IM KLOSTER
Am nächsten Abend ließen sie sich von Juri
über den Fluss bringen. Sie wollten nicht mit durchnässter Kleidung
durch das Kloster tapsen, denn das würde genau die Aufmerksamkeit
erregen, der sie mit den behelfsmäßig umgenähten Kutten zu entgehen
versuchten. Auch blieben so die Fackeln trocken. Juri dagegen
genoss es, durch das Wasser zu waten, so nah am Kloster wollten sie
nicht fliegen. Zusammen mit Aiphyron und Feuerschuppe würde er
zwischen den Bäumen warten und darauf lauern, ob alarmierende
Geräusche über die Mauern drangen.
»Wir sehen zu, dass ihr einen ruhigen Abend habt«,
sagte Ben leichthin und schüttelte alle Angst, erwischt zu werden,
ab.
»Dann bis nachher«, brummte der Drache und glitt in
den Fluss zurück.
Ben, Yanko und Nica schlichen am Ufer entlang und
tauchten schließlich in die Höhle unter dem Kloster. Im Schein der
Fackel hatten sie die Gittertür schnell erreicht. Dahinter führte
die Höhle weiter in Richtung Kloster, weiterhin schnurgerade, als
wäre sie künstlich angelegt. So weit das Licht reichte, war nichts
und niemand zu sehen. Auch hörten sie keine auffälligen
Geräusche.
»Dann wollen wir mal«, sagte Ben und kniete sich
auf den Boden. Langsam grub er den Schlüssel aus, wischte die
letzte Erde mit dem Daumen von den eingesetzten Edelsteinen und
schob ihn in die Hosentasche.
»Geh auf. Bitte«, beschwor er murmelnd die Tür,
dann drückte er dagegen. Die Tür bewegte sich nicht. Er drückte
fester, doch nichts geschah.
»Ziehen, du musst ziehen«, flüsterte Yanko und
deutete auf die Scharniere. Nica hielt sich die Hand vor den Mund,
um nicht hemmungslos zu kichern. Sie alle waren angespannt.
Ben murmelte einen Fluch und zerrte am
widerspenstigen Eisen. Rost rieselte zu Boden, dann tat es einen
Ruck und die Tür schwang auf. Sie unterdrückten die Jubelschreie
und fielen sich in die Arme.
»Was für ein Schlüssel«, murmelte Ben voller
Bewunderung für die Gabe der Schlüsselmacherin.
»Was für ein Zauber«, flüsterte Nica beinahe zur
gleichen Zeit.
»Hat eigentlich einer von uns gestern an der Tür
gezogen, bevor wir den Schlüssel vergraben haben?«, fragte Yanko.
»Vielleicht hat ja schon vor Jahren einer vergessen, sie
abzusperren, und sie war überhaupt nicht verschlossen.«
»Alberner Moorkopf!« Ben lachte. Aber er konnte
sich nicht erinnern, tatsächlich geprüft zu haben, ob die Tür
verschlossen war. Hatten sie einfach Glück gehabt?
»Schtt«, zischte Nica, und sie drangen Schritt für
Schritt tiefer unter die Anhöhe.
Es dauerte nicht lange, da stießen sie auf den
endgültigen Beweis, dass dieser Gang von Menschen angelegt worden
war, zumindest zum Teil. Grob aus dem Stein gehauene Stufen führten
an seinem Ende in die Höhe.
»Jetzt vorsichtig mit den Fackeln«, flüsterte Ben.
»Nicht dass man von oben ihren Schein zu früh sieht.«
Also löschten sie zwei, bevor sie langsam die
gewendelte Treppe in die Höhe stiegen. Zum Glück war sie nicht
allzu
schmal, ein Drache von Feuerschuppes Größe ohne Flügel musste sich
hier noch durchzwängen können. Hoffentlich maß der Gesuchte nicht
zwanzig Schritt oder war ausgesprochen breit.
Nach zahlreichen Windungen erreichten sie endlich
eine schwere, eisenbeschlagene Tür. Die letzte brennende Fackel
steckten sie in einen Riss in der Wand dreiunddreißig Stufen weiter
unten, so dass ihr Schein nicht bis hier hoch reichte. Dann
drückten sie die knirschende Klinke runter, und die Tür schwang
auf.
Sie öffnete sich in einen aus grauem Stein
gemauerten Gang, nirgendwo waren Fenster oder auch nur schmale
Schießscharten zu sehen. Das einzige Licht stammte von einer
Fackel, die weit vor ihnen in einer Halterung hing. Da jeder
unterirdische Raum in Samoths Reich eindrang und man seine
Dunkelheit fürchtete, brannten in Klöstern und Tempeln dort stets
Fackeln, um zu zeigen, dass Hellwahs Licht jeden Ort erhellen
konnte. Außer dem leisen Knistern der Flamme vernahmen sie keinen
Laut.
»Los«, flüsterte Yanko.
Leise schritten sie voran, die Kapuzen der groben
Kutten über die Köpfe gezogen. Dabei achteten sie darauf, sich so
natürlich wie möglich zu bewegen, weder gebückt noch auf
Zehenspitzen, um bei einer zufälligen Entdeckung keinen verdacht zu
erwecken, weil sie wie Eindringlinge wirkten.
Kaum hatten sie die Fackel passiert, teilte sich
der Gang. Yanko deutete nach rechts, wo im Schein einer weiteren
Fackel Stufen zu erkennen waren, die in die Höhe führten. Ben und
Nica nickten. Der Gang links endete nach wenigen Schritt an einer
wuchtigen Tür mit massiven Scharnieren aus schwarzem Stahl, die ein
Stück weit offen stand. Durch
den Spalt erkannte Ben Eisenstangen wie von einem Käfig. Er packte
Yanko am Arm, deutete darauf und wisperte: »Da sind Gitter.«
»Ja und?«, gab er ebenso leise zurück.
»Wenn nun dort...«
»Im Keller befinden sich üblicherweise die Zellen
für Menschen«, sagte Nica. »Wieso sollen sie denn einen Drachen
hier unten hineinpferchen? Durch diese engen Flure?«
»Und wenn sie es trotzdem tun? Wie dämlich wäre es
dann von uns, oben durch den Innenhof zu schleichen, wo uns jeder
sehen kann? Ich schaue besser kurz nach...«
Natürlich glaubte er selbst nicht wirklich daran,
doch warum sollten sie nicht einmal Glück haben? Wenn es die
kleinste Möglichkeit gab, dass sie nicht dort hinausmussten, wo sie
jederzeit von einer Wache entdeckt werden konnten, dann wollte er
sie prüfen. Auf keinen Fall wollte er dem Abt in die Hände
fallen.
Langsam näherte er sich der Tür, lauschte und
vernahm ruhiges Atmen, als schlafe dort jemand. Handelte es sich
dabei um einen Gefangenen oder einen Ritter? Nach einem Drachen
klang es nicht. Dennoch schob er vorsichtig den Kopf in den
Türspalt.
Auch in dem länglichen Raum dahinter brannte eine
Fackel, doch in ihrem Schein war weder ein Ritter noch ein Drache
zu erkennen. Die Gitter, die Ben gesehen hatte, gehörten zu einer
engen, kahlen Zelle für Menschen. Es war nicht die einzige – ein
gutes Dutzend Zellen reihte sich rechts und links die Wände
entlang.
Viele schienen leer zu sein, nur in der vordersten
kauerte ein äußerst bleiches, zitterndes Mädchen, ihr Haar
schimmerte beinahe weiß wie das einer Greisin. Mit den Armen hatte
sie die Knie umklammert, die Augen standen offen und stierten in
die Flamme der Fackel.
Einen Augenblick lang hatte Ben das Gefühl, sie zu
kennen, dann erkannte er sie wirklich.
»Anula...« Er stolperte in den Raum, ohne darauf zu
achten, ob sich in irgendwelchen Ecken doch ein Wärter
aufhielt.
Sie sah furchtbar aus, so schmal und leblos, und er
wusste, was der Schimmer in ihrem Haar bedeutete. Bei dem Gedanken,
wie viel eisig stechenden Schmerz sie fühlen musste, krampfte sich
sein Magen zusammen. Noch einmal hauchte er ihren Namen und
klammerte sich an die Gitter ihrer Zelle. Sie waren kalt.
Zögernd löste sie den Blick von der Fackel und sah
ihn an. »Ben?«
»Ja.«
»Was tust du hier?«
»Ich...«
»Bist du hergekommen, um mich zu retten?«, fragte
sie ohne eine sichtbare Regung. Doch in ihrer Stimme lag eine Spur
Hoffnung.
»Äh, nein«, sagte Ben vollkommen überrumpelt. Er
hatte sie sicher in Falcenzca geglaubt, nicht hier, nicht in diesem
Zustand. Sie starrte ihn an, und ihm wurde bewusst, was er eben
gesagt hatte. »Das heißt, doch natürlich, natürlich holen wir dich
hier heraus. Ich rede Unsinn. Lass mich nur den Schlüssel
finden.«
Stumm starrte sie ihn an, und er ließ den Blick
durch den Raum schweifen, deutete mit den Händen hilflos hierhin
und dorthin. Es war kaum mehr als ein kahler Gang, der von einer
Zelle zur nächsten führte. Nirgendwo standen ein Tisch
oder ein Stuhl für eine Wache, und an den Wänden konnte er auch
keinen Haken mit Schlüsseln entdecken.
»Weißt du, wo...?«
»Nein.«
»Ich finde den Schlüssel. Und dann hole ich dich
hier raus.«
»Geh nicht.« Sie hatte nicht laut gesprochen, doch
Ben hatte das Gefühl, dass sie innerlich vor Angst schrie.
»Ich muss.«
»Aber du kommst wieder?«
»Ja. Ja! Natürlich! Ich komme wieder.« Er fasste
durch die Gitter, um ihre Hände zu greifen. Sie waren eiskalt, und
ihre Kälte stach tief in sein Fleisch. Doch er zwang sich, nicht
sofort zurückzuzucken, sondern ihr zärtlich über die Finger zu
streichen.
Wieso hatten sie ihr das angetan?
Er wollte nicht darüber nachdenken, ob sie eine
Ketzerin war oder gar eine Mörderin oder einfach nur unschuldig
gejagt wie er. Er ertrug es nicht, sie so zu sehen. Warum nur
konnte er keine Menschen heilen? Warum nur Drachen?
»Was haben sie dir nur angetan...?«, murmelte er
und zog nun doch langsam die Hände zurück, bevor sie völlig steif
vor Kälte wurden.
»Ein weißer Drache...« Plötzlich huschte ein
Schatten über ihr Gesicht. »Aber er sucht dich. Dich.«
»Nicht mehr. Er ist tot. Alle drei sind tot.«
»Gut.« Anula schloss die Augen und atmete tief
durch. »Mir ist schrecklich kalt.«
»Ich weiß.«
»Aber du kommst wieder?«
»Ja. Ganz sicher«, versprach er. »Weißt du, wo die
Drachenstallungen sind?«
Irritiert schüttelte sie den Kopf. »Ich habe nicht
darauf geachtet.« Ihre Stimme klang brüchig. Zum Glück fragte sie
nicht, weshalb Ben gerade dort nach dem Schlüssel für ihre Zelle
suchen wollte.
»Schon gut.«
»Ben?«
»Ja.«
»Ich habe ihnen nichts gesagt. Gar nichts.«
»Gut.« Ben lächelte, obwohl er nicht wusste, was
sie ihm damit mitteilen wollte. Aber es schien ihr wichtig zu
sein.
»Wirklich«, beharrte sie.
»Das glaub ich dir.«
»Dann kommst du auch wieder?«
»Ja, ich komme wieder.« Noch immer vollkommen
durcheinander löste er sich von ihrer Zelle und stapfte zurück zu
Yanko und Nica. Was hatten sie mit Anula gemacht? Sie war so
verwirrt und gebrochen. Wut stieg in ihm auf.
Er erinnerte sich, dass sie von dem weißen Drachen
wusste, der hinter ihm her war, und dachte daran, wie wichtig es
ihr war, nichts gesagt zu haben, und plötzlich verstand er. Sie war
hier, weil der Orden ihn suchte, weil der Orden sie nach ihm
befragt hatte. Mit einem Mal wurde ihm schlecht. Er presste die
Unterarme gegen den Bauch und würgte, erbrach sich aber nicht. Er.
Er war schuld, dass Anula hier war. Um ihn drehte sich alles, und
er stützte sich an der Wand ab, bevor seine Knie einknickten.
»Ben«, stieß Nica aus.
»Was ist los?«, fragte Yanko, sprang herbei und
griff ihm stützend unter den Arm. »Bist du in Ordnung?«
Ben nickte.
»Aber...?«
»Anula«, stammelte er und atmete tief durch. Nein,
nicht er hatte ihr das angetan, sondern der Orden. Dieser
verfluchte Abt. Verworren und mit vor Zorn zitternder Stimme
erklärte er den beiden, dass sie nicht mehr nur einen Drachen
befreien mussten. »Und wenn wir auf den Abt treffen, schlag ich ihn
tot.«
Yanko starrte ihn schweigend an, legte ihm die Hand
auf die Schulter und nickte grimmig.
Nica fragte: »Warum holen wir sie nicht sofort dort
heraus?«
»Weil wir keinen Schlüssel haben, und ohne macht es
zu viel Lärm«, sagte Ben und kämpfte mit den Tränen. »Erst der
Drache. Verdammter Schwur. Nie wieder werde ich schwören. Egal,
was.«
Er wandte sich ab und stapfte den Gang entlang zur
Treppe nach oben. Er fühlte keine Angst mehr vor einer Entdeckung,
nur noch den Wunsch, den Schlüssel aufzutreiben und dem Abt
wehzutun, dem Mann, der Anula das angetan hatte.
Die Treppe führte hinaus in einen engen
fünfseitigen Innenhof, den ein schmaler Durchgang mit dem nächsten
Hof verband. Ben warf einen Blick hinaus, konnte jedoch niemanden
sehen. Verlassen lag der Hof im schwachen Licht von Sternen und
Mond. Die Schemen auf den Zinnen blickten in die andere Richtung.
Schnell versuchte er, sich zu orientieren, erkannte den
Zwillingsturm im nächsten Hof und zog den Kopf wieder zurück. Zu
viele Gebäude reihten sich aneinander, um sich mit letzter
Sicherheit zurechtzufinden, zu viele Winkel und Ecken,
Mauervorsprünge und Erker machten die ganze Anlage
unübersichtlich.
»Hast du den Rundturm gesehen?«, raunte
Yanko.
»Nein. Aber ich weiß, wo er ungefähr liegen
muss.«
»Meinst du nicht, dass auch die anderen Ställe dort
in der Nähe sind?«
Ben zuckte mit den Schultern. Das musste nicht
sein, aber es schien mindestens so erfolgversprechend, wie einfach
blind loszulaufen. Leise huschten sie hinaus.
So gut es ging, hielten sie sich in den Schatten
der Gebäude, tauchten unter einem erleuchteten Fenster hinweg, aus
dem leises Gemurmel und Essensduft drangen. An einer rissigen
Holztür, die in einen Turm führte, eilten sie vorbei, wie auch an
der verriegelten doppelflügligen Luke im Boden, die vermutlich in
den Weinkeller führte. Gepresst atmend erreichten sie schließlich
einen weitläufigen Hof, an dessen linker Seite schräg gegenüber
eine breite Treppe in das mächtige Hauptgebäude des Klosters
führte. Für den Rundturm mussten sie sich hier jedoch rechts
halten, hinunter zur Außenmauer. Am Rand des Hofs befand sich ein
dreißig Schritt langes Becken, dessen Sinn sich Ben nicht sofort
erschloss.
»Eine Drachentränke«, murmelte Nica und deutete
dann auf ein langgezogenes, breites Gebäude dahinter. Der
Stall!
Und jetzt hörte auch Ben das tiefe schwere
Schnauben und nahm den typischen erdig strengen und zugleich
süßlichen Geruch wahr, der in der Luft hing. Sie schlichen hinüber,
zogen den stählernen Riegel an der Tür zurück und schlüpften
hinein. Nur spärlich drang Licht durch die Fenster der Boxen, von
denen sich eine an die andere reihte. Überall war regelmäßiges
Atmen zu hören, dort ein tiefer Seufzer, und irgendwo kratzten
Krallen über Stein. Doch keines der Geräusche deutete auf die
Anwesenheit eines Menschen hin.
»Wie wollen wir den Richtigen finden?«, fragte
Nica. »Wir kennen seine Schuppenfarbe nicht.«
»Achte auf die Türen«, sagte Ben und deutete auf
eine verzierte
Bronzeplakette an der ersten Box, auf dem Donner-klaue
stand.
»Wie willst du ihn an der Tür erkennen?«
»Da er erst seit kurzem hier ist, hat er
wahrscheinlich noch kein Namensschild. Möglicherweise ist er in der
neuen Umgebung auch unruhig und tippelt hin und her.«
Also liefen sie die Stallgasse entlang, musterten
die Türen zu beiden Seiten und lasen Namensschilder wie
Sonnensturm, Laubschuppe und Schimmerschnauze. Dabei
linsten sie auch zu den flügellosen Drachen hinein, die meist vor
sich hindösten, nur einer kaute gelangweilt auf einem großen
blanken Knochen herum. Es gab Drachen in den verschiedensten
Farben, schlanke und solche mit breitem Rücken, stachelbewehrte und
glattschuppige, doch bei allen Unterschieden war keiner kleiner als
sechs Schritt in der Länge, die meisten maßen sogar um die zehn
oder zwölf. Insgesamt dreizehn Drachen zählte Ben, und an elf Türen
hing tatsächlich ein Namensschild, an dem Haken einer der beiden
anderen eine alte abgeschabte Satteltasche.
»Der da«, raunte Nica und deutete auf die blanke
Tür ohne Tasche.
Ben nickte und trat an das Gitter. Dahinter kauerte
ein langer, schlanker, moorschwarzer Drache, der sich beinahe wie
eine Schlange zusammengeringelt hatte. Die Schwanzspitze zuckte
unruhig hin und her, die tiefen Augen starrten Ben misstrauisch
an.
»Ganz ruhig, alter Junge«, brummte Ben und schob
langsam die Verriegelung zurück, ohne den Drachen aus den Augen zu
lassen. »Ich bin hier, um dir zu helfen.«
Der Drache ließ ein leises Knurren hören und
entblößte die Zähne.
»Ruhig, ganz ruhig.«
»Willst du da wirklich rein?«, fragte Nica
bang.
»Das muss er«, antwortete Yanko, doch auch er klang
angespannt.
Ben achtete nicht auf sie und hielt weiterhin nur
den Drachen im Auge. Bedächtig zog er die schwere Tür auf und
betrat mit vorgestreckten leeren Handflächen die Box. Das Knurren
hielt an, doch zumindest machte der Drache keine Anstalten, ihn
anzuspringen. Sollte er es sich noch anders überlegen, könnte er
Ben mit einem Haps in zwei Hälften beißen.
»Ganz ruhig, ich tue dir nichts«, sagte Ben mit
sanfter Stimme, aus der er jedes Zittern zu bannen versuchte.
Wirkliche Angst hatte er nicht, dafür fühlte er sich Drachen zu
stark verbunden.
»Du ihm? Hauptsache, er tut dir nichts«, murmelte
Yanko leise, doch Ben verstand es trotzdem.
Der Drache hob die Lefzen. Blutige Fleischfasern
steckten zwischen zwei seiner spitzen Zähne.
Obwohl Ben keine Angst hatte, pochte sein Herz
schneller, denn dem Orden traute er längst das Schlimmste zu. Was
hatten die Ritter dem Flügellosen befohlen, falls ein Fremder seine
Box betrat? Stammten die Fleischreste von einem früheren
Eindringling? Rasch schob er diese Fragen beiseite. Sicherlich
hatte ihm niemand befohlen, jeden anzugreifen, der die Box betrat,
schließlich mussten Stallburschen hier ja ausmisten, es gab
Besucher im Kloster und Neulinge.
»Komm her«, sagte er mit einem leichten Zittern und
machte seinerseits einen weiteren Schritt auf den Drachen zu. Er
war nun so nah, dass er den warmen Atem aus den Nüstern spüren
konnte. Langsam trat er neben den mächtigen
Kopf mit der langen spitzen Schnauze und beugte sich vor, um die
Schulterknubbel zu berühren.
Das Knurren wurde lauter und drohender. In der Box
nebenan schabten Schuppen über den Boden, etwas stieß dumpf gegen
die Zwischenwand. Auch der breitmaulige Drache gegenüber wurde
unruhig, presste den Kopf gegen die Gitter und starrte
herüber.
»Keine Angst«, murmelte Ben, was ebenso gut an ihn
selbst gerichtet sein konnte. Was wusste er schon, ob er nicht doch
plötzlich zuschnappte?
Dann berührten seine Hände die Schulterknubbel. Für
einen kurzen Moment fürchtete er, diesmal könnte seine Gabe ihn im
Stich lassen, doch dann spürte er das vertraute Pulsieren in der
Handfläche, den Fluss seiner Kräfte.
Er spürte, wie die Vernarbungen der alten Wunden
warm wurden und Leben in das tote Gewebe floss, spürte, wie sich
die Muskeln unter den Schuppen spannten. Und er hörte, wie das
Knurren erstarb, wie es sich zu einem zufriedenen Brummen wandelte,
das an das Schnurren einer Katze erinnerte.
Auch aus Ben wich die Anspannung. Er lehnte sich
bequem gegen den Drachen und dachte mit aller Kraft daran, wie die
Flügel des Drachen wuchsen, an aufplatzende Vernarbungen und
heilendes Fleisch. Er wusste, er musste so schnell heilen wie noch
nie, wenn sie noch in der Nacht wieder verschwinden wollten.
Auch in den Boxen nebenan kehrte langsam wieder
Ruhe ein.
»Und jetzt?«, hörte er Yanko fragen.
»Jetzt brauche ich ein wenig Zeit«, antwortete Ben.
Schweiß trat ihm auf die Stirn. »Bis er mir ganz vertraut und die
Knubbel
sich so weit gelöst haben, dass er uns hinausfolgt, egal, was man
ihm befohlen hat.«
»Was ist ein wenig? Eine halbe Stunde?«
»Länger«, presste Ben hervor, der es nicht
einschätzen konnte, aber darüber jetzt nicht debattieren
wollte.
»Und was machen wir?«
»Warten«, sagte Ben und vertiefte sich wieder in
die Heilung.
Warten, dachte Yanko abfällig. Nein, er
würde jetzt nicht zwei Stunden oder länger im Dunkeln herumstehen.
Wenn er schon nicht draußen im Hof herumspazieren konnte, würde er
sich wenigstens den Stall in Ruhe ansehen.
»Komm«, sagte er zu Nica, doch sie schüttelte den
Kopf. Sie wollte bleiben, falls Ben Hilfe brauche. Das waren Ideen,
wie sie Mädchen hatten, dachte Yanko und schlenderte die Stallgasse
entlang. Ben hatte beim Heilen noch nie Hilfe gebraucht. Sollte sie
sich eben langweilen, er würde das nicht tun.
In die Boxen hatten sie bereits bei der
Drachensuche gründliche Blicke geworfen, doch am Ende der Gasse
befand sich noch eine dünne Tür aus hellem Holz, die leicht
verzogen in den Angeln hing. Vorsichtig drückte Yanko die Klinke
herunter und drückte gegen die Tür. Sie war unverschlossen.
Ob sie das immer war oder ob es am Zauber des
Großen Schlüssels lag, den sie vergraben und wieder ausgebuddelt
hatten, wusste Yanko natürlich nicht, doch vermutlich hatte es
nichts mit irgendeiner Gabe zu tun, denn diesen Raum zu
verschließen, war überflüssig. Hier lagerten keine Schätze, sondern
Sättel und Leinen, Zaumzeug für Pferde und Eimer mit Trockenfleisch
für die Drachen. Yanko hatte die Sattelkammer
gefunden. Eine weitere Tür führte durch die rechte Wand in den
Pferdestall. Dort waren nur die Geräusche der Tiere zu hören, kein
Mensch schien sich mitten in der Nacht bei ihnen aufzuhalten.
Neugierig durchstöberte Yanko jeden der hohen
Spinde und roch an dem Fleisch. Zwei schöne rote Äpfel aus einer
Holzkiste steckte er sich in die Hosentasche, und dann entdeckte er
den verzierten Sattel des Abts. Zumindest standen der Name Morlan
und sein Titel in verschlungenen Buchstaben über dem polierten
Holzbügel, auf dem er ruhte. Der verdammte Abt, dem Ben vorhin den
Tod gewünscht hatte. So weit würden sie mit ihrer Rache wohl nicht
gehen können, ohne erwischt und hingerichtet zu werden. Aber
irgendetwas musste er mit dem Sattel doch anstellen können.
Vielleicht sollte er ihn mit Pferdedung einreiben?
Oder noch besser mit Drachenkot? Drachenkot, in den er rostige
Nägel rührte. Unentschlossen sah er sich nach Schaufel und Eimer
um. Dabei wanderte sein Blick zum kleinen Fenster hinüber und
hinaus auf den gedrungenen Rundturm, in dem sie weitere weiße
Drachen vermuteten. Drachen, die nach ihrem Geruchssinn
jagten.
»Ha!« Das war es! Dass sich der Abt in die
stinkenden Ausscheidungen irgendeiner Kreatur setzte, war ein
Streich für kleine Jungen. Aber er war kein kleiner Junge mehr, und
es gab etwas viel Besseres: Er konnte den Abt mit seinen eigenen
Waffen schlagen. Sollte er doch einmal sehen, wie es war, gehetzt
zu werden.
Von wilder Begeisterung gepackt, griff er nach den
Ecken der sonnengelben Decke, die unter dem Sattel lag, und schlug
sie um ihn. Oben verschnürte er das Bündel mit einem Strick. Dabei
achtete er sorgsam darauf, nicht das Leder zu berühren.
Dann schulterte er das schwere Bündel und schlich sich durch den
Pferdestall hinaus. Von dort war es nicht weit bis zum Rundturm,
und auf diesem hielt kein einziger Schemen Wache.
Als er an dem dunklen Haus mit den kleinen Fenstern
neben dem Stall vorbeischlich, knirschte ein berstendes
Schneckenhaus unter seinen Füßen. Ein fetter Vogel lauerte auf dem
Giebel und krächzte, wohl eine Eule. Yanko bog in eine schmale
Gasse zwischen dem länglichen Haus mit den kleinen Fenstern und
einem Schuppen aus rauem schwarzen Holz am Rand des klösterlichen
Kräutergartens. Das Gewicht des Sattels drückte ihn nieder, doch er
war von seiner Idee noch immer derart berauscht, dass er am
liebsten freudig gepfiffen hätte. Natürlich tat er es nicht.
Und dann hörte er die Schritte. Eilige Schritte und
murmelnde Stimmen, die ihm entgegenkamen. Ohne nachzudenken, warf
er sein Bündel über den bewachsenen Zaun zum Kräutergarten und
sprang selbst hinüber. Er tauchte zwischen zwei Beerensträucher und
hielt die Luft an. Kleine Dornen kratzten über seine bloße Haut,
doch er gab keinen Schrei und keinen Fluch von sich.
Die Schritte verharrten.
»Schtt«, zischte eine Stimme. »Hast du das
gehört?«
»Was?«, flüsterte eine andere.
»Schtt.« Sie schwiegen und schienen zu lauschen.
Angst raste durch Yankos Adern. Wieso war er nur auf diesen
idiotischen Gedanken gekommen, einen Sattel quer durch das Kloster
zu schleppen? Wieso hatte er keinem Bescheid gegeben? Die Luft
wurde ihm langsam knapp, und er atmete ganz langsam aus, sog ebenso
langsam neue Luft ein.
»Da ist nichts«, flüsterte die zweite Stimme, Yanko
kam sie jung vor. Als wäre der Sprecher kaum älter als er
selbst.
»Aber ich habe es rascheln hören. Und einen dumpfen
Schlag.« Auch diese Stimme war jung.
»Vielleicht ein Tier, das einen Sack Samen
umgeworfen hat und dann durch den Garten verschwunden ist.«
»Und wenn es ein Ritter war?«
»War es nicht.«
Zwei Stimmen hatte Yanko bislang unterscheiden
können, und es klang, als wollten sie ein Zusammentreffen mit einem
Ritter vermeiden. Das konnten keine Wächter sein. Waren es andere
Eindringlinge? Ein wenig beruhigte sich seine Angst, doch auch
ihnen wollte er nicht in die Hände fallen.
»Woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es nicht. Hauptsache, der Abt erwischt
uns nicht, und auch der Griesgram von Küchenmeister nicht. Die
meisten Ritter verstehen das, sie haben selbst eine solche Mutprobe
bestanden.«
Mutprobe? Ganz langsam drehte Yanko den Kopf, so
dass er zwischen den Ästen auf den schmalen Weg hinausschielen
konnte. Doch er sah nichts als die dunkle Hauswand.
»Meinst du?«
»Klar. Komm weiter.«
Sie setzten sich wieder in Bewegung. Yanko konnte
nun undeutlich zwei schlanke Gestalten erkennen, die an seinem
Versteck vorüberhuschten. Sie schienen splitternackt zu sein, beide
trugen einen Dreschflegel über der Schulter. Beim besten Willen
konnte er sich nicht vorstellen, was das für eine Mutprobe sein
sollte. Doch er verstand gut, dass man so nicht erwischt werden
wollte. Nackt in einem Kloster, das setzte wohl Hiebe.
Yanko blieb liegen, bis die Schritte lange
verklungen waren. Kurz dachte er daran, den Sattel einfach liegen
zu lassen und den Plan zu verwerfen, aber Ben hatte sich Rache an
dem Abt gewünscht, und besser konnte man sich kaum rächen. Er würde
jetzt nicht kneifen, er war kein Feigling.
Langsam richtete er sich auf und hob den Sattel
über den Zaun. Dann kletterte er selbst hinterher und folgte dem
Weg weiter Richtung Rundturm. Dabei sah er sich immer wieder um,
mühte sich, nicht das geringste Geräusch zu machen, und lauschte
auf alles. Doch er traf kein zweites Mal auf die beiden Nackten und
auch auf sonst niemanden. Ohne sich noch einmal ins Gebüsch werfen
zu müssen, erreichte er den Rundturm.
Schon bei den letzten Schritten überlief ihn ein
Schauer. Die Luft wurde merklich kühler, und er schien Winter
einzuatmen. Langsam umrundete er den Turm bis zu einem breiten
Gittertor voller Reif, das in eine Mauer aus Granit eingelassen
war.
An der Rückwand des bestimmt zwanzig Schritt
durchmessenden Zwingers lag tatsächlich ein ausgestreckter weißer
Drache. Zitternd kniete sich Yanko auf den eisig harten Boden und
wickelte den Sattel aus, noch immer vorsichtig darauf bedacht, ihn
auf keinen Fall zu berühren. Dann schlug er die Decke um seine
Hände, ergriff mit ihnen umständlich den Sattel und versuchte, ihn
zwischen zwei Gitterstangen hindurchzuquetschen.
Der Drache hob den Kopf und stierte ihn mit Augen
an, die selbst in der Dunkelheit rot zu glimmen schienen.
Aufreizend langsam erhob er sich, jeder seiner Schritte knirschte,
als laufe er über Schnee.
Der Fuß, mit dem Yanko in das Eis des weißen
Drachen
getreten war, begann furchtbar zu jucken. Schmerz wie von hundert
kleinen Nadeln stach in seine Zehen, wanderte bis über den Knöchel
hinauf und wurde zu einem dumpfen Pochen. Er unterdrückte den
Drang, sich zu kratzen und zu wärmen. Angst stieg in ihm auf, er
wollte nicht, dass ihm der Drache zu nahe kam. Was würde dann mit
seinem Fuß geschehen? Die Bestie kam nicht durch die Gitter
hindurch, doch ihr Hauch und ihre Kälte schon.
Hektisch drückte er mit aller Gewalt weiter gegen
den Sattel, der sich mit dem Knauf irgendwie verhakt oder
festgeklemmt hatte. Geh durch! Keuchend schlug er mit beiden
Händen gegen den Sattel, und mit einem Knirschen rutschte dieser
ganz hindurch. Auf der Stelle sprang Yanko zurück, um Abstand
zwischen sich und den eisigen Drachen zu bringen, die Decke noch
immer in den Händen.
Dumpf prallte der Sattel auf den Boden.
»Such«, murmelte Yanko. »Such den Abt, der genauso
stinkt. Der bestimmt schon hundertmal auf diesen Sattel gefurzt
hat.«
Prüfend schnupperte der Drache an dem Leder, ohne
Yanko aus den unbewegten roten Augen zu lassen. Kalte Luft stieg
aus seinen Nüstern. Mit gefletschten Zähnen zuckte er zurück und
knurrte leise.
»Ja, genau, den sollst du jagen und in tausend
Stücke beißen. Oder ihn zu einem hässlichen Eisklotz frieren und
dann in tausend Stücke zerschmettern«, sagte Yanko. Und fügte in
Gedanken hinzu: Ich hoffe, der Sattel stinkt in deiner angeblich
so empfindsamem Schnauze fürchterlich. Jeder einzelne Abtfurz soll
sich dortfestbrennen und so stechen wie die Kälte in meinem
Fuß.
Gierig starrte der Drache ihn an.
Yanko wagte es nicht, näher an ihn heranzutreten,
und
schon gar nicht wagte er es, das Gitter des Zwingers zu öff nen,
um den Drachen loszulassen. Was, wenn doch ein wenig von seinem
Geruch auf den Sattel gelangt war?
»Nicht mich sollst du jagen. Ihn«, flüsterte er und
deutete auf den Sattel.
Der Drache fletschte die langen krummen Zähne und
stierte weiterhin Yanko an. Eisige Kälte schwappte aus dem Zwinger,
die Luft schien noch kälter zu werden. Yanko sah seinen Atem
aufsteigen wie im Winter. Hoffentlich hatte er keine Dummheit
begangen. Hoffentlich hatte der Drache wirklich nicht seinen Geruch
in der Nase.
Ach was, beruhigte er sich. Er hatte aufgepasst.
Dennoch würde er den Drachen jetzt sicher nicht freilassen. Aber
auch der Orden würde das nicht tun, stellte er mit grimmiger
Genugtuung fest. Er konnte förmlich vor sich sehen, wie ein
einfacher Stallbursche am Morgen den Sattel entdecken würde, wie er
alles fallen ließ und den Abt und andere Ritter herbeischrie. Wie
sie ratlos und fluchend um den Zwinger standen und zähneknirschend
beschlossen, die Bestie nie wieder auf einen Menschen zu hetzen,
denn sie trug den Geruch des Abts in ihrer Schnauze. Und nichts
konnte sie von einer einmal aufgenommenen Fährte abbringen.
»Mach es dir gemütlich, du kommst hier nicht mehr
raus, bis du verschimmelst«, sagte Yanko. Es war der letzte weiße
Drache des Klosters und damit keiner übrig, um ihn auf unschuldig
Geächtete zu hetzen. »Wenigstens behältst du dabei deine Farbe, ist
doch auch etwas?«
Der Drache schnaubte Kälte in die Nacht, die Augen
weiterhin ausdruckslos auf Yanko gerichtet. Nichts deutete darauf
hin, dass er ihn verstanden hatte.
»Ach, friss einfach den Abt«, murmelte Yanko und
wandte
sich ab. Mit jedem Schritt, den er sich vom Zwinger entfernte,
schwanden Kälte und Schmerz aus seinem Fuß. Zufrieden mit sich
selbst huschte er zurück in den Stall. Dabei rieb er sich mit den
Händen über die Oberarme. Er freute sich darauf, Ben und Nica von
seinem Streich zu berichten, und dann dachte er wieder an die
beiden Nackten mit Dreschflegeln und hoffte, dass ihre Mutprobe
nicht im Stall stattgefunden hatte.
Doch dort war keine Spur von ihnen zu entdecken.
Nica stand noch immer an der Boxentür und blickte aufmerksam zu Ben
hinein, der mit geschlossenen Augen am Drachen lehnte und
schwitzte. Sein Unterkiefer bebte vor Anstrengung. Lächelnd stellte
sich Yanko neben Nica und drückte ihr einen Kuss auf die
Wange.
Langsam löste Ben die Hände von den
Schulterknubbeln des Drachen. Die Vernarbungen auf der rechten
Seite waren bereits aufgebrochen, und er fühlte frisches glattes
Fleisch darunter. Fleisch, das wachsen wollte.
»Verstehst du mich?«, fragte er und bewegte den
Kopf betont langsam von oben nach unten. »Wenn ja, dann nicke. So
wie ich.«
Der Drache sah ihn mit seinen dunklen Augen an,
blinzelte zweimal und wies mit seiner Schnauze auf die
Schulterknubbel.
»Ja, ich mach gleich weiter. Sag mir nur: Verstehst
du, was ich sage?«
Zögerlich nickte der Drache.
»Gut. Sehr gut.« Ben lächelte erschöpft. »Warst du
lange Zeit der Gefangene eines Mannes namens Norkham, der sich
selbst der Hohe nannte?«
Der Drache nickte.
Ben atmete erleichtert aus. Er wusste nicht, was er
getan hätte, wenn es wieder der Falsche gewesen wäre. Nica ließ
einen unterdrückten Freudenschrei hören, Yanko ballte die
Faust.
»Willst du mit uns kommen?«, fragte Ben weiter.
»Raus aus dem Kloster und in die Freiheit?«
Erneut nickte der Drache, diesmal jedoch weit
weniger zögerlich.
»Und dich wird nichts zurückhalten?«
Wieder nickte der Drache, doch Ben war nicht
sicher, was das bedeuten sollte. Er hatte die Frage schlecht
gestellt.
»Frag ihn doch, ob er das Gitter an der Zelle von
deinem Mädchen aufbiegen kann«, sagte Nica. »Ihren Namen habe ich
vergessen.«
Ben klappte der Unterkiefer herunter. Vor
Überraschung brachte er kein Wort heraus. Der Drache wandte sich
ihr zu und sah sie erwartungsvoll an.
»Ein Gitter, dünner als das hier.« Nica deutete auf
die armdicken Stangen in der Boxentür. »Kannst du das
aufbiegen?«
Der Drache nickte. Er wirkte irritiert, als habe
sie nach etwas Selbstverständlichem gefragt.
»Sehr gut, dann sparen wir uns die
Schlüsselsuche.«
»Danke«, stammelte Ben und strahlte sie an, dann
den Drachen, dann wieder sie. Wieso war er nicht selbst darauf
gekommen? So einfach und doch... »Wie...?«
»Ich hatte viel Zeit nachzudenken, während du
vertieft warst.« Nica lächelte. »Der andere Kerl hat mich ja allein
gelassen.«
»Dafür habe ich mich für dich schon am Abt gerächt.
Das wäre also auch erledigt«, ergänzte Yanko mit einem Grinsen
für Ben. »Aber genauer erzähl ich dir das erst, wenn wir hier raus
sind.«
Mit dem moorschwarzen Drachen im Schlepptau
verließen sie den Stall. Seine Schritte waren erstaunlich lautlos.
Yanko berichtete leise von zwei nackten Jungen, die irgendwo durch
das Kloster schlichen. »Aber keine Sorge. Sie wollen ebenso wenig
bemerkt werden wie wir. Wenn sie uns hören, verstecken sie sich
wahrscheinlich, anstatt Alarm zu schlagen.«
Sie nahmen denselben Weg zurück, den sie gekommen
waren. Als sie den großen Hof hinter sich gelassen hatten und an
dem hohen Hellwahtempel mit den Fenstern aus gelbem Glas
entlangschlichen, glaubte Ben plötzlich daran, dass sie es wirklich
schaffen würden. Obwohl der Drache zu lang war, um in jedem
Schatten verschwinden zu können, bewegte er sich doch unauffällig.
Seine schwarzen Schuppen waren nachts eine großartige Tarnung. Noch
zwei Höfe weiter, und sie hätten den Eingang in die rettende Tiefe
erreicht. Dort waren sie sicher. Dort wartete Anula auf ihre
Befreiung. Dort würde alles...
»He, ihr! Was macht ihr da?«, drang eine Stimme zu
ihnen herunter.
Ben sah auf und erkannte die Schemen zweier
mächtiger Gestalten auf der Mauer, von denen sich einer zu ihnen
heruntergebeugt hatte. Ihre Kettenrüstung schimmerte im
Sternenlicht, mehr war kaum zu erkennen. Zwei wachende Ritter, und
sie hatten sie erwischt!
Nein, dachte Ben, einfach nur: Nein. Tiefe
Resignation erfasste ihn, und das konzentrierte Heilen hatte ihn so
viel Kraft gekostet, dass er ihr nichts entgegenzusetzen hatte. Sie
würden gehenkt werden, davor gefoltert und in einem Käfig zur Schau
gestellt, bespuckt und mit Obst beworfen, und Anula
würde vergeblich auf ihre Befreiung warten. Das war das Ende. So
knapp vor dem Ziel, so furchtbar knapp. Sie konnten nur rennen und
verzweifelt hoffen, dass wenigstens einer entkommen würde. Und die
Drachen zu Hilfe holen oder mit ihnen fliehen.
Noch während Ben erstarrt und mit hängenden
Schultern dastand und all diese Gedanken über ihm
zusammenschwappten, schlug Yanko die Handflächen flehend vor der
Brust zusammen und sah hinauf. Jämmerlich rief er: »Bitte. Bitte
verratet uns nicht. Wenn uns der Griesgram von Küchenmeister bei
der kleinen Mutprobe erwischt, zieht er uns die Ohren so lang, dass
wir damit den Boden wischen können, ohne uns zu bücken.
Bitte.«
Der Wächter lachte lauthals los. »Noch mehr
Knappen, köstlich. Furchtsame noch dazu, und das während einer
Mutprobe. Was für ein Spaß! Aber wenn ihr schon Angst vor Tazies
habt, dann lasst euch besser nicht vom Abt erwischen.«
Sein Kamerad legte ihm die Hand auf die Schulter
und griente. »Hört auf ihn. Er weiß, wovon er spricht. Sein
verunglückter Tauchgang ist noch immer legendär.«
»Ach, lass die Armen doch damit in Ruhe.« Der Erste
winkte ab. »Geht einfach weiter und tut, was ihr tun müsst.
Wenigstens habt ihr genug Anstand, nicht nackt
herumzurennen.«
Ohne zu verstehen, was da eben passiert war, wie
Yanko das gemacht hatte, stapfte Ben weiter. Zitternd und auf
Beinen, die derart schwach waren, dass sie ihn eigentlich nicht
mehr hätten tragen dürfen. Nur nicht nachdenken, einfach
weitergehen, bevor sie es sich vielleicht noch anders überlegten.
Doch kein weiterer Schrei verlangte, sie sollen anhalten.
Yanko tauchte als Erster in den schmalen Eingang
zum
Verlies, dann Nica und schließlich Ben. Der Drache zögerte. Den
Kopf bekam er durch die Tür, doch mit den beiden Vorderbeinen blieb
er an der Öffnung hängen. Misstrauisch starrte er Ben an.
»Komm schon. Nimm sie ganz nah an deinen Körper.«
Ben zog die Schultern hoch und sog die Luft ein, um es zu zeigen.
»Der Gang ist breiter als die Laibung. Die Treppe wird dann noch
mal ein Stück enger, aber du schaffst es. Wenn du hier oben
hindurchpasst, kommst du auch unten hinaus in die Freiheit.«
Der Drache blickte ihn an und knurrte.
»Ich versprech es dir, du wirst nicht stecken
bleiben. Und draußen gebe ich dir deine Flügel zurück. Du wirst
wieder fliegen.«
Noch immer knurrend, zwängte sich der Drache
herein. Erst das eine Bein, dann das andere. Schuppen schabten über
den weißen Stein, aber er schaffte es. Auch die Hinterbeine konnte
er mit großer Mühe durch die Tür quetschen, dabei knirschte er
jedoch mit den Zähnen, und seine Augen blitzten zornig. Ben wollte
gar nicht darüber nachdenken, wie der Drache reagieren würde, wenn
er doch nicht durch das untere Gitter passen sollte. Ach was,
dachte er. Das könnte er mühelos aus dem Fels brechen. Und dort
unten hörte sie niemand.
Sie führten den Drachen zu Anulas Zelle, und Anula
starrte sie an.
»Du bist gekommen«, sagte sie zu Ben, doch ihr
Blick wanderte immer wieder über seine Schulter. »Du bist wirklich
gekommen.«
»Ich hab es doch versprochen.«
»Hast du den Schlüssel?«
Lächelnd deutete Ben auf den Drachen hinter sich.
Dann
sagte er zu ihm: »Das ist das Gitter. Kannst du bitte möglichst
leise sein, wenn du es öffnest?«
Der Drache nickte. Er schob sich bis an die Zelle
heran und legte vier Krallen ganz sanft auf die Gitterstäbe.
Langsam bog er die Stangen rechts und links des Schlosses
auseinander. Noch bevor die Stangen krachend barsten, sprang es mit
einem hellen Klicken auf. Quietschend schwang die Tür in den Raum.
Ben fiel dem Drachen um den Hals, Anula war zu kalt, um sie zu
umarmen.
»Komm mit«, sagte er, und sie lächelte ihn schwach
an.
Auch Yanko lächelte, und ebenso Nica, nur der
Drache nicht. Der Raum vor den Zellen war zu eng für ihn, um sich
umzudrehen.
Knurrend und schnaubend schob er seinen langen
Körper rückwärts, ganz langsam einen schwerfälligen Schritt nach
dem anderen aus dem Zellentrakt hinaus und gerade bis zur Treppe in
den Innenhof zurück. Ben dirigierte und beruhigte ihn, während der
Drache knurrte und die Zähne fletschte. Dabei hätte Ben doch viel
lieber Anulas Hand gehalten, trotz der Kälte. Oder sie wenigstens
angesehen.
Endlich war der Drache weit genug zurückgewichen,
um vorwärts in den Gang zu kriechen, der über die Wendeltreppe in
die Tiefe und von dort unter dem Kloster hinausführte. Auf der
Treppe starrte der Drache Ben an, als wolle er ihn verschlingen,
doch er schob sich über die Stufen hinab, während sein Panzer über
Boden und Wände schrabbte und die Beine sich krumm und verdreht
ihren Weg suchten. Es dauerte scheinbar ewig, bis sie unten
angelangt waren. Durch die gerade Höhle ging es dann schneller
voran.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als sie sich
endlich an den Sträuchern vorbei in den Firnh drängten. Leise
lachend folgten sie seinem Lauf fort vom Kloster, und auch aus den
Zügen des Drachen war aller Grimm gewichen.
Es dauerte nicht lange, da wurden sie von Aiphyron,
Juri und Feuerschuppe eingeholt.
»Lass mich das Mädchen tragen«, sagte Aiphyron,
während Anula ihn und die beiden anderen geflügelten Drachen mit
trotz der Kälte furchtsamen Augen ansah. »Ich halte ihre Kälte am
leichtesten aus.«
»Ihr anderen springt auf seinen Rücken«, ergänzte
Juri. »Und Feuerschuppe und ich schleppen diesen moorschwarzen
Burschen davon. Zumindest so weit, bis wir da angekommen sind, wo
diese Ordensstinker nicht mehr nach unseren Spuren suchen. Ab da
können wir auch weiter laufen. Weil, ehrlich gesagt, der Kerl sieht
schwer aus, fast so schwer wie die steinerne Säule, die ich mal auf
einen Berg geschleppt habe. Ich weiß nicht, ob ich euch das schon
mal erzählt habe. Das war damals, als...«
»Hast du«, unterbrach ihn Yanko und klopfte ihm auf
die Seite.
»Keine Angst«, sagte Ben derweil zu Anula.
»Aiphyron ist ein Freund. Er wird dich weder fallen lassen noch
fressen. Der Orden lügt, was geflügelte Drachen anbelangt.«
Zögerlich nickte sie.
»Er trägt ein Feuer in sich, das dir vielleicht
hilft.«
»Ja, vielleicht«, sagte Aiphyron ausweichend. »Ich
versuche mein Bestes. Das schulde ich Ben, immerhin hat er mich
geheilt. Und andere.«
»Du hast ihn geheilt?«, fragte Anula. Sie klang
verwirrt. Vielleicht auch ein wenig bewundernd, dachte
Ben.
»Das ist eine lange Geschichte für später«, sagte
er. »Jetzt lass uns erst von hier verschwinden.«
Und sie schwangen sich auf Aiphyrons Rücken,
während dieser Anula behutsam in seine Klaue nahm. Juri und
Feuerschuppe packten den frisch befreiten Drachen und erhoben sich
schwankend und taumelnd in die Luft. Gemeinsam flogen sie dicht
über dem Wald davon, während die ersten Vögel zu singen
begannen.