EIN NACHTLAGER UND KEIN PLAN
Als sich die Sonne endlich dem Horizont
näherte, hielten die Ordensritter an und schirrten die Pferde ab.
Bens Magen knurrte, sein Mund war vollkommen ausgetrocknet.
Natürlich hatte er die zermanschten Früchte vom Käfigboden nicht
angerührt, das hatte ihm sein Stolz verboten. Irgendwann mussten
sie ihnen etwas anderes anbieten, Arthen hatte etwas von morgen
gesagt.
»Oh, da sind ja noch einige Früchte übrig«,
kommentierte Herr Arthen, als er mit einem Wasserschlauch in der
Hand herbeitrat und einen Blick in den Käfig warf. »Offenbar seid
ihr sehr genügsam, und es sind ausreichend Früchte bis
übermorgen.«
»Ich esse nichts, mit dem nach mir geschmissen
wurde«, sagte Ben.
»Oh? Auch noch wählerisch, der junge Herr.« Herr
Arthen zog die Augenbrauen hoch.
»Ihr könnt uns nicht verhungern lassen.«
»Nicht?«
»Nein. Dann bekommt ihr kein Geld mehr für
uns!«
»Dann gibst du also zu, dass man für euch Geld
bekommt? Dass ihr die Gesuchten seid?«
»Ihr wollt uns als die drei verkleiden. Es spielt
doch keine Rolle, wer wir sind!«
»Nicht? Ich würde es trotzdem gern wissen.« Herr
Arthen nahm einen genüsslichen Schluck aus dem Wasserschlauch. Ein
paar Tropfen liefen ihm aus dem Mundwinkel und fielen
zu Boden. Mit gespieltem Bedauern sah er ihnen hinterher und
verschüttete dabei lächelnd noch einen Schluck. »Und ich werde es
erfahren.«
Unwillkürlich fuhr sich Ben über die rissigen
Lippen, während das kostbare Wasser in der Erde versickerte. Noch
einen weiteren Tag in der grellen Sonne, und sie würden aufplatzen.
Er hatte kaum noch Speichel, um sie zu befeuchten.
»Übrigens«, fügte der Ritter beiläufig an, »so
schnell verhungert man nicht. An eurer Stelle würde ich jedoch die
Früchte essen, bevor die Sonne alle Feuchtigkeit aus ihnen gebrannt
hat. Durst ist etwas furchtbar Quälendes, lange bevor er zum Tod
führt.«
Dann wandte er sich ab und schlenderte die zehn
Schritt zum Lagerfeuer hinüber, das der Knappe eben voller Eifer
entfachte.
Als Herr Arthen gegangen war, schob sich Yanko ein
kleines Stück irgendeiner Frucht in den Mund, spuckte es jedoch
sofort wieder aus und verzog angewidert das Gesicht. Dann zog er
Nicas Kopf behutsam auf seinen Schoß und begann, ihr zärtlich die
Reste aus dem Haar zu pflücken und durch die Streben zu
werfen.
Auch ihre Lippen waren rissig, trotzdem musste Ben
daran denken, sie zu küssen. Daran, wie voll und sanft sie noch vor
kurzem gewesen waren. Scham stieg in ihm auf, und er blickte rasch
weg. Zugleich fühlte er sich furchtbar allein. Nica hatte ihn
geküsst, doch jetzt lag ihr Kopf auf Yankos Oberschenkel. Yanko
durfte ihr den Dreck aus dem Haar entfernten, nur er durfte sich um
sie kümmern. Und er kümmerte sich nur um sie, nicht um Ben.
Natürlich wollte Ben von seinem Freund nicht so
berührt werden, wie der Nica betatschte, doch er wollte auch zu
ihnen
gehören. Die beiden hatten einander, doch er hatte nur seine
Erinnerung an einen verbotenen Kuss und die Gedanken an ein
hochnäsiges Mädchen in Falcenzca, das ihn zurückgewiesen
hatte.
Er war allein, Yanko und Nica waren zusammen.
Und das galt selbst hier und jetzt in diesem Käfig,
der sie zu ihrer Hinrichtung bringen sollte.
Wie ertrug sie das nur, ohne wahnsinnig zu werden
über den Kuss, mit dem sie ihn hintergangen hatte? Ben konnte Yanko
deswegen manchmal nicht in die Augen sehen, aber sie küsste ihn
weiterhin, als wäre nichts geschehen. Ließ sich von ihm in den Arm
nehmen, ahnungslos, wie er war. Warum bemerkte Yanko nicht, wie sie
ihn behandelte? So dumm, wie er sich anstellte, hatte er es nicht
anders verdient, dass ein anderer sein Mädchen küsste, dachte Ben
wütend.
Warum nur konnte er diesen Kuss nicht vergessen?
Warum nicht Anula? Die meisten Jungen verliebten sich in ein
einziges Mädchen, nur er brachte es fertig, sich zugleich in zwei
zu verlieben, die beide nichts von ihm wollten. War es nicht genug,
wegen einer unglücklich zu sein? Warum konnte er sich nicht
entscheiden, welche von beiden für die stechende Einsamkeit in
seiner Brust zuständig war? Voller Selbstmitleid überlegte er, ob
ihn jemand verflucht haben könnte und warum er nicht einfach einem
Mädchen begegnen konnte, das ihn wirklich mochte. Das ihn küssen
wollte, auch wenn es keine Pilze gegessen hatte.
Doch wie es aussah, würde er überhaupt kein Mädchen
mehr kennenlernen. Er würde hingerichtet werden und allein sterben.
Hoch am Galgen, neben einem Freund, den er hintergangen hatte, und
einem Mädchen, das ihn einmal geküsst hatte, als sie nicht klar im
Kopf gewesen war. Von wegen
Wahrheit, pah! Würden die Pilze wirklich die Wahrheit zeigen, läge
ihr Kopf jetzt auf seinem Schoß und nicht auf Yankos.
Ben dachte an drei wartende Galgen, an die
jubelnde, nach Tod lechzende Menschenmasse vor dem Schafott, und
wurde von einer weiteren Welle der Angst überschwemmt. Er begann zu
zittern und biss sich auf die Knöchel, um nicht zu weinen. Mochte
er auch allein sein und bald sterben, noch hatte er seinen Stolz.
Den würden ihm die verdammten Ritter nicht nehmen. Niemals.
Mit brennenden Augen und bebenden Lippen sah er
hinüber zur Sonne, die rot am Horizont versank, und beschimpfte
leise die Ritter. Erst stotternd, dann immer flüssiger. Mit jedem
Wort stieß er auch ein wenig der nagenden Angst hinaus.
»Ihr elenden bauchkrampfigen Darmgeburten«,
murmelte er.
»Rotzfresser«, half ihm plötzlich Yanko, der den
Kopf gehoben hatte und ebenfalls in den Sonnenuntergang starrte.
Seine Augen waren rot umrandet.
»Wimmermäuse«, knurrte Ben mit einem mühsamen
Lächeln. Zu zweit zu fluchen, half gegen die Einsamkeit und
Angst.
»Angstjammernde Furchtlurche.«
»Unterwürfige Bodenwinder.«
»Wurzelgnome.«
»Stinkende Missgeburten einer grün verschimmelten
Trollmutter.«
»Sollen ihnen alle Finger und Zehen einzeln
abfaulen. Ganz langsam, Glied für Glied.«
»Und die Augen in den Höhlen zu gammligen Rosinen
verschrumpeln und durch die verstopften Nasenlöcher nach draußen
rollen.«
»Drauftreten sollen sie dann, blind wie eine greise
Erdschleiche.«
Und so ging es weiter und weiter, bis die Sonne
schließlich vollständig versunken war und sich Dunkelheit über das
Land senkte. Nur das flackernde Feuer sorgte noch für Licht.
Nica hatte kein einziges Wort zu den Beschimpfungen
beigetragen. Jetzt richtete sie sich auf und sagte mit ruhiger
Stimme: »Wir müssen irgendwie an den Schlüssel für den Käfig
kommen.«
»Und wie?«, fragte Ben und blickte sie überrascht
an. Er hatte gedacht, sie wäre auf Yankos Bein bereits
eingeschlafen und hätte jegliche Kraft und Hoffnung verloren.
»Ich weiß es nicht. Aber dieser eine Ritter war
doch ganz wild darauf, mir das Kleid anzuziehen. Irgendwie müssen
wir ihn...«
»Nein«, stieß Yanko hervor. »Wir müssen ihn nicht
noch auf dumme Gedanken bringen.«
»Wenn er genug getrunken hat, können wir ihn
überwältigen«, warf Ben nach einem kurzen Moment der Stille ein.
Egal, wie unausgereift und riskant dieser Plan sein mochte, es war
wenigstens einer. Das Bild von ihrer Hinrichtung hatte sich in Bens
Gedanken festgekrallt; sie mussten hier unter allen Umständen raus,
bevor sie zu jenem Abt kamen. Und sie wussten nicht, ob sie schon
morgen oder erst nächste Woche sein Kloster erreichen würden.
»Und wenn nicht, was dann?« Zornig starrte Yanko
ihn an. »Du bist fein raus, dir passiert ja nichts.«
»Fein raus?«, zischte Ben und mühte sich, nicht
laut zu werden. »Wir werden alle sterben, sobald wir bei diesem Abt
sind. Das nennst du Krötenkopf fein raus? Wenn einer von denen da
draußen wild darauf wäre, mir ein weißes Kleid oder meine
Flickenhose anzuziehen, dann wäre ich auch liebend gern der
Lockvogel. Nur will das dort keiner.«
»Wäre, wäre, wäre...«, äffte Yanko ihn nach. »Das
kann jeder sagen, das ist nicht echt.«
»Ach ja? Soll ich dir mal eine echt gebrochene Nase
zeigen?«
»Komm doch her. Schauen wir mal, wessen Nase als
erste splittert!«
Ben wollte schon aufspringen, da knurrte Nica:
»Jungs!«
Ben verharrte, auch Yanko ließ die erhobene Faust
langsam sinken.
»Was soll der Unsinn?« Ohne eine Antwort
abzuwarten, schaute sie Yanko an und legte ihre Hand beruhigend auf
seinen Oberschenkel, doch Ben sah, dass ihre Finger zitterten. »Ben
und ich haben Recht. Der erfolgversprechendste Köder bin momentan
einfach ich. Am besten warten wir noch, bis sich die ersten Ritter
schlafen legen. Wenn dir bis dahin ein anderer Ausweg einfällt, sag
ihn mir. Mir macht dieser Plan doch selbst Angst. Aber irgendwas
müssen wir tun, wir können uns nicht wie dummes, wehrloses Vieh zur
Schlachtbank führen lassen.«
Yanko erwiderte ihr gequältes Lächeln und strich
ihr sanft über die Wange. Dann drehte er sich zum Lagerfeuer, um
das die lachenden Ordensleute zechten und mit viel Wein und Gesang
ihren großen Fang feierten, und stierte entschlossen in die hell
lodernden Flammen. »Na, dann lasst mich mal in Ruhe denken.«
Nachdem bestimmt zwei Stunden vergangen waren,
verriet sein gequälter Gesichtsausdruck, dass ihm noch immer nichts
eingefallen war. Besorgt beobachtete er, wie sich erst der
kichernde Knappe, dann Herr Arthen und die sichtlich beschwipste
Jungfrau hinlegten. Der schwankende Herr Friedwart legte noch ein
paar dicke Äste auf das hell auflodernde Feuer, während er
bruchstückhaft Lobpreisungen auf Hellwah und seine strahlende
Helligkeit murmelte, und erleichterte sich dann kichernd am linken
Vorderrad ihres Wagens, nicht ohne dabei auch die eigenen Stiefel
zu treffen. Gähnend überließ er dem dritten Ritter die erste
Wache.
»Ich brauche mehr Zeit«, murmelte Yanko
verzweifelt. »Warum kannst du nicht die letzte Wache
übernehmen?«
»Das klingt nicht so, als wäre dir etwas
eingefallen«, raunte Nica tonlos. »Mir leider auch nicht.
Ben?«
Stumm zuckte er mit den Schultern.
Der Ritter, dessen Namen sie nicht kannten und den
er wegen des Kleids in Gedanken den weißen Ritter nannte,
schlenderte zu ihnen herüber und griente. Wie Friedbart hatte er
auffallend kleine Ohren, wobei dem rechten auch noch das Läppchen
fehlte. Über die ganze Wange verlief vom Mundwinkel bis ins dichte,
hellbraun gelockte Haar eine alte rote Narbe, die bezeugte, dass er
einmal dem Tod nur knapp entkommen war. Sie war breit und hässlich
ausgefranst und ließ eher eine wilde Klaue als eine scharfe Klinge
hinter der Wunde vermuten. Das linke Augenlid des Ritters zuckte
stets nervös, während er sprach. »Das hättet ihr nicht gedacht,
dass wir euch erwischen, was?«
Keiner antwortete. Zornig starrte Yanko ihn an, und
Nica versuchte sich an einem Lächeln, das ihr jedoch völlig
misslang. Zu deutlich stand ihr die Abneigung ins Gesicht
geschrieben.
»Keine schlechte Idee, bei den Ketzern
unterschlüpfen zu
wollen, aber wir sind auch nicht dämlich.« Der Ritter sprach
langsam, fast lallend, und lachte. »Der kleine dreckige Drache mag
mich im Gesicht erwischt haben, aber der Kopf funktioniert noch
immer prächtig. Darum hab auch ich das Kleid gefunden. Ich und kein
anderer. Das freut dich doch, Mädchen, oder?«
Zögerlich nickte Nica. Ihre Mundwinkel zuckten,
aber es war nicht zu erkennen, ob sie gleich lächeln oder weinen
würde. Ihre Augen waren so kalt und hart, dass weder das eine noch
das andere wahrscheinlich schien.
»Gesprächig seid ihr nicht gerade, oder?«
Wieder sagte keiner ein Wort. Ben hoffte, Yanko
würde sich weiterhin im Zaum halten können und schielte zu Nica. Es
lag an ihr, den Ritter um den Finger zu wickeln, doch noch schienen
ihr die passenden Worte zu fehlen. Sie hatte den Mund leicht
geöffnet, brachte aber keinen Ton heraus.
»Halt’s Maul, ich will endlich schlafen«, brummte
da Herr Arthen und drehte sich auf die andere Seite.
»Schon gut.« Der weiße Ritter senkte die Stimme zu
einem Flüstern und näherte sich dem Käfig so weit, dass sein
Gesicht nur noch eine Handbreit entfernt war. Aus seinem Mund roch
es säuerlich nach Wein. »Wir haben euch erwischt, bevor die weißen
Drachen es getan haben. Wir waren schneller als die Hunde Hellwahs,
die hinter euch her sind. Nicht viele Ritter können das von sich
behaupten. Wir sind Helden.«
Endlich zeigte sich ein Lächeln auf Nicas
Lippen.
Viel zu früh, dachte Ben. Herr Arthen war noch wach
– den weißen Ritter jetzt zu überwältigen, würde ihnen gar nichts
nützen. Sie mussten ihn noch eine Weile hinhalten.
»Ja, das freut dich, was?« Der Ritter zeigte ein
breites Grinsen, das offenbarte, dass ihm zwei Schneidezähne
fehlten und
ein dritter nur noch ein brauner Stumpen war. »Alle Mädchen sind
ganz wild auf Helden. Plötzlich sind all die Narben nicht mehr
abstoßend, und auch ein hässlicher Mann wird angesehen.«
Ben fragte sich, ob er von diesem Unsinn
tatsächlich überzeugt war, davon, dass Frauen jene als Helden
verehrten, die sie in einen Käfig sperrten. Ob dieser Ritter
wirklich nicht bemerkte, dass Nicas Lächeln nicht mit seinen Taten
zusammenhing? Wie viel Aufrichtigkeit und Zuneigung erwartete er
von einer Gefangenen?
Natürlich konnte man Menschen einschüchtern, bis
sie eine kriecherische falsche Freundlichkeit an den Tag legten.
Aber über eine derartig erzwungene Bewunderung konnte sich doch nur
ein erbärmlicher, würdeloser Wurm freuen, kein Mann, der die
Bezeichnung Held verdient hatte.
Yanko ballte die Hände so fest zu Fäusten, dass er
beinahe schrie und seine Zähne deutlich vernehmbar
knirschten.
Nica senkte den Kopf, als wäre sie scheu und
verlegen, und Ben bemühte sich um einen ängstlich bewundernden
Gesichtsausdruck, auch wenn er nur Abscheu vor diesem Ritter
empfand. Und dann wurde ihm bewusst, was der eben gesagt hatte: Die
Hunde Hellwahs waren hinter ihnen her. Und obwohl sie bereits in
den Händen des Ordens waren, überrollte Ben eine weitere Welle der
Furcht.
Von diesen weißen Drachen hatte Priester Habemaas
in Trollfurt stets mit Ehrfurcht erzählt. Sie galten als niemals
ermüdende Jäger, die das Herz des größten Kriegers mit einem
einzigen Hauch zu Eis verwandeln konnten, so dass es bei der
nächsten Erschütterung in tausend Teile zersplitterte. Sie mussten
ihm nun nur noch einmal gegen die Brust tippen, und der Ritter
fiel. Selbst ein kleiner Junge konnte diesen
Krieger nun mit einer geschleuderten Kastanie niederstrecken.
Diese Drachen hatten über die Jahrhunderte die schrecklichsten
Feinde des Ordens aufgespürt, und Ben erinnerte sich noch an die
brennende Bewunderung, die er im Alter von acht oder zehn Jahren
und auch noch später für ihre Stärke und Macht empfunden hatte. Für
ihren unfehlbaren Geruchssinn und ihre unermüdliche Ausdauer, denn
niemals gaben sie eine einmal aufgenommene Fährte verloren.
Vor allem erinnerte er sich an eine Legende über
einen blutsaufenden und kinderfressenden Ketzer, dessen Namen Ben
längst vergessen hatte. Dieser hatte nach zahlreichen lasterhaften
Taten das Großtirdische Reich verlassen, um andernorts sein Unwesen
zu treiben. Er überquerte Grenzen, Flüsse und auch ein Meer. Nie
wurde er sesshaft, denn er wusste, der Orden hatte ihm einen
Verfolger hinterhergeschickt, den er nicht besiegen konnte.
Allerdings prahlte er nach jeder weiteren Untat, man könne ihm sehr
wohl entkommen, wäre man nur schnell und schlau genug. Und er sei
schnell und schlau genug. So zogen die Jahre ins Land, und der
Ketzer wurde älter und gebrechlicher, doch der weiße Drache folgte
stur seiner Fährte, ohne zu ermüden. Schließlich fand er den Ketzer
auf seinem Sterbebett in einem fernen Land, und all sein Hochmut
war von ihm gewichen. Als der Ketzer den Drachen mit erlöschenden
Augen sah, erbleichte er, denn er wusste nun, dass Hellwah wahrlich
keine Schandtat ungesühnt ließ. Und mit einem kalten Hauch aus
seinen Nüstern gefror der Drache ihn zu einer Skulptur aus niemals
schmelzendem Eis. Selbst die Seele des Ketzers wurde vom Atem des
Drachen gebannt und konnte sich nicht lösen. Wie feiner,
glitzernder Dunst hing sie über dem zu Eis gewordenen Körper, der
nur wenige Augenblicke vor seinem erlösenden
Tod in ewig stechende Kälte gehüllt worden war. Denn selbst die
heißesten Strahlen der Sonne erwärmten dieses Eis nicht, auch im
Sommer verweigerte Hellwah ihm seine erlösende Wärme. Der
schreckliche Ketzer war nun für alle Zeit zwischen Leben und Tod
gefangen.
Ob er diese Geschichte wirklich glauben sollte,
konnte Ben nicht sagen. Seit er wusste, wie viele Lügen in alten
Legenden stecken konnten, zweifelte er an allem. Doch auf keinen
Fall wollte er von einem dieser weißen Drachen erwischt werden. Er
schluckte und wandte sich an den Ritter, um mehr über einen solchen
möglichen Verfolger zu erfahren: »Ihr wart schneller als die Hunde
Hellwahs? Das ist wirklich bewundernswert. Doch warum sollten sie
hinter uns her sein?«
»Glaubst du Knilch mir etwa nicht?«
»Oh, nein, das habe ich nicht gesagt. Doch warum
sollte der Orden uns diese nimmermüden Jäger auf den Hals hetzen,
wenn sich anderswo viel gefährlichere Gestalten herumtreiben.
Mordende Ketzer und ruchlose Räuber und diese wüsten Samothanbeter
von dem Steckbrief?«
Verwirrt starrte der weiße Ritter Ben an und
blinzelte. Dann knurrte er böse: »Aber ihr seid doch die auf dem
Steckbrief.«
»Wenn wir das wirklich wären, warum würde Herr
Arthen dann das arme Mädchen in ein falsches Kleid stecken?«,
fragte Ben listig. Das Gespräch entwickelte sich anders als
geplant, aber vielleicht konnte er hilfreiche Zweifel säen. »Müsste
er uns dann wirklich verkleiden?«
Mit stechenden Augen starrte der weiße Ritter ihn
an. Für einen kurzen Moment konnte Ben die erhofften Zweifel
aufflackern sehen, dann legte sich wieder das fiese Grinsen auf die
Lippen des Ritters. »Ich weiß nicht, ob er das muss.
Aber das ist mir auch egal, ich tue es nun mal einfach gern. Und
ob ihr nun die Falschen oder Richtigen seid, das werden die feinen
Nasen der äbtlichen Drachen auf jeden Fall erkennen.«
Innerlich fluchte Ben. Daran hatte er natürlich
nicht gedacht. Was wussten schon die Pilze von der Wahrheit, die
ihm gezeigt hatten, er solle sich die Haare schneiden? Darauf wäre
er auch allein gekommen. Hätten sie ihm mal lieber gezeigt, wie man
seinen Geruch verändert, das wäre hilfreich gewesen.
In diesem Moment erklang ein langgezogenes,
grunzendes Schnarchen; Herr Arthen war endlich eingeschlafen.
Beinahe sofort fasste der weiße Ritter Nica ins Auge und zwinkerte
ihr unbeholfen zu. »Ich glaube, ich hol mal das Kleid. Wir können
ja schon einmal prüfen, ob es wirklich die richtige Größe hat, auch
wenn du es letztlich erst zur Ankunft beim Abt angezogen
bekommst.«
Irritiert sah Ben ihm nach. Sie hatten noch nicht
einmal versucht, ihren Plan in die Tat umzusetzen, doch allem
Anschein nach hatte dieser Widerling den ganzen Abend über genau
denselben gehabt. Das war nicht gut. Beim Gepäck neben dem Feuer
angekommen, beugte sich der Ritter nach vorn und kratzte sich dabei
ausgiebig am Hintern.
Ein kurzer Luftzug streifte den Käfig. Er kam von
oben, doch Ben dachte sich nichts dabei. Stumm starrte er weiter
zum weißen Ritter hinüber, der sich langsam wieder aufrichtete, das
Kleid in den Händen. Ein weiterer Windzug traf Ben, Yanko stieß ihm
gegen die Schulter und zischte: »Schau hoch.«
Doch da hatte Ben das heranstürmende Rauschen
bereits selbst erkannt. Drachenflügel!
Rasch hob er den Kopf und musste nicht lange
suchen. Ein massiger Schatten stürzte aus dem Himmel herab,
verdeckte mit jedem Augenblick mehr Sterne. Ben glaubte, in seinem
Windschatten noch zwei weitere geflügelte Schemen wahrzunehmen.
Mächtige Klauen prallten auf ihren Käfig und krallten sich ins
Gitter.
»Festhalten«, knurrte Aiphyrons vertraute Stimme.
Dann schlug der Drache kräftig mit den Flügeln. Er wischte den
weißen Ritter von den Beinen, der von der aufgewühlten Luft weiter
über den Boden gefegt wurde und sich fluchend dreimal
überschlug.
»Was...?«, murmelte Herr Arthen verschlafen, bevor
er aufgewirbelten Staub und Dreck schluckte und hustend ganz aus
dem Schlaf gerissen wurde. Panisch packte er das Schwert neben
seiner Liegestatt und krabbelte hinter den nächstbesten
Busch.
Als sich ihr Gefängnis schwankend in die Luft
erhob, lachten und jubelten Ben, Yanko und Nica. Ben klammerte sich
an die Gitterstäbe, um nicht zu fallen, und sah, wie das
Lagerfeuer, ein lodernder Punkt Helligkeit in der Nacht, langsam
immer kleiner wurde. Er sandte stumme Beschimpfungen zu den Rittern
hinunter, sein Herz pochte wild vor Freude. Frei, sie waren wieder
frei! Yanko und Nica standen neben ihm und starrten ebenfalls
hinab; Nica zitterte vor Erleichterung.
Mit ausgebreiteten Schwingen segelte Feuerschuppe
unter ihnen hindurch und drehte ihnen den Kopf zu. »Na, alles in
Ordnung?«
»Ja!«, brüllte Ben und rüttelte voll ausgelassener
Freude an den Gitterstäben, so dass der Wagen noch stärker
schwankte.
»Holst du mir den Ritter?«, rief Nica.
»Bitte!«
»Welchen?«
»Egal. Am besten alle drei.« Sie schniefte. »Ich
muss erst noch herausfinden, wer das größte Warzenschwein
ist.«
»Ja, alle drei!«, bestärkte Yanko. »Wir brauchen
sie wirklich.«
»Mit Vergnügen«, sagte Feuerschuppe und rief Juri
zu, er solle ihm folgen.
Lachend wirbelten die beiden herum und eilten zu
dem in der Ferne kaum noch erkennbaren Lagerfeuer zurück. Der Käfig
schwankte.
»Wofür brauchen wir sie denn?«, fragte Ben. »Geht’s
um Rache?«
Nica schwieg. Den Ausdruck ihrer Augen konnte er in
der Dunkelheit nicht erkennen.
»Natürlich. Willst du die Kerle etwa nicht bestraft
sehen?«, sagte Yanko und schlug ihm übermütig auf die Schulter.
»Aber in erster Linie hoffe ich, dass sie mehr über den Hohen
Norkham wissen, wohin er geflohen sein könnte und lauter solche
Dinge. Schließlich müssen wir seine Fährte neu aufnehmen.«
»Und die seines Drachen«, betonte Ben halbherzig
und ärgerte sich, dass er nicht selbst daran gedacht hatte, wie
wichtig das Wissen der Ritter war.
»Und die seines Drachen«, bestätigte Yanko ebenso
halbherzig.
Nach einer Weile setzte Aiphyron vorsichtig zur
Landung an. Trotzdem prallte der Käfigwagen mit einem Ruck auf die
Erde und rollte noch ein paar Schritt weiter, bis sich die Räder im
hohen Gras verhedderten. Yanko, der voller Übermut die Gitterstäbe
schon hoch in der Luft losgelassen hatte, fiel auf die Knie, doch
er lachte, anstatt zu fluchen.
»Bitte aussteigen, die Herrschaften. Wünsche wohl
geflogen
zu sein.« Grinsend bog Aiphyron mit den kleinsten Krallen jeder
Klaue zwei Gitterstäbe so weit auseinander, dass sie bequem
hindurchschlüpfen konnten.
»Danke.« Ben klopfte dem Drachen freundschaftlich
auf das Vorderbein, bis zur Schulter kam er nicht hinauf.
»Keine Ursache. Aber das bequemste Schwebehäuschen
der Welt habt ihr euch hier nicht ausgesucht. Es stinkt nach
verfaulten Früchten und...«
Nica drückte dem Drachen einen Kuss auf die
Schnauze und brachte ihn so zum Schweigen. Ihre Stimme klang rau.
»Danke.«
»Schon gut, wirklich«, wehrte er ab. In der
Dunkelheit war nicht zu erkennen, ob auch Drachen erröten konnten.
Vermutlich nicht.
Es dauerte nicht lang, bis Feuerschuppe und Juri
angeflogen kamen. Jeder von ihnen trug einen vor Angst erstarrten
Ritter in den Klauen. Ohne lange zu überlegen, steckten sie die
beiden in den verlassenen Käfig und bogen die Stangen wieder
gerade.
»Ich wünsche einen schönen Aufenthalt«, sagte Nica
und tat so, als spucke sie auf den Boden. Speichel konnte sie in
ihrem trockenen Mund nicht finden. »Wir haben euch ein wenig Essen
übrig gelassen.« Herr Friedbart und der weiße Ritter waren bleich
wie der Mond und starrten verdattert umher. Sie schienen Nica
überhaupt nicht gehört zu haben. Wankend ließ sich Friedbart auf
die Knie sinken und murmelte furchtsame Gebete zu Hellwah, während
sein Kamerad die Hände gegen den Bauch drückte, das Gesicht verzog
und sich dann mitten in den Käfig erbrach. Ihnen schien der Flug
nicht sonderlich bekommen zu sein.
»Wo ist der dritte?«, fragte Yanko.
»Einen dritten Ritter haben wir nicht gesehen. Nur
eine junge Frau und einen schmächtigen Jungen, die schreiend das
Weite gesucht haben.«
»Der Dritte war ihr Anführer.«
»Aber er war nicht da.«
»Ich schau noch mal. Den Kerl finde ich.« Juri
erhob sich und raste davon. Diesmal blieb er länger fort, doch als
er schließlich zurückkehrte, waren seine Klauen leer, und die
Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Nicht die geringste
Spur hatte er von Herrn Arthen gesehen, er musste es bis in den
nahen Wald geschafft haben, wo es zahlreiche Verstecke gab, vor
allem in der Dunkelheit. Es hatte keinen Sinn, dort nach ihm zu
suchen.
Sie flogen zurück in die Klamm, um dort alle
weiteren Schritte zu beraten.