EIN NACHTLAGER UND KEIN PLAN
Als sich die Sonne endlich dem Horizont näherte, hielten die Ordensritter an und schirrten die Pferde ab. Bens Magen knurrte, sein Mund war vollkommen ausgetrocknet. Natürlich hatte er die zermanschten Früchte vom Käfigboden nicht angerührt, das hatte ihm sein Stolz verboten. Irgendwann mussten sie ihnen etwas anderes anbieten, Arthen hatte etwas von morgen gesagt.
»Oh, da sind ja noch einige Früchte übrig«, kommentierte Herr Arthen, als er mit einem Wasserschlauch in der Hand herbeitrat und einen Blick in den Käfig warf. »Offenbar seid ihr sehr genügsam, und es sind ausreichend Früchte bis übermorgen.«
»Ich esse nichts, mit dem nach mir geschmissen wurde«, sagte Ben.
»Oh? Auch noch wählerisch, der junge Herr.« Herr Arthen zog die Augenbrauen hoch.
»Ihr könnt uns nicht verhungern lassen.«
»Nicht?«
»Nein. Dann bekommt ihr kein Geld mehr für uns!«
»Dann gibst du also zu, dass man für euch Geld bekommt? Dass ihr die Gesuchten seid?«
»Ihr wollt uns als die drei verkleiden. Es spielt doch keine Rolle, wer wir sind!«
»Nicht? Ich würde es trotzdem gern wissen.« Herr Arthen nahm einen genüsslichen Schluck aus dem Wasserschlauch. Ein paar Tropfen liefen ihm aus dem Mundwinkel und fielen zu Boden. Mit gespieltem Bedauern sah er ihnen hinterher und verschüttete dabei lächelnd noch einen Schluck. »Und ich werde es erfahren.«
Unwillkürlich fuhr sich Ben über die rissigen Lippen, während das kostbare Wasser in der Erde versickerte. Noch einen weiteren Tag in der grellen Sonne, und sie würden aufplatzen. Er hatte kaum noch Speichel, um sie zu befeuchten.
»Übrigens«, fügte der Ritter beiläufig an, »so schnell verhungert man nicht. An eurer Stelle würde ich jedoch die Früchte essen, bevor die Sonne alle Feuchtigkeit aus ihnen gebrannt hat. Durst ist etwas furchtbar Quälendes, lange bevor er zum Tod führt.«
Dann wandte er sich ab und schlenderte die zehn Schritt zum Lagerfeuer hinüber, das der Knappe eben voller Eifer entfachte.
Als Herr Arthen gegangen war, schob sich Yanko ein kleines Stück irgendeiner Frucht in den Mund, spuckte es jedoch sofort wieder aus und verzog angewidert das Gesicht. Dann zog er Nicas Kopf behutsam auf seinen Schoß und begann, ihr zärtlich die Reste aus dem Haar zu pflücken und durch die Streben zu werfen.
Auch ihre Lippen waren rissig, trotzdem musste Ben daran denken, sie zu küssen. Daran, wie voll und sanft sie noch vor kurzem gewesen waren. Scham stieg in ihm auf, und er blickte rasch weg. Zugleich fühlte er sich furchtbar allein. Nica hatte ihn geküsst, doch jetzt lag ihr Kopf auf Yankos Oberschenkel. Yanko durfte ihr den Dreck aus dem Haar entfernten, nur er durfte sich um sie kümmern. Und er kümmerte sich nur um sie, nicht um Ben.
Natürlich wollte Ben von seinem Freund nicht so berührt werden, wie der Nica betatschte, doch er wollte auch zu ihnen gehören. Die beiden hatten einander, doch er hatte nur seine Erinnerung an einen verbotenen Kuss und die Gedanken an ein hochnäsiges Mädchen in Falcenzca, das ihn zurückgewiesen hatte.
Er war allein, Yanko und Nica waren zusammen.
Und das galt selbst hier und jetzt in diesem Käfig, der sie zu ihrer Hinrichtung bringen sollte.
Wie ertrug sie das nur, ohne wahnsinnig zu werden über den Kuss, mit dem sie ihn hintergangen hatte? Ben konnte Yanko deswegen manchmal nicht in die Augen sehen, aber sie küsste ihn weiterhin, als wäre nichts geschehen. Ließ sich von ihm in den Arm nehmen, ahnungslos, wie er war. Warum bemerkte Yanko nicht, wie sie ihn behandelte? So dumm, wie er sich anstellte, hatte er es nicht anders verdient, dass ein anderer sein Mädchen küsste, dachte Ben wütend.
Warum nur konnte er diesen Kuss nicht vergessen? Warum nicht Anula? Die meisten Jungen verliebten sich in ein einziges Mädchen, nur er brachte es fertig, sich zugleich in zwei zu verlieben, die beide nichts von ihm wollten. War es nicht genug, wegen einer unglücklich zu sein? Warum konnte er sich nicht entscheiden, welche von beiden für die stechende Einsamkeit in seiner Brust zuständig war? Voller Selbstmitleid überlegte er, ob ihn jemand verflucht haben könnte und warum er nicht einfach einem Mädchen begegnen konnte, das ihn wirklich mochte. Das ihn küssen wollte, auch wenn es keine Pilze gegessen hatte.
Doch wie es aussah, würde er überhaupt kein Mädchen mehr kennenlernen. Er würde hingerichtet werden und allein sterben. Hoch am Galgen, neben einem Freund, den er hintergangen hatte, und einem Mädchen, das ihn einmal geküsst hatte, als sie nicht klar im Kopf gewesen war. Von wegen Wahrheit, pah! Würden die Pilze wirklich die Wahrheit zeigen, läge ihr Kopf jetzt auf seinem Schoß und nicht auf Yankos.
Ben dachte an drei wartende Galgen, an die jubelnde, nach Tod lechzende Menschenmasse vor dem Schafott, und wurde von einer weiteren Welle der Angst überschwemmt. Er begann zu zittern und biss sich auf die Knöchel, um nicht zu weinen. Mochte er auch allein sein und bald sterben, noch hatte er seinen Stolz. Den würden ihm die verdammten Ritter nicht nehmen. Niemals.
Mit brennenden Augen und bebenden Lippen sah er hinüber zur Sonne, die rot am Horizont versank, und beschimpfte leise die Ritter. Erst stotternd, dann immer flüssiger. Mit jedem Wort stieß er auch ein wenig der nagenden Angst hinaus.
»Ihr elenden bauchkrampfigen Darmgeburten«, murmelte er.
»Rotzfresser«, half ihm plötzlich Yanko, der den Kopf gehoben hatte und ebenfalls in den Sonnenuntergang starrte. Seine Augen waren rot umrandet.
»Wimmermäuse«, knurrte Ben mit einem mühsamen Lächeln. Zu zweit zu fluchen, half gegen die Einsamkeit und Angst.
»Angstjammernde Furchtlurche.«
»Unterwürfige Bodenwinder.«
»Wurzelgnome.«
»Stinkende Missgeburten einer grün verschimmelten Trollmutter.«
»Sollen ihnen alle Finger und Zehen einzeln abfaulen. Ganz langsam, Glied für Glied.«
»Und die Augen in den Höhlen zu gammligen Rosinen verschrumpeln und durch die verstopften Nasenlöcher nach draußen rollen.«
»Drauftreten sollen sie dann, blind wie eine greise Erdschleiche.«
Und so ging es weiter und weiter, bis die Sonne schließlich vollständig versunken war und sich Dunkelheit über das Land senkte. Nur das flackernde Feuer sorgte noch für Licht.
Nica hatte kein einziges Wort zu den Beschimpfungen beigetragen. Jetzt richtete sie sich auf und sagte mit ruhiger Stimme: »Wir müssen irgendwie an den Schlüssel für den Käfig kommen.«
»Und wie?«, fragte Ben und blickte sie überrascht an. Er hatte gedacht, sie wäre auf Yankos Bein bereits eingeschlafen und hätte jegliche Kraft und Hoffnung verloren.
»Ich weiß es nicht. Aber dieser eine Ritter war doch ganz wild darauf, mir das Kleid anzuziehen. Irgendwie müssen wir ihn...«
»Nein«, stieß Yanko hervor. »Wir müssen ihn nicht noch auf dumme Gedanken bringen.«
»Wenn er genug getrunken hat, können wir ihn überwältigen«, warf Ben nach einem kurzen Moment der Stille ein. Egal, wie unausgereift und riskant dieser Plan sein mochte, es war wenigstens einer. Das Bild von ihrer Hinrichtung hatte sich in Bens Gedanken festgekrallt; sie mussten hier unter allen Umständen raus, bevor sie zu jenem Abt kamen. Und sie wussten nicht, ob sie schon morgen oder erst nächste Woche sein Kloster erreichen würden.
»Und wenn nicht, was dann?« Zornig starrte Yanko ihn an. »Du bist fein raus, dir passiert ja nichts.«
»Fein raus?«, zischte Ben und mühte sich, nicht laut zu werden. »Wir werden alle sterben, sobald wir bei diesem Abt sind. Das nennst du Krötenkopf fein raus? Wenn einer von denen da draußen wild darauf wäre, mir ein weißes Kleid oder meine Flickenhose anzuziehen, dann wäre ich auch liebend gern der Lockvogel. Nur will das dort keiner.«
»Wäre, wäre, wäre...«, äffte Yanko ihn nach. »Das kann jeder sagen, das ist nicht echt.«
»Ach ja? Soll ich dir mal eine echt gebrochene Nase zeigen?«
»Komm doch her. Schauen wir mal, wessen Nase als erste splittert!«
Ben wollte schon aufspringen, da knurrte Nica: »Jungs!«
Ben verharrte, auch Yanko ließ die erhobene Faust langsam sinken.
»Was soll der Unsinn?« Ohne eine Antwort abzuwarten, schaute sie Yanko an und legte ihre Hand beruhigend auf seinen Oberschenkel, doch Ben sah, dass ihre Finger zitterten. »Ben und ich haben Recht. Der erfolgversprechendste Köder bin momentan einfach ich. Am besten warten wir noch, bis sich die ersten Ritter schlafen legen. Wenn dir bis dahin ein anderer Ausweg einfällt, sag ihn mir. Mir macht dieser Plan doch selbst Angst. Aber irgendwas müssen wir tun, wir können uns nicht wie dummes, wehrloses Vieh zur Schlachtbank führen lassen.«
Yanko erwiderte ihr gequältes Lächeln und strich ihr sanft über die Wange. Dann drehte er sich zum Lagerfeuer, um das die lachenden Ordensleute zechten und mit viel Wein und Gesang ihren großen Fang feierten, und stierte entschlossen in die hell lodernden Flammen. »Na, dann lasst mich mal in Ruhe denken.«
 
Nachdem bestimmt zwei Stunden vergangen waren, verriet sein gequälter Gesichtsausdruck, dass ihm noch immer nichts eingefallen war. Besorgt beobachtete er, wie sich erst der kichernde Knappe, dann Herr Arthen und die sichtlich beschwipste Jungfrau hinlegten. Der schwankende Herr Friedwart legte noch ein paar dicke Äste auf das hell auflodernde Feuer, während er bruchstückhaft Lobpreisungen auf Hellwah und seine strahlende Helligkeit murmelte, und erleichterte sich dann kichernd am linken Vorderrad ihres Wagens, nicht ohne dabei auch die eigenen Stiefel zu treffen. Gähnend überließ er dem dritten Ritter die erste Wache.
»Ich brauche mehr Zeit«, murmelte Yanko verzweifelt. »Warum kannst du nicht die letzte Wache übernehmen?«
»Das klingt nicht so, als wäre dir etwas eingefallen«, raunte Nica tonlos. »Mir leider auch nicht. Ben?«
Stumm zuckte er mit den Schultern.
Der Ritter, dessen Namen sie nicht kannten und den er wegen des Kleids in Gedanken den weißen Ritter nannte, schlenderte zu ihnen herüber und griente. Wie Friedbart hatte er auffallend kleine Ohren, wobei dem rechten auch noch das Läppchen fehlte. Über die ganze Wange verlief vom Mundwinkel bis ins dichte, hellbraun gelockte Haar eine alte rote Narbe, die bezeugte, dass er einmal dem Tod nur knapp entkommen war. Sie war breit und hässlich ausgefranst und ließ eher eine wilde Klaue als eine scharfe Klinge hinter der Wunde vermuten. Das linke Augenlid des Ritters zuckte stets nervös, während er sprach. »Das hättet ihr nicht gedacht, dass wir euch erwischen, was?«
Keiner antwortete. Zornig starrte Yanko ihn an, und Nica versuchte sich an einem Lächeln, das ihr jedoch völlig misslang. Zu deutlich stand ihr die Abneigung ins Gesicht geschrieben.
»Keine schlechte Idee, bei den Ketzern unterschlüpfen zu wollen, aber wir sind auch nicht dämlich.« Der Ritter sprach langsam, fast lallend, und lachte. »Der kleine dreckige Drache mag mich im Gesicht erwischt haben, aber der Kopf funktioniert noch immer prächtig. Darum hab auch ich das Kleid gefunden. Ich und kein anderer. Das freut dich doch, Mädchen, oder?«
Zögerlich nickte Nica. Ihre Mundwinkel zuckten, aber es war nicht zu erkennen, ob sie gleich lächeln oder weinen würde. Ihre Augen waren so kalt und hart, dass weder das eine noch das andere wahrscheinlich schien.
»Gesprächig seid ihr nicht gerade, oder?«
Wieder sagte keiner ein Wort. Ben hoffte, Yanko würde sich weiterhin im Zaum halten können und schielte zu Nica. Es lag an ihr, den Ritter um den Finger zu wickeln, doch noch schienen ihr die passenden Worte zu fehlen. Sie hatte den Mund leicht geöffnet, brachte aber keinen Ton heraus.
»Halt’s Maul, ich will endlich schlafen«, brummte da Herr Arthen und drehte sich auf die andere Seite.
»Schon gut.« Der weiße Ritter senkte die Stimme zu einem Flüstern und näherte sich dem Käfig so weit, dass sein Gesicht nur noch eine Handbreit entfernt war. Aus seinem Mund roch es säuerlich nach Wein. »Wir haben euch erwischt, bevor die weißen Drachen es getan haben. Wir waren schneller als die Hunde Hellwahs, die hinter euch her sind. Nicht viele Ritter können das von sich behaupten. Wir sind Helden.«
Endlich zeigte sich ein Lächeln auf Nicas Lippen.
Viel zu früh, dachte Ben. Herr Arthen war noch wach – den weißen Ritter jetzt zu überwältigen, würde ihnen gar nichts nützen. Sie mussten ihn noch eine Weile hinhalten.
»Ja, das freut dich, was?« Der Ritter zeigte ein breites Grinsen, das offenbarte, dass ihm zwei Schneidezähne fehlten und ein dritter nur noch ein brauner Stumpen war. »Alle Mädchen sind ganz wild auf Helden. Plötzlich sind all die Narben nicht mehr abstoßend, und auch ein hässlicher Mann wird angesehen.«
Ben fragte sich, ob er von diesem Unsinn tatsächlich überzeugt war, davon, dass Frauen jene als Helden verehrten, die sie in einen Käfig sperrten. Ob dieser Ritter wirklich nicht bemerkte, dass Nicas Lächeln nicht mit seinen Taten zusammenhing? Wie viel Aufrichtigkeit und Zuneigung erwartete er von einer Gefangenen?
Natürlich konnte man Menschen einschüchtern, bis sie eine kriecherische falsche Freundlichkeit an den Tag legten. Aber über eine derartig erzwungene Bewunderung konnte sich doch nur ein erbärmlicher, würdeloser Wurm freuen, kein Mann, der die Bezeichnung Held verdient hatte.
Yanko ballte die Hände so fest zu Fäusten, dass er beinahe schrie und seine Zähne deutlich vernehmbar knirschten.
Nica senkte den Kopf, als wäre sie scheu und verlegen, und Ben bemühte sich um einen ängstlich bewundernden Gesichtsausdruck, auch wenn er nur Abscheu vor diesem Ritter empfand. Und dann wurde ihm bewusst, was der eben gesagt hatte: Die Hunde Hellwahs waren hinter ihnen her. Und obwohl sie bereits in den Händen des Ordens waren, überrollte Ben eine weitere Welle der Furcht.
Von diesen weißen Drachen hatte Priester Habemaas in Trollfurt stets mit Ehrfurcht erzählt. Sie galten als niemals ermüdende Jäger, die das Herz des größten Kriegers mit einem einzigen Hauch zu Eis verwandeln konnten, so dass es bei der nächsten Erschütterung in tausend Teile zersplitterte. Sie mussten ihm nun nur noch einmal gegen die Brust tippen, und der Ritter fiel. Selbst ein kleiner Junge konnte diesen Krieger nun mit einer geschleuderten Kastanie niederstrecken. Diese Drachen hatten über die Jahrhunderte die schrecklichsten Feinde des Ordens aufgespürt, und Ben erinnerte sich noch an die brennende Bewunderung, die er im Alter von acht oder zehn Jahren und auch noch später für ihre Stärke und Macht empfunden hatte. Für ihren unfehlbaren Geruchssinn und ihre unermüdliche Ausdauer, denn niemals gaben sie eine einmal aufgenommene Fährte verloren.
Vor allem erinnerte er sich an eine Legende über einen blutsaufenden und kinderfressenden Ketzer, dessen Namen Ben längst vergessen hatte. Dieser hatte nach zahlreichen lasterhaften Taten das Großtirdische Reich verlassen, um andernorts sein Unwesen zu treiben. Er überquerte Grenzen, Flüsse und auch ein Meer. Nie wurde er sesshaft, denn er wusste, der Orden hatte ihm einen Verfolger hinterhergeschickt, den er nicht besiegen konnte. Allerdings prahlte er nach jeder weiteren Untat, man könne ihm sehr wohl entkommen, wäre man nur schnell und schlau genug. Und er sei schnell und schlau genug. So zogen die Jahre ins Land, und der Ketzer wurde älter und gebrechlicher, doch der weiße Drache folgte stur seiner Fährte, ohne zu ermüden. Schließlich fand er den Ketzer auf seinem Sterbebett in einem fernen Land, und all sein Hochmut war von ihm gewichen. Als der Ketzer den Drachen mit erlöschenden Augen sah, erbleichte er, denn er wusste nun, dass Hellwah wahrlich keine Schandtat ungesühnt ließ. Und mit einem kalten Hauch aus seinen Nüstern gefror der Drache ihn zu einer Skulptur aus niemals schmelzendem Eis. Selbst die Seele des Ketzers wurde vom Atem des Drachen gebannt und konnte sich nicht lösen. Wie feiner, glitzernder Dunst hing sie über dem zu Eis gewordenen Körper, der nur wenige Augenblicke vor seinem erlösenden Tod in ewig stechende Kälte gehüllt worden war. Denn selbst die heißesten Strahlen der Sonne erwärmten dieses Eis nicht, auch im Sommer verweigerte Hellwah ihm seine erlösende Wärme. Der schreckliche Ketzer war nun für alle Zeit zwischen Leben und Tod gefangen.
Ob er diese Geschichte wirklich glauben sollte, konnte Ben nicht sagen. Seit er wusste, wie viele Lügen in alten Legenden stecken konnten, zweifelte er an allem. Doch auf keinen Fall wollte er von einem dieser weißen Drachen erwischt werden. Er schluckte und wandte sich an den Ritter, um mehr über einen solchen möglichen Verfolger zu erfahren: »Ihr wart schneller als die Hunde Hellwahs? Das ist wirklich bewundernswert. Doch warum sollten sie hinter uns her sein?«
»Glaubst du Knilch mir etwa nicht?«
»Oh, nein, das habe ich nicht gesagt. Doch warum sollte der Orden uns diese nimmermüden Jäger auf den Hals hetzen, wenn sich anderswo viel gefährlichere Gestalten herumtreiben. Mordende Ketzer und ruchlose Räuber und diese wüsten Samothanbeter von dem Steckbrief?«
Verwirrt starrte der weiße Ritter Ben an und blinzelte. Dann knurrte er böse: »Aber ihr seid doch die auf dem Steckbrief.«
»Wenn wir das wirklich wären, warum würde Herr Arthen dann das arme Mädchen in ein falsches Kleid stecken?«, fragte Ben listig. Das Gespräch entwickelte sich anders als geplant, aber vielleicht konnte er hilfreiche Zweifel säen. »Müsste er uns dann wirklich verkleiden?«
Mit stechenden Augen starrte der weiße Ritter ihn an. Für einen kurzen Moment konnte Ben die erhofften Zweifel aufflackern sehen, dann legte sich wieder das fiese Grinsen auf die Lippen des Ritters. »Ich weiß nicht, ob er das muss. Aber das ist mir auch egal, ich tue es nun mal einfach gern. Und ob ihr nun die Falschen oder Richtigen seid, das werden die feinen Nasen der äbtlichen Drachen auf jeden Fall erkennen.«
Innerlich fluchte Ben. Daran hatte er natürlich nicht gedacht. Was wussten schon die Pilze von der Wahrheit, die ihm gezeigt hatten, er solle sich die Haare schneiden? Darauf wäre er auch allein gekommen. Hätten sie ihm mal lieber gezeigt, wie man seinen Geruch verändert, das wäre hilfreich gewesen.
In diesem Moment erklang ein langgezogenes, grunzendes Schnarchen; Herr Arthen war endlich eingeschlafen. Beinahe sofort fasste der weiße Ritter Nica ins Auge und zwinkerte ihr unbeholfen zu. »Ich glaube, ich hol mal das Kleid. Wir können ja schon einmal prüfen, ob es wirklich die richtige Größe hat, auch wenn du es letztlich erst zur Ankunft beim Abt angezogen bekommst.«
Irritiert sah Ben ihm nach. Sie hatten noch nicht einmal versucht, ihren Plan in die Tat umzusetzen, doch allem Anschein nach hatte dieser Widerling den ganzen Abend über genau denselben gehabt. Das war nicht gut. Beim Gepäck neben dem Feuer angekommen, beugte sich der Ritter nach vorn und kratzte sich dabei ausgiebig am Hintern.
Ein kurzer Luftzug streifte den Käfig. Er kam von oben, doch Ben dachte sich nichts dabei. Stumm starrte er weiter zum weißen Ritter hinüber, der sich langsam wieder aufrichtete, das Kleid in den Händen. Ein weiterer Windzug traf Ben, Yanko stieß ihm gegen die Schulter und zischte: »Schau hoch.«
Doch da hatte Ben das heranstürmende Rauschen bereits selbst erkannt. Drachenflügel!
Rasch hob er den Kopf und musste nicht lange suchen. Ein massiger Schatten stürzte aus dem Himmel herab, verdeckte mit jedem Augenblick mehr Sterne. Ben glaubte, in seinem Windschatten noch zwei weitere geflügelte Schemen wahrzunehmen. Mächtige Klauen prallten auf ihren Käfig und krallten sich ins Gitter.
»Festhalten«, knurrte Aiphyrons vertraute Stimme. Dann schlug der Drache kräftig mit den Flügeln. Er wischte den weißen Ritter von den Beinen, der von der aufgewühlten Luft weiter über den Boden gefegt wurde und sich fluchend dreimal überschlug.
»Was...?«, murmelte Herr Arthen verschlafen, bevor er aufgewirbelten Staub und Dreck schluckte und hustend ganz aus dem Schlaf gerissen wurde. Panisch packte er das Schwert neben seiner Liegestatt und krabbelte hinter den nächstbesten Busch.
Als sich ihr Gefängnis schwankend in die Luft erhob, lachten und jubelten Ben, Yanko und Nica. Ben klammerte sich an die Gitterstäbe, um nicht zu fallen, und sah, wie das Lagerfeuer, ein lodernder Punkt Helligkeit in der Nacht, langsam immer kleiner wurde. Er sandte stumme Beschimpfungen zu den Rittern hinunter, sein Herz pochte wild vor Freude. Frei, sie waren wieder frei! Yanko und Nica standen neben ihm und starrten ebenfalls hinab; Nica zitterte vor Erleichterung.
Mit ausgebreiteten Schwingen segelte Feuerschuppe unter ihnen hindurch und drehte ihnen den Kopf zu. »Na, alles in Ordnung?«
»Ja!«, brüllte Ben und rüttelte voll ausgelassener Freude an den Gitterstäben, so dass der Wagen noch stärker schwankte.
»Holst du mir den Ritter?«, rief Nica. »Bitte!«
»Welchen?«
»Egal. Am besten alle drei.« Sie schniefte. »Ich muss erst noch herausfinden, wer das größte Warzenschwein ist.«
»Ja, alle drei!«, bestärkte Yanko. »Wir brauchen sie wirklich.«
»Mit Vergnügen«, sagte Feuerschuppe und rief Juri zu, er solle ihm folgen.
Lachend wirbelten die beiden herum und eilten zu dem in der Ferne kaum noch erkennbaren Lagerfeuer zurück. Der Käfig schwankte.
»Wofür brauchen wir sie denn?«, fragte Ben. »Geht’s um Rache?«
Nica schwieg. Den Ausdruck ihrer Augen konnte er in der Dunkelheit nicht erkennen.
»Natürlich. Willst du die Kerle etwa nicht bestraft sehen?«, sagte Yanko und schlug ihm übermütig auf die Schulter. »Aber in erster Linie hoffe ich, dass sie mehr über den Hohen Norkham wissen, wohin er geflohen sein könnte und lauter solche Dinge. Schließlich müssen wir seine Fährte neu aufnehmen.«
»Und die seines Drachen«, betonte Ben halbherzig und ärgerte sich, dass er nicht selbst daran gedacht hatte, wie wichtig das Wissen der Ritter war.
»Und die seines Drachen«, bestätigte Yanko ebenso halbherzig.
Nach einer Weile setzte Aiphyron vorsichtig zur Landung an. Trotzdem prallte der Käfigwagen mit einem Ruck auf die Erde und rollte noch ein paar Schritt weiter, bis sich die Räder im hohen Gras verhedderten. Yanko, der voller Übermut die Gitterstäbe schon hoch in der Luft losgelassen hatte, fiel auf die Knie, doch er lachte, anstatt zu fluchen.
»Bitte aussteigen, die Herrschaften. Wünsche wohl geflogen zu sein.« Grinsend bog Aiphyron mit den kleinsten Krallen jeder Klaue zwei Gitterstäbe so weit auseinander, dass sie bequem hindurchschlüpfen konnten.
»Danke.« Ben klopfte dem Drachen freundschaftlich auf das Vorderbein, bis zur Schulter kam er nicht hinauf.
»Keine Ursache. Aber das bequemste Schwebehäuschen der Welt habt ihr euch hier nicht ausgesucht. Es stinkt nach verfaulten Früchten und...«
Nica drückte dem Drachen einen Kuss auf die Schnauze und brachte ihn so zum Schweigen. Ihre Stimme klang rau. »Danke.«
»Schon gut, wirklich«, wehrte er ab. In der Dunkelheit war nicht zu erkennen, ob auch Drachen erröten konnten. Vermutlich nicht.
Es dauerte nicht lang, bis Feuerschuppe und Juri angeflogen kamen. Jeder von ihnen trug einen vor Angst erstarrten Ritter in den Klauen. Ohne lange zu überlegen, steckten sie die beiden in den verlassenen Käfig und bogen die Stangen wieder gerade.
»Ich wünsche einen schönen Aufenthalt«, sagte Nica und tat so, als spucke sie auf den Boden. Speichel konnte sie in ihrem trockenen Mund nicht finden. »Wir haben euch ein wenig Essen übrig gelassen.« Herr Friedbart und der weiße Ritter waren bleich wie der Mond und starrten verdattert umher. Sie schienen Nica überhaupt nicht gehört zu haben. Wankend ließ sich Friedbart auf die Knie sinken und murmelte furchtsame Gebete zu Hellwah, während sein Kamerad die Hände gegen den Bauch drückte, das Gesicht verzog und sich dann mitten in den Käfig erbrach. Ihnen schien der Flug nicht sonderlich bekommen zu sein.
»Wo ist der dritte?«, fragte Yanko.
»Einen dritten Ritter haben wir nicht gesehen. Nur eine junge Frau und einen schmächtigen Jungen, die schreiend das Weite gesucht haben.«
»Der Dritte war ihr Anführer.«
»Aber er war nicht da.«
»Ich schau noch mal. Den Kerl finde ich.« Juri erhob sich und raste davon. Diesmal blieb er länger fort, doch als er schließlich zurückkehrte, waren seine Klauen leer, und die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Nicht die geringste Spur hatte er von Herrn Arthen gesehen, er musste es bis in den nahen Wald geschafft haben, wo es zahlreiche Verstecke gab, vor allem in der Dunkelheit. Es hatte keinen Sinn, dort nach ihm zu suchen.
Sie flogen zurück in die Klamm, um dort alle weiteren Schritte zu beraten.