, zu nah bei Anula. Dabei hatte er bis gestern noch gar nicht gewusst, dass er sich in die verstockte Rinnsteinschnepfe verliebt hatte, die diesem Steckbrief mehr glaubte als ihm! Sollte sie doch weiterhin einem stinkenden Händler dienen, wenn sie wollte! Sie würde nie erfahren, wie es war, zu fliegen. Selbst schuld! Er würde sie viel schneller vergessen können als sie ihn. Schon morgen würde er keinen Gedanken mehr an sie verschwenden!
Wie sein Ausflug in die Stadt verlaufen war, hatte er Yanko und Nica nicht erzählt. Das ging die beiden nichts an, sie hatten ja einander, und das Letzte, was Ben nun brauchte, war ihr Mitleid. Warum nur hatte er nie Glück bei den Mädchen?
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Yanko Nica auf den Rücken von Feuerschuppe half. Ihr Kleid rutschte unschicklich weit über die Knie hinauf, aber nicht einmal darüber konnte er grinsen. Er fühlte sich allein.
Die letzten Stunden hatte er mit baumelnden Beinen auf der höchsten Mauer verbracht, einen Ziegelbrocken nach dem anderen herausgebrochen und in den Wald geworfen und sich gefreut, wenn irgendwelche Vögel erschreckt aufstoben oder andere Tiere raschelnd durchs Unterholz flohen. Er hatte Steine geworfen oder ins Nichts gestarrt. Auf keinen Fall hatte er sehen wollen, wie Yanko Nica küsste oder auch nur ihre Hand hielt oder sie anlächelte. Diese Turtelei ging ihm auf den Geist.
Yanko war sein Freund, sein bester Freund, aber Ben hatte sich zuerst in Nica verliebt. Doch bevor er ihr das hatte gestehen können, hatte er aus Trollfurt fliehen müssen, fälschlich eines Mordes beschuldigt, und Yanko das Feld überlassen. Dann hatte er die dämliche Anula zurückgelassen, um Nica zu retten, und als er jetzt zu Ihrer Hochnäsigkeit zurückgekehrt war, war er schon wieder eines Mordes bezichtigt worden, den er nicht begangen hatte, oder gar mehrerer. Das konnte doch einfach nicht wahr sein! Jedes Mädchen, in das er sich verliebte, bekam kurz darauf zu hören, er sei ein Mörder! Wie sollte er es da für sich gewinnen?
Ben hatte Stück für Stück der Mauer herausgebrochen und darauf gewartet, dass die Sonne unterging und sie endlich loskonnten.
Wenn es im Gebüsch geraschelt hatte, hatte er erschreckt dorthin gestarrt, ob es auch wirklich ein Tier war und keine Verfolger aus der Stadt.
»Alles in Ordnung?«, fragte Aiphyron nun, als Ben es sich vor seinen Flügeln bequem machte.
»Ja«, brummte er. Was sollte er auch sonst sagen, ein Drache verstand nichts von der Liebe. Drachen wuchsen allein irgendwo in der Welt heran, wurden allein geboren und lebten allein, sie bildeten keine Paare wie Menschen oder auch viele Tiere. Für sie war es vollkommen normal, allein zu sein.
»Na, dann los!« Aiphyron breitete die Flügel aus und drückte sich mit den kräftigen Hinterbeinen vom Boden ab.
Ben wurde in die Höhe gerissen, er hörte die Flügel schlagen, wie ihr Wind in den Baumkronen raschelte, dann waren sie über dem Wald und stiegen immer weiter auf zu den Sternen. Plötzliches Glück durchströmte Ben, es war, als hätte er Ballast von seinem Herzen abgeworfen. Alles, was ihn gerade noch bedrückt hatte, war verschwunden, irgendwo dort unten auf der Erde zurückgeblieben, auch Anulas Zurückweisung und die Erinnerung an den Mob auf seinen Fersen.
Gegenwind blies ihm ins Gesicht, während sie mit kräftigen Flügelschlägen nach Norden flogen und noch immer an Höhe gewannen. Aiphyron kurvte ausgelassen nach rechts und links, tauchte kurz ab, nur um im Anschluss daran noch höher zu steigen. Ben wollte schreien vor Freude, doch niemand durfte sie hören. Schließlich wurden sie gejagt. Doch wer sollte ihnen hier oben schon folgen können? Also brüllte er gegen den Wind an und lachte in die Nacht.
»Das habe ich vermisst«, rief er.
»Na, dann halt dich fest«, erwiderte Aiphyron und blickte mit funkelnden Augen zu ihm zurück.
Sofort klammerte sich Ben an die rauen Schuppen, presste die Beine so fest wie möglich an den Drachen und schmiegte sich ganz flach an ihn. Jubelnd überschlug sich Aiphyron zweimal in der Luft, stürzte sich mit angelegten Flügeln in die Tiefe, während er sich um sich selbst drehte, und breitete sie wieder aus, wechselte für einige Augenblicke in einen friedlichen Gleitflug.
»Ja!«, rief Ben und schüttelte den Kopf, um den Druck auf den Ohren loszuwerden. Sein Magen drehte sich noch immer, ihm schwindelte, doch sein Kopf fühlte sich so leicht an wie lange nicht mehr. Tief atmete er durch und sah sich nach seinen Freunden um. Weit über sich erkannte er die Schemen von Feuerschuppe, der Nica trug, und Juri, auf dessen Rücken Yanko saß. Das Leben konnte wunderschön sein.
In diesem Moment schwappte plötzlich eine Welle kühler Luft über ihn hinweg, und Gänsehaut überlief ihn. Stechende Kälte kroch ihm unter die Haut, und auch Aiphyron schüttelte sich. Mit kräftigen Flügelschlägen gewann er rasch an Höhe. Im Wald unter ihnen knackte es, Wipfel wackelten im bleichen Mondlicht hin und her, eine Welle durchlief den Wald. Irgendetwas wirklich Großes schien sich dort seinen Weg zu bahnen, verborgen vom dichten Laub. Schnurgerade hielt es auf Falcenzca zu und bewegte sich schneller als ein Mensch. Über das Knacken und Rascheln hinweg vernahm Ben ein Schnüffeln wie von einem Jagdhund, nur viel lauter. Dann blieben die Geräusche zurück. Seine Hände waren eiskalt und steifgefroren, als hätte er sie eben tief in den Schnee gesteckt.
»Was war das?«, fragte er Aiphyron. Sein Kiefer zitterte.
»Ich habe keine Ahnung. Wären wir ganz im Norden, im ewigen Eis, dann ja, aber hier? Hier weiß ich es nicht.«
»Im ewigen Eis?«
»Ja. Weit im Norden, jenseits eures Wolkengebirges und der Trolllande und noch jenseits des Meers gibt es eine große Insel, die besteht nur aus Eis und gefrorenem Schnee. Wenn die Sonne hoch am Himmel steht, dann gibt es dort Gebirgszüge, die glitzern wie klare Kristalle.«
»Woher weißt du das?«
»Ich war einmal dort. Ist schon lange her.«
»Das klingt schön.«
»Das ist schön.«
»Fliegen wir auch mal hin?«, fragte Ben. Langsam kam wieder Leben in seine Finger, und der kalte Hauch und die Kreatur unter ihnen war über die Aussicht auf eine Welt wie aus Kristallen vergessen. Er hatte die schneebedeckten Gipfel der Berge geliebt, nun könnte er eine ganze Welt sehen, die so aussah oder noch viel schöner. Ihn packte die Sehnsucht, ferne Länder zu sehen, die Städte, von denen fahrende Händler in Trollfurt berichtet hatten, und die nur nach einer langen, beschwerlichen und gefährlichen Reise zu erreichen waren. Es sei denn, man flog auf einem Drachen. Mit einem Drachen konnte man überall hingelangen. Kein Händler hatte je von dieser Insel aus glitzernden Eiskristallen erzählt.
»Vielleicht«, brummte Aiphyron. »Eigentlich ist es mir zu kalt dort.«
»Ach, komm schon! Ich will das sehen. Nur einmal und ganz kurz. Dann frierst du auch nicht lange.«
»Jetzt erfüllt ihr erst einmal euren Schwur, dann sehen wir weiter.«
Grimmig nickte Ben. Selbstverständlich musste vor diesem Schwur erst einmal alles andere zurückstehen. Ein Schwur war schließlich ein Schwur.
 
In den folgenden Stunden sprach Ben viel mit Aiphyron, und sie alberten viel herum. Erst jetzt wurde ihm richtig bewusst, dass in den letzten Wochen überwiegend die Drachen zusammen in der Sonne gelegen hatten und geflogen waren und er die meiste Zeit mit Yanko und Nica verbracht hatte. Natürlich hatte er Juri geheilt, aber davon abgesehen waren Menschen und Drachen meist unter sich geblieben. Ohne dass sie es bewusst gewollt hatten, war es einfach so passiert. Hier ein Scherz von Mensch zu Drache, da eine Bemerkung von Drache zu Mensch, auch mal ein längeres Gespräch, doch meist hatte es diese Trennung gegeben. Lag es daran, dass sie doch sehr unterschiedlich waren, egal, wie gut sie sich verstanden? Ben wusste es nicht.
Doch es gab andere Dinge, über die er jetzt nachdenken musste. Er rief die beiden anderen Drachen herbei, so dass sie alle nah beieinander flogen, und erzählte von seinen Erlebnissen in Falcenzca. Nicht von Anulas Zurückweisung, von ihr sprach er überhaupt nicht, aber davon, dass er durch die Straßen gejagt worden war und dass auf sie alle ein beachtliches Kopfgeld ausgesetzt war. Das war etwas, das die anderen erfahren mussten, schließlich ging es auch um ihre Köpfe.
Yanko brüllte ein paar saftige Flüche in den Wind, und Nica sagte mit kalter Stimme: »Auch dafür wird der verdammte Ketzer zahlen.«
Die Drachen ließen sich nicht sonderlich beunruhigen, schließlich wurden sie wegen ihrer Flügel sowieso in Hellwahs Namen gejagt. Für sie änderte sich nichts.
»Das sind einfach widerliche, selbstgerechte, gedankenlose, hohlköpfige Besserwisser in polierten Metallhemden«, knurrte Juri. »Die glauben anscheinend alles, was man ihnen erzählt. Sagt ihnen einer, Drachenflügel sind verflucht, dann ziehen sie los und hacken sie einfach ab, ohne mit uns darüber zu sprechen, wo wir Drachen doch eigentlich am besten darüber Bescheid wissen müssten. So ein Schwachsinn! Ich beiß doch auch keinem Hasen die Hinterläufe ab, so dass er nur noch mühsam durchs Gras robben kann, und nenne ihn dann frei und meine Tat gnädig und gut. Oder rupfe einem Vogel die Federn aus und erwarte dann überschwänglichen Dank von ihm, weil ich ihn aus Neid an die Erde gefesselt habe und das Ganze Freiheit nenne, und...«
»Das würde ein aufrechter Ordensritter niemals tun«, warf Yanko kichernd ein. »Nacktheit ist ein Frevel.«
»Was ist ein Frevel?«, fragte Juri.
»Nacktheit.«
»Nein. Was bedeutet Frevel?«
»Ein Frevel? Das ist so etwas wie eine Sünde, nur nicht ganz so schlimm.«
»Sünde?«
»Ich erklär’s dir später«, mischte sich Aiphyron ein, dem Ben dies alles schon vor einer Weile mühsam erklärt hatte. Zumindest so weit ein Drache es verstehen konnte.
»Danke. Was ich aber sagen wollte: Diese Ritter glauben jeden Unsinn. Und jetzt eben auch, dass ihr drei tatsächlich sieben ausgewachsene, am besten noch bewaffnete Männer töten könntet. Ich meine, seht euch doch nur mal an. Ihr seid viel kleiner und dürrer und...«
»Ja, schon gut«, knurrte Yanko. »Wenigstens trauen sie uns etwas zu. Im Unterschied zu unserem schuppigen Freund mit dem seltsamen langen Namen.«
»Ja. Mord. Ganz toll«, brummte Ben. »Mord trauen sie uns zu. Immer ist es Mord.«
»Und bald müssen sie uns noch viel mehr zutrauen«, sagte Nica. Ihre Stimme wurde vom Gegenwind verweht, und doch war die Drohung darin deutlich zu vernehmen.
»Da wir uns dabei jedoch einen Ketzer vornehmen, haben sie wahrscheinlich nichts dagegen«, sagte Yanko. Es klang leichthin, als wäre es als Scherz oder Aufmunterung gemeint.
Nica schwieg.
»Habt ihr vorhin auch die Kälte gespürt?«, fragte Ben, um das Thema zu wechseln.
Die anderen verneinten, wahrscheinlich waren sie zu hoch geflogen. Selbst Juri verzichtete auf ausführliche Überlegungen, um was es sich gehandelt haben könnte. Inzwischen redete er nicht mehr ganz so viel wie direkt nach seiner Befreiung. Nur manchmal musste man ihn noch bremsen, wenn plötzlich ein Satz nach dem anderen aus ihm heraussprudelte, ohne auf ein erkennbares Ziel zuzuführen. Doch sie hatten sich ebenso daran gewöhnt wie an die Anfälle Aiphyrons, ab und zu ein rotes Tier zu packen und zu schütteln und als Feuerwesen zu beschimpfen.
Ben langte in die Hosentasche und rückte den Schlüssel zurecht, der sich verschoben hatte und gegen den Oberschenkel drückte. Vielleicht sollte er ihn irgendwo einschmelzen lassen und Gold und Edelsteine verkaufen. Dann wären sie jetzt reich. Oder er ließ daraus einen Ring schmieden. Mit einem goldenen, edelsteinbesetzten Ring hätte Anula ihn nicht zurückgewiesen. Wieso machte er es immer falsch?
Und wieso dachte er schon wieder an sie, trotz aller Vorsätze, sie zu vergessen?
»Ab morgen«, murmelte er. Ab morgen würde er sie aus seinem Kopf verbannen.
 
Mitten in der Nacht näherten sie sich Trollfurt. Sie sprachen nicht mehr, jeder hing seinen Gedanken nach. Ben verband nicht mehr viel mit der Stadt, doch Nica und Yanko hatten noch Eltern und Geschwister hier, Freunde oder ehemalige Freunde, die nach allem nichts mehr mit ihnen zu tun haben wollten. Im Dunkeln konnte Ben ihre Gesichter nicht erkennen, doch ihr Schweigen machte deutlich, dass ihnen die Heimkehr nicht leichtfiel.
Die Straßen lagen im Dunkeln unter ihnen, kaum ein Fenster war erleuchtet, und Ben erspähte nur zwei Laternen, die als Punkte zwischen den Häusern entlangwanderten. Das waren deutlich weniger als damals, als sich die Stadt von ihm belagert gefühlt hatte. Doch als er schließlich erkannte, dass zu jeder Laterne vier Nachwächter gehörten und nicht nur einer wie üblich, war ihm klar, dass sich die Lage noch nicht völlig beruhigt hatte.
Was war geschehen, seit sie von hier verschwunden waren? Fürchtete Trollfurt noch immer irgendwelche eingebildeten Überfälle von Ben und seinen zahlreichen Spießgesellen? Wochenlang waren sie nicht hier gewesen, sondern im Nirgendwo. Sie hatten nichts mitbekommen, wussten weder was hier vor sich ging, noch was sich irgendwo sonst im Großtirdischen Reich ereignet hatte. Doch irgendetwas musste vor sich gehen, wenn man die Nachtwächter hier, Gesprächsfetzen aus Falcenzca und die Predigt des Verrückten zusammenzählte.
Flüsternd dirigierte er Aiphyron zum Anwesen von Nicas Familie. Feuerschuppe kannte den Weg, und Juri folgte ihnen. Ohne mit den Flügeln zu schlagen, glitten die Drachen lautlos dahin. Langsam senkten sie sich über die Dächer und landeten schließlich im Garten der Yirkhenbargs, ganz hinten bei der Mauer, hinter der plätschernd der Dherrn vorüberfloss. Das Gras stand hoch, es war lange nicht gestutzt worden, und die Tür von Feuerschuppes ehemaligem Stall stand offen. Sie hörten ein Pferd prusten, sonst blieb es still. Beim Anflug hatten sie keinen Wächter am verschlossenen Tor gesehen, nur ein Fenster direkt am Hauseingang war schwach erleuchtet.
»Irgendwer im Haus ist immer wach«, warnte Nica. »Also leise.«
Dann ließen sich Ben, Nica und Yanko von den Drachen auf den Balkon heben, über den sie in Nicas ehemaliges Zimmer gelangten. Beim Absteigen strich Yanko mit der Hand kurz über Juris Flügel, wahrscheinlich dachte er, das bringe ebenso Glück wie das Berühren von Schulterknubbeln.
In Nicas Zimmer lag auch Wochen nach ihrem Verschwinden noch immer Kleidung von ihr herum, das Bett war gemacht, aber verlassen. Es schien, als hätte hier niemand etwas angerührt.
»Packst du mir bitte zwei Röcke und Hemden ein?«, bat Nica Yanko. »Unten in meinem Schrank liegen Satteltaschen und ein Rucksack.«
»Mach ich.«
»Und dann holst du Proviant aus der Küche. Da sparen wir uns drei Tage jagen. Und nach all den Früchten und Tieren aus dem Wald freue ich mich auf ein einfaches Brot mit frischem Käse.«
Wieder nickte Yanko.
»Ben kommt mit mir zu Mutter.«
»Aber warum kann nicht er das ganze Zeug...«, setzte Yanko an.
»Du weißt besser, was ich mag. Und du bist hier schon einmal eingestiegen, hast du erzählt.« Sie lächelte. »Danach gehen wir zusammen in Sidhys Zimmer und holen mir noch eine Hose. Das ist viel besser, um auf einem Drachen zu reiten. Wenn ihr etwas braucht, bedient euch.«
»Sidhy statte ich gern einen Besuch ab.« Yanko grinste und schlich zum Schrank hinüber. Auch Ben dachte an die Demütigungen, die ihnen Nicas Bruder vor nicht allzu langer Zeit zugefügt hatte, und hatte nichts dagegen, ihn zu überraschen.
Ben folgte Nica aus dem Zimmer in einen dunklen Flur, an dessen Wänden er Bilderrahmen erkennen konnte, doch er achtete nicht auf sie. Nica hatte den Arm ausgestreckt und berührte mit den Fingern die Mauer, als suche sie Halt. Vielleicht sah sie auch nur schlecht.
Im Erdgeschoss unten knarzte eine Diele, dann herrschte wieder Stille. Ben hatte keine Angst, erwischt zu werden, solange die drei Drachen hinter dem Haus auf sie warteten. Welcher Diener sollte gegen sie etwas ausrichten können? Ein Schrei, und sie würden mit starken Klauen die Wände einreißen und ihnen zu Hilfe eilen.
Der Flur knickte nach links ab, und Nica öffnete bedächtig die erste Tür auf der rechten Seite. Lautlos huschte Ben hinter ihr in das Zimmer, dann verschloss sie die Tür wieder.
»Verschränk die Arme und schau grimmig«, zischte ihm Nica zu, und er gehorchte. Dann hörte er ein schabendes Geräusch, und ein Zunderstäbchen flammte auf. In dem schwachen, flackernden Licht schälte sich ihre Umgebung aus der Dunkelheit.
Sie standen in einem penibel aufgeräumten Schlafzimmer, das ein Stück größer war als Nicas. Zwei Paar schwere rote Vorhänge hingen an der gegenüberliegenden Wand bis zum Boden herab, der aus einem verschnörkelten Holzmosaik bestand, und verdeckten vermutlich zwei Fenster. Die rechte Wand wurde fast vollständig von einem mächtigen Kleiderschrank ausgefüllt, der mit den unterschiedlichsten Farben bemalt war. Blumen und Ornamente umrahmten Bilder von einer fröhlichen Jagdgesellschaft und drei knienden Rittern, die einem kleinen schwarzen Vogel einen Schwur leisteten. Ben erinnerte sich nicht mehr, aus welcher Legende diese Szene stammte, doch er hatte sie sicher schon einmal gehört. Auf einem Thron hinter den Rittern saß eine blinde Frau, in deren blondem Haar drei dunkle Federn steckten.
An der linken Wand befand sich ein fein gearbeitetes Bett mit einem himmelblauen Baldachin, der mit einer breiten Bordüre verziert war. Auf einer Kommode daneben stand ein vierarmiger Leuchter, dessen Kerzen Nica eben mit dem Zunderstäbchen entzündete. Im Bett regte sich eine bleiche Frau mit unordentlichem Haar und eingefallenen Wangen. Verwirrt öffnete sie die Augen.
»Guten Abend, Mutter«, sagte Nica eisig. »Du bist schmal geworden.«
Und alt, dachte Ben, der sie als schöne Frau in Erinnerung hatte, die zwar selten, aber dann mit stets aufrechter Haltung durch Trollfurt gegangen oder kutschiert war, ein gnädiges Lächeln im Gesicht und immer Zeit übrig für ein freundliches Wort oder Nicken, wenn sie höflich gegrüßt wurde.
»Nica...«, hauchte die Frau und richtete sich ruckartig auf. Kurz schien es, als wollte sie lachen, dann verzog sie das Gesicht zu einer schwer lesbaren Grimasse aus Angst, Freude, Schuldbewusstsein und Überraschung. »Kind, wo hast du gesteckt?«
»Als ob dich das interessiert.« Nica hatte das Kinn vorgereckt. Sie zitterte, und es kostete sie sichtlich Anstrengung, nicht loszuschreien. Langsam zog sie die oberste Schublade der Kommode auf und holte eine lange Nadel hervor. Das Metall blitzte im flackernden Kerzenlicht. »Wenn es nach dir gegangen wäre, wäre ich tot.«
»Nein. Nein! Das war die Idee deines Vaters. Sie haben ein Opfer von ihm verlangt. Ich wollte es nicht, aber er hat gesagt, du musst es sein. Keine Fremde.« Sie rutschte an die Bettkante, wühlte sich aus den Laken, kam flehend auf ihre Tochter zu.
»Bleib liegen«, zischte Nica und hob die spitze Nadel, die sie mit der Faust umklammerte. Ihre Lippen bebten, doch der Arm war ruhig. »Bleib liegen, oder ich ramm sie dir ins Auge. So tief ich nur kann.«
Ben hielt die Arme verschränkt und hoffte, sie würde nicht zustoßen. Er wollte nicht zusehen, wie sie ihre eigene Mutter erstach, wusste aber nicht, ob er ihr in den Arm fallen sollte.
»Das würdest du nicht tun«, sagte die Mutter, verharrte aber in der Bewegung. Sie zitterte, ihre Augen flackerten unsicher.
»Du solltest es nicht ausprobieren.« Nica machte einen kleinen Schritt auf ihre Mutter zu. »Ich sagte, leg dich wieder hin!«
Wimmernd kroch sie tatsächlich zu ihrem Kissen zurück. Nun lag nackte Angst in ihrem Blick. »Ich hab dir doch gesagt, ich war es nicht.«
»Aber du hast zugelassen, dass Vater mich an den Pfahl bindet! Warum?«
»Er war mein Ehemann...«
»Und ich deine Tochter! Du hättest statt meiner sterben sollen!«
»Aber das ging doch nicht. Das ging nicht.« Sie schluchzte, und ihre Stimme erstarb beinahe. »Es musste doch eine Jungfrau sein.«
»Eine Jungfrau?« Nica lachte bitter auf. »Aber ich bin keine Jungfrau mehr!«
Nun sackte Frau Yirkhenbarg vollkommen in sich zusammen. Tränen rannen ihr über die Wange, und sie schluchzte verzweifelt: »Das ist gelogen. Das sagst du nur, um mir wehzutun.«
Stumm schüttelte Nica den Kopf.
Ben verspürte einen Stich, den er nicht hätte spüren dürfen, ihre fehlende Jungfräulichkeit ging ihn nichts an, sie war Yankos Mädchen. Doch der Satz hatte ihn nicht überrascht, er hatte in der Ruine doch genug eindeutige Geräusche gehört.
»Das ist nicht wahr. Nicht mit ihm, nicht mit einem wie ihm.« Nicas Mutter warf Ben einen hasserfüllten Blick zu.
»Das geht dich nichts an«, presste Nica hervor. »Du bist nicht mehr meine Mutter, eine Mutter opfert ihr Kind nicht! Als Waise geht es mir besser.«
»Aber schau dich doch an, wie du aussiehst. Wie du herumläufst, und das mitten in der Nacht.« Sie deutete auf Nicas weißes Kleid, das in den letzten Wochen im Wald zahlreiche Flecken abbekommen hatte und an mehreren Stellen eingerissen und nur notdürftig genäht war. »Komm einfach heim, und alles wird gut.«
»Gut?« Wieder schüttelte Nica entschlossen den Kopf. »Es gibt nur einen Weg, wie alles wieder gut wird: Du sagst mir, wer Vater hierhergeschickt hat. Wer wusste von dem Drachen in der Mine, wer hat ihm dieses Opfer befohlen?«
»Ach, Kind...«
»Wer?«, zischte Nica und hob erneut die Nadel. Ihr Arm bebte nun, doch auf ihrem Gesicht zeigte sich keine andere Regung als Zorn.
»Nica«, sagte Ben leise, doch niemand beachtete ihn.
»Ach, Kind, du versündigst dich.«
»Wer war es?«
»Du darfst dich nicht gegen Hellwahs Gebote stellen.«
»Wenn er mich tot sehen will, dann kann er mir gestohlen bleiben!«
»Kind...«
»Wer? In Samoths verfluchtem Namen, wer war es?« Die erhobene Nadel zitterte, Nica machte einen weiteren Schritt auf ihre Mutter zu. Sie stand nun direkt neben dem Bett.
Ben starrte Nicas Mutter an, die sich verzweifelt in die Decke krallte. Bei der Erwähnung von Samoths Namen war sie zusammengezuckt, ihr Nachthemd war unzüchtig verrutscht und gab ihre knochige Schulter frei, doch das kümmerte sie nicht. Sie schluchzte vor sich hin und schloss die Augen, als könne sie den Anblick ihrer Tochter nicht mehr ertragen. In ihren Zügen zeigten sich mehr Schuldgefühle und Scham als Angst. Leise sagte sie: »Ich weiß es nicht.«
»Wer?«, fragte Nica.
Eine kurze Weile sagte keiner ein Wort, dann schlug die Mutter seufzend die Augen auf und atmete tief durch. Sie schien aufgegeben zu haben, fast wirkten ihre Gesichtszüge jetzt friedlich. »Kurz vor deiner Abreise hat dein Vater einen Boten empfangen. Er zeigte mir einen Brief, der das Siegel des Hohen Norkham persönlich trug, und sagte, wir hätten eine große Aufgabe zu erfüllen. Er war sichtlich von heiligem Eifer erfüllt, das wahre Wort hatte ihn geküsst, und doch lag ein Schatten auf seinem Gesicht. Er sagte, wir müssten stark sein, dann würde alles gut werden. Ich dachte, er meinte damit, dass wir unseren Glauben verleugnen müssten oder irgendwelche Entbehrungen auf uns nehmen, aber nicht das. Ich wusste nicht, was dir drohte. Noch vor meinen Augen hat er den Brief verbrannt, er sollte keinem Häscher des Ordens in die Finger fallen. Ich wusste es nicht. Es tut mir leid.«
Nica sah auf ihre Mutter hinab, die nun stumm um Vergebung flehte. Sie weinte nicht mehr, wirkte einfach nur ruhig und leer. Kurz kam es Ben so vor, als wollte sich Nica auf die Bettkante setzen, als würde die Nadel ein Stück herabsinken, nicht drohend, sondern als würde Nica eine Waffe sinken lassen, weil der Streit vorbei war. Dann reckte sie wieder das Kinn vor. Ihre Stimme klang rau, aber fest. »Und wo finden wir den Hohen Norkham?«
»Aber, Kind, du...«
»Wo?«
»Vierzinnen.« Der Name war nicht mehr als ein Flüstern, Ben konnte es kaum verstehen.
»Vierzinnen? Das Vierzinnen?«
Die alte Frau im Bett nickte.
»Gut. Soll ich ihm etwas von dir ausrichten?«
»Ich... Sag ihm, dass er... Nein. Nichts.« Resigniert ließ sie den Kopf sinken.
»Dann lebe wohl, Frau Yirkhenbarg. Wir sehen uns nie mehr wieder.« Nica drehte sich mit erhobenem Haupt um und drückte Ben die Nadel in die Hand. Sie war feucht von Schweiß. »Pass auf, dass sie nicht nach Hilfe schreit, während ich mir noch eine Hose hole. Brauchst du auch etwas?«
Ben zuckte mit den Schultern. Er hatte zwei Hosen und ihm ging gerade anderes durch den Kopf. Fragend starrte er Nica an, doch keine Regung zeigte sich in ihrem Gesicht. »Ein Hemd?«
»Lässt sich machen. Wir holen dich gleich ab.«
»Warte. Noch eine Hose wäre nicht schlecht«, fügte er noch schnell hinzu, weil ihm eingefallen war, dass er die eine, die verräterisch geflickte, nicht in Städten tragen konnte, falls dort die Steckbriefe aushingen, und die andere eigentlich überhaupt nicht, denn sie war viel zu weit. Sidhy hatte schon eher seine Statur, mit einem Gürtel würde ihm seine Hose passen.
Als Nica gegangen war, legte er die Nadel auf die Kommode und drohte in Richtung Bett: »Ich habe ein Messer.«
Doch Nicas Mutter beachtete ihn nicht. Mit geschlossenen Augen kauerte sie im Bett, den Kopf gegen die Wand gelehnt, die Arme um die angezogenen Knie geschlungen, und murmelte vor sich hin. Ben konnte nicht erkennen, ob die schimmernde Feuchte auf ihren Wangen neue Tränen waren. Vielleicht flehte sie Hellwah um Gnade an. Ben wusste nicht, was Ketzer in einem solchen Fall taten. Vielleicht verwünschte sie sich auch oder bemitleidete sich selbst und ihr Schicksal – das hatte seine Mutter häufig getan, bevor sie zur Flasche gegriffen hatte.
Ben konnte sie nicht bemitleiden, er hatte das Bild der an den Opferpfahl gefesselten Nica nicht vergessen. Aber er wusste auch, dass er dieser gebrochenen Frau nicht mit einer Waffe zu Leibe rücken wollte oder sie sonst wie niederringen, also hoffte er, sie würde einfach weiter vor sich hin murmeln und nicht doch noch schreien. Misstrauisch beäugte er sie, doch sie murmelte stur weiter vor sich hin.
Als sich die Tür wieder öffnete, trat Nica nicht ein, sondern flüsterte nur: »Komm. Yanko ist schon bei den Drachen.«
Ihre Mutter blickte nicht auf und starrte weiter murmelnd ins Nichts, gefangen in ihrer Welt aus Schuldgefühlen und Albträumen.
Auf dem Gang, noch bevor sie bei Yanko ankamen, packte Ben Nica an der Schulter und zwang sie, ihn anzusehen. Er fragte: »Hättest du deine Mutter wirklich erstochen?«
Nica wandte den Blick ab.
»Ich weiß nicht«, sagte sie nach einer Weile. »Ich weiß es wirklich nicht.«