ZU VIELE FÄHRTEN
Der fahle Mond stand hoch über der Klamm. Ben, Yanko und Nica saßen an einem kleinen Feuer und lauschten Juris ausführlichem Bericht.
Sie hatten sich die Bäuche vollgeschlagen und gierig wie Tiere aus dem Bach getrunken. Ausgelassen hatte Yanko den ganzen Kopf in das kühle Wasser gesteckt und sich den Mund volllaufen lassen. Immer wieder hatten sie lachend die Drachen gefeiert, und Juri hatte ihnen weitschweifig versichert, er und Aiphyron seien sehr wohl auf den Gedanken gekommen, dass Ben mit »es kann dauern« doch seinen menschlichen Maßstab gemeint hatte und nicht den eines Drachen. Nach Sonnenuntergang hatten sie die Stadt abgesucht und die Gehenkten vor dem Tor bemerkt.
»Das gefiel uns nicht«, sagte er. »Wir machten uns Sorgen, auch wenn wir natürlich erkannten, dass die Toten schon länger tot waren. Dennoch schien es keine freundliche Stadt zu sein. Feuerschuppe wollte sofort einen Passanten aus einer einsamen Gasse pflücken und ihn höflich befragen, ob er euch gesehen habe. Einen angetrunkenen jungen Mann, der die Begegnung morgen bestimmt auf den Alkohol schieben würde, und wenn nicht, würden es zumindest die tun, denen er davon berichtete. Doch wir hielten ihn davon ab. Wir hatten nicht den geringsten Hinweis darauf, dass euch wirklich etwas geschehen war, und ihr wart allein gegangen, um nicht mit Drachen in Verbindung gebracht zu werden. Da wollten wir diese Verbindung nicht allzu deutlich selbst herstellen, nicht dass es euch gutginge und euch genau das erst in Schwierigkeiten brachte. Denn wer konnte schon mit Sicherheit davon ausgehen, dass wirklich niemand einem willkürlich entführten Passanten Glauben schenken würde? Und wer wusste schon, wie viele Leute wir überhaupt aus den Straßen fischen mussten, bevor wir jemanden erwischten, der euch getroffen hatte? Also beschlossen wir, erst einmal in Ruhe über der Stadt zu kreisen, bis wir euch entdecken würden. Abwechselnd hat sich dabei immer einer von uns gelöst und umflog die Stadt in größerer Entfernung, einfach um sich mit allem vertraut zu machen, um zu sehen, ob dort nicht vielleicht ein einsames Anwesen zu finden war oder was auch immer. Schließlich gab es ja die Möglichkeit, dass dieser Norkham gar nicht in Vierzinnen wohnte, sondern vielleicht nur bei der Stadt. Während ihr also die Stadt selbst auskundschaftet, könnten wir uns ja ein wenig um das Umland kümmern, das fiel uns leichter als euch. Und dabei entdeckte Aiphyron dann zufällig das Feuer.«
Noch einmal dankten die drei den Drachen, dann überlegten sie, was nun zu tun sei. Nica drängte es danach, die beiden Ritter nach dem geflohenen Norkham und seinem Drachen zu befragen, doch Aiphyron schlug vor, sich die Angst der Ritter vor einem geflügelten Drachen zunutze zu machen und ihm die Angelegenheit zu überlassen. Ihm allein, damit der Ritter keine menschlichen Gestalten vor sich hatte, die ihm vertraut waren und nicht so furchteinflößend. Sie sollten keinen Menschen haben, an den sie sich voller Hoffnung wenden konnten.
Nur murrend willigte Nica ein, ihr war deutlich anzusehen, dass sie den Ritter liebend gern selbst in Angst versetzt hätte.
Während der Drache zum Käfig hinüberkroch, blieben die anderen schweigend auf ihren Steinen am Bachufer sitzen. Es dauerte nur einen Augenblick, dann wurde das Plätschern des Wassers von einem schrillen Flehen übertönt.
»Friss mich nicht! Bitte, friss mich nicht!«, hörten sie den weißen Ritter jammern, während Friedbart immer lauter brabbelte: »Hellwah hilf! O Hellwah, sende uns dein strahlendes Licht und erlöse uns von der Dunkelheit. Hilf, Hellwah, hilf deinem armen Knecht, der auf Knien vor dir liegt.«
Im flackernden Feuerschein zeigte sich ein dünnes, eisiges Lächeln auf Nicas Lippen. Ben sah, wie sie angespannt die Finger verknotete, wieder löste und wieder verknotete. Mit dem linken Daumennagel schrabbte sie so heftig über die Finger der rechten Hand, dass er sich wunderte, dass kein Blut floss.
»Kleiner Mann, ich will dich doch nicht fressen«, brummte Aiphyron mit erlesener Freundlichkeit und einem Erstaunen, das hörbar gespielt war. »Warum sollte ich das tun? Einem Gast, dem wir unser bestes Zimmer überlassen haben. Ich würde dich nur gern etwas fragen, wenn es genehm ist. Darf ich?«
»Du sprichst! Du sprichst!«, kreischte der Ritter, während er verzweifelt am Gitter rüttelte.
»Ähm, ja. Natürlich.«
»Das kann nicht sein! Drachen sprechen nicht! Sie sprechen nicht! Niemals!« Die Stimme des weißen Ritters überschlug sich. Ben vermutete, dass Aiphyron ihn in diesem Moment mit entblößten Zähnen anlächelte, vielleicht auch eine kleine Flamme in der Kehle gurgelte. Sehen konnte er es nicht, der Käfig lag außerhalb des Feuerscheins, nur der Schwanz und die Hinterbeine des Drachen wurden von den Flammen angestrahlt.
»Hellwah, hilf«, jammerte Friedbart noch immer und immer wieder von Neuem, und er schluchzte, soweit das über die Entfernung zu verstehen war.
Ben erinnerte sich an seine eigene Angst, als er Aiphyron das erste Mal getroffen hatte. Dennoch spürte er Verachsung für die beiden in sich aufsteigen. Immerhin waren sie Ritter des Ordens, die sich einem Drachen angeblich im Kampf stellten. Wo war ihre viel besungene Tapferkeit? Oder kannten sie die nur, wenn sie von hinten aus einem Versteck brachen?
»Aber du hast doch eben selbst festgestellt, dass ich spreche«, führte Aiphyron mit ruhiger Stimme aus. »Wie kannst du da gleichzeitig behaupten, ich könnte es nicht? Widerspricht sich das nicht?«
»Samoth! Samoth spricht aus dir!« Der Schrei des Ritters ging in ein Japsen über. »Es sind die Worte des großen Täuschers, die ich vernehme. Ich werde ihnen nicht glauben. Nichts werde ich dir glauben.«
»Das musst du auch nicht, das verlangt keiner. Wichtig ist im Augenblick nur das Gegenteil, nämlich dass ich dir glaube.« Aiphyron ließ ein kurzes belustigtes Schnauben hören.
Friedbarts gemurmelte Bitten an Hellwah wurden immer leiser und verloren sich schließlich in der Nacht, wurden vom Plätschern des Bachs verschluckt.
»Ich sage nichts, ich sage gar nichts!«, rief der weiße Ritter, in dem plötzlich Trotz zu erwachen schien.
»Und wenn ich dich ganz lieb bitte?«, fragte Aiphyron mit so leiser Stimme, dass sie am Feuer kaum zu vernehmen war. Er kroch noch ein Stück auf den Käfig zu, so dass seine Schnauze nun die Gitterstäbe berührte.
Was er nun sagte, konnte Ben nicht mehr verstehen, auch die Antwort des Ritters nicht. Doch dass er antwortete, war zu hören; erst stockend, dann sprach er schneller und schneller, hechelte fast panisch von Satz zu Satz, von Aussage zu Aussage. Nur manche Worte drangen deutlich bis zum Lagerfeuer, die meisten lauteten nicht, nein, bitte, andere und schuld.
Am Feuer wurde kein Wort gesprochen. Alle lauschten stumm in die Nacht, in der Hoffnung, doch noch etwas zu verstehen. Immer wieder schielte Ben zu Nica, in deren versteinerten Mundwinkeln immer dann ein Lächeln zuckte, wenn sich die Stimme des Ritters voller Furcht erhob.
 
Nach einer langen Weile kam Aiphyron zu ihnen herüber. »Er hat keine Ahnung, wo der Ketzer ist. Er vermutet, dass er in die Berge geflohen ist, denn dort gibt es zahlreiche Verstecke. Dorthin flieht jeder, der nichts zu verlieren hat, sagt er, denn die Berge sind gefährlich, nur die wenigsten Verfolger wagen sich dort weit hinein. Unter den Bergen hausen kleine, grünhäutige und kahlköpfige Gnome, die sich am Tag ihrer Mann- oder Frauwerdung selbst furchtbare Zähne aus Granit hauen und sie sich statt der kindlichen Eckzähne einsetzen. In den schwärzesten Nächten kommen sie aus ihren Höhlen gekrochen und fressen Menschen im Schlaf, denen sie zugleich mit einem bösen Zauber so tiefe Träume schenken, dass sie nicht erwachen. Diese Träume abzuschütteln, gelingt nur den wenigsten, und nicht selten ist bis dahin schon ein halbes Bein gegessen oder ein Arm. In schlimmen Fällen erwacht der Wanderer mit einem tatsächlichen Loch im Bauch oder nur einem halben Kopf auf den Schultern.«
»Ein halber Kopf, pah! Das ist doch Unsinn!«, motzte Nica.
Yanko lachte, doch es war nicht klar, worüber.
»Natürlich ist das Unsinn«, fuhr Aiphyron fort. »Doch irgendwer glaubt es, und vielleicht gibt es dort tatsächlich irgendwelche Gnome, die nicht sonderlich freundlich sind. Tatsache bleibt, dass die Berge jenseits der ersten Kette gemieden werden. Aber nicht vom tapferen Orden, wie mir der Ritter versicherte. Zwei Tage lang hat dort ein halbes Dutzend Ritter vergeblich nach irgendwelchen Spuren Norkhams gesucht, bevor sie wieder nach Vierzinnen zurückkehrten, um weitere Ketzer zu befragen. Doch die meisten hatten ihrem Glauben bereits abgeschworen, und neue Glaubensbrüder konnte man ja schlecht in einen Kerker werfen oder gar foltern, und so erhielten sie nur bedauerndes Schulterzucken zur Antwort.
Übrigens heißt der Kerl Zendhen, ich habe ihn gefragt. Auch was sie mit dem Drachen gemacht haben, kann er nicht mit Sicherheit sagen. Er weiß nur, dass dieser von vier Rittern aus der Stadt geschafft wurde. Entweder zum Hohen Abt Morlan in sein befestigtes Wehrkloster an einem Fluss namens Firnh, oder er wurde dem Fürsten dieses Landstrichs hier zum Geschenk gemacht, um ihn zu überzeugen, ein wenig härter gegen Ketzer vorzugehen. Den Namen konnte ich mir aber einfach nicht merken. Wie auch immer, am wahrscheinlichsten schien es ihm, dass er nach Chybhia geschafft wurde, wo jeden vierten Spätsommer sportliche Wettkämpfe zu Hellwahs Ehren stattfinden sollen. Sie scheinen unter Menschen wohl recht bekannt zu sein, denn er war sich sicher, dass ihr davon gehört habt. Habt ihr?«
Alle drei nickten.
»Die chybhischen Spiele. Jeder kennt die«, murmelte Yanko mit leuchtenden Augen, und Ben erinnerte sich daran, dass er früher davon geträumt hatte, für Trollfurt dort anzutreten. In welcher Disziplin, war ihm egal gewesen, Yanko war es um den Ruhm gegangen. Seit mehr als einem Jahrhundert hatte es keinen Sieger aus Trollfurt gegeben, und seit die Mine vor gut zehn Jahren aufgegeben worden war, nicht einmal einen Teilnehmer. Ben hatte zwar immer zuallererst Ritter werden wollen, aber natürlich hätte auch er gern an den Spielen teilgenommen. Jeder Junge, der etwas auf sich hielt, hätte das.
Sie wurden alle vier Jahre veranstaltet, und die größten Städte des Großtirdischen Reichs sowie hochrangige Adlige und bedeutende Händler sandten ihre Vertreter, um im Faustkampf, Lauf, Wagenrennen, Dichterwettstreit, Weitsprung, Bogenschießen, Ringball oder der Jagd im Reinen Bach anzutreten. Mancher Fürst und Kaufmannssohn hatte sich sogar selbst mit den anderen gemessen. Jeder Sieger stand fortan unter dem Segen Hellwahs und wurde mit Geschenken überhäuft. Sein Name wurde im Ewigen Fels eingemeißelt, und er hatte das Recht erwirkt, in jedem Tempel und Kloster Hellwahs zu nächtigen und zu speisen. In der Heimat war man fortan ein Held.
»Dem Sieger von irgend so einer Bachjagd wird zu allen anderen Ehren der Titel eines Drachenreiters verliehen, hat er gesagt«, fuhr Aiphyron fort. »Auch wenn mir diese ganze Geschichte ausgesprochen seltsam erscheint, ist es wohl so, dass die beiden Ritter, die den Drachen für die Siegerzeremonie fangen sollten, noch nicht erfolgreich waren. Zufällig reisten sie vor ein paar Tagen durch Vierzinnen, klagten dort ihre Sorgen und fragten die anwesenden Ritter, ob sie vielleicht von einem geflügelten Drachen gehört hätten. Der Einzige, den sie bisher befreit hätten, habe die Größe einer fetten Katze und sei entsprechend nicht im Geringsten zum Reiten geeignet. Ihnen den frisch erbeuteten Drachen des geflohenen Ketzers zu überlassen, sei wohl Herrn Arthens Vorschlag gewesen, kurz nachdem diese wieder aufgebrochen waren, und dieser Herr setzte sich offenbar meistens durch. Ordensbrüder seien schließlich verpflichtet, einander zu helfen, habe er gesagt, zumal ein Turnier ohne Siegerdrachen ein Schandfleck auf der ruhmreichen Geschichte des Drachenordens sei. Ruhmreich hat selbstverständlich Zendhen gesagt, oder dieser Arthen, nicht ich. Wie auch immer, unser Gefangener hat nicht mitbekommen, ob die Ritter tatsächlich den erfolglosen Jägern nachgeeilt sind, den verstümmelten Drachen als Geschenk im Gepäck, oder wohin sie sonst mit ihm aufgebrochen sind.«
Einen ausgedehnten Augenblick lang herrschte Stille, nur das leise Plätschern des Bachs war zu vernehmen, das ferne Rauschen eines Wasserfalls und das knisternde Lagerfeuer. Ganz nahe am Ufer schlug ein auftauchender Fisch, der nach einem Insekt auf der Wasseroberfläche schnappte, leise Wellen.
Nica packte das Messer, mit dem sie eben noch gegessen hatte, wischte es an der Hose ab und erhob sich. »Gut. Das sind ein paar Antworten, aber es sind nicht genug. Jetzt gehe ich hinüber und stelle ihm noch ein paar Fragen zum Hohen Norkham. Dieser verfluchte Zendhen soll lernen, dass er mich ebenso fürchten muss wie einen geflügelten Drachen.«
»Nica. Meinst du nicht, dass wir genug erfahren haben?«, sagte Ben und stand ebenfalls auf. Ihm gefiel Nicas Gesichtsausdruck nicht, der gar kein Ausdruck war, sondern eine leblose Maske. In diesem Moment traute er ihr alles zu. Rötlich funkelte die Klinge im Schein der Flammen.
»Genug? Nichts ist genug. Mit diesen läppischen Antworten finden wir vielleicht den Drachen, aber sicher nicht mehr.«
»Aber das ist doch das, was wir wollen. Wir wollten immer den Drachen.«
»Den Drachen und Norkham.« Den Namen des Ketzers spuckte sie aus. »Das haben wir geschworen. Und wenn sie jetzt getrennt wurden, müssen wir trotzdem beide finden. Beide!«
»Dann lass uns mit dem Drachen anfangen.«
»Warum? Auch wenn dir der Drache wichtiger ist, ich will den ach so Hohen Norkham zuerst winseln sehen. Verstehst du das?« Herausfordernd schob sie das Kinn vor.
»He, ihr zwei«, sagte in diesem Moment Yanko und trat zwischen sie. Er legte jedem einen Arm um die Schulter. »Hört auf zu streiten. Je mehr wir wissen, umso besser, das wird auch Ben zugeben. Doch ich glaube nicht, dass wir dazu das Messer brauchen. Was suchen wir?«
»Antworten«, brummte Nica.
»Einen Drachen und einen Ketzer«, sagte Ben im selben Moment.
»Alles richtig. Aber betrachtet es mal anders: Was wir von den beiden Rittern erfahren wollen, ist die Wahrheit. Mehr können sie uns nicht sagen. Hauptsache, sie verschweigen uns nichts.« Lächelnd schob er die Hand in die Hosentasche und zog einen kleinen Beutel hervor. »Und die Wahrheit erfahren wir mit Pilzen.«
»Aber das sind heilige Seherpilze. Die sind nicht für Gefangene!«, protestierte Nica. Die Hand mit dem Messer hing unentschlossen herab, während Ben seinen Freund zweifelnd anstarrte, überrascht von dem Vorschlag. Dass man jemanden auf diese Weise zum Sprechen brachte, davon hatte er noch nie gehört. Glaubte Yanko wirklich an die Wirkung der Pilze, oder wollte er nur Nica bremsen?
»Wer sagt das?«, fragte Yanko.
»Das macht eben niemand«, beharrte Nica, die sich wohl Ähnliches fragte wie Ben. »Niemand hat so einen Unsinn je versucht.«
»Dann wird es Zeit, dass es jemand tut.« Noch immer lächelte Yanko. »Man muss schließlich nicht immer alles so machen wie alle, oder?«
»Nein.« Kurz zuckte es um Nicas Mundwinkel, dann hellte sich ihr Gesicht mit einem Mal auf. »Aber du hast Recht, das könnte wirklich klappen. Lass es uns bei einem ausprobieren.«
Ben nickte, obwohl er nicht überzeugt war. Weder von der Wirkung der Pilze noch davon, dass die Ritter überhaupt etwas wussten. Sonst hätten sie den Ketzer doch sicher längst selbst gefangen. Doch Yanko hatte in einem Recht: Man musste etwas ausprobieren, bevor man wirklich wusste, ob es funktionierte.
»Wir nehmen den dämlichen Friedbart«, bestimmte Nica und entzündete eine Fackel im Feuer, damit sie beim Käfig auch ausreichend Licht hatten. »Wenn er redet, können wir auch Zendhen einen Pilz geben. Wenn nicht, bleibt uns noch immer das Messer.«
Doch sie griffen schon früher zum Messer, denn Friedbart weigerte sich vehement, eine halbe Pilzkappe zu schlucken. Er schrie und jammerte, sie wollten ihn vergiften und töten. Erst versuchten sie es mit Beschwichtigungen und Vernunft, doch das half nichts. Dann drohten sie ihm mit der Klinge, doch auch das brachte sie nicht weiter.
»Bitte nicht, bitte nicht. In Hellwahs Namen, lasst mich leben«, flehte Friedbart auf Knien. Dann presste er wieder die Lippen aufeinander, als hätte er Angst, sie würden ihm den Pilz einfach in den geöffneten Mund werfen.
Zendhen saß derweil schweigend, reglos und mit gesenktem Kopf in einer Ecke des Käfigs und versuchte, nicht die geringste Aufmerksamkeit zu erregen. Immer wieder linste er zu ihnen herüber, doch sagte er nichts und rührte sich nicht.
»Der Pilz ist harmlos, wie oft denn noch?«, schrie Yanko schließlich, biss ein Stück von der Pilzkappe ab, kaute es langsam und schluckte es schließlich mit vorgerecktem Hals deutlich erkennbar herunter. Dann riss er den Mund auf, streckte die Zunge heraus und zeigte dem Ritter seine leere Mundhöhle. »Siehst du? Harmlos! Du feiger, winselnder Kniekriecher!«
»Harmlos?«
»Harmlos und lecker. Also lang zu!« Yanko warf die angebissene Pilzkappe in den Käfig.
Zögernd hob Friedbart sie auf und drehte sie in den Händen. Mit einem ängstlichen Blick auf Nica, die noch immer das Messer fest umklammerte, schob er ihn sich zwischen die Lippen. Er kaute kaum, sondern schluckte den Pilz mit zusammengepressten Augen im Ganzen herunter. Dann murmelte er: »Hellwah, hilf.«
»Und? Schmeckt’s?«, fragte Yanko freundlich.
»Ähm, ja«, antwortete Friedbart und öffnete die Augen. Er strich sich prüfend mit der flachen Hand über den Bauch, drückte mal hier, mal da, als erwarte er jeden Augenblick einsetzende Schmerzen. Doch als diese ausblieben, fiel ihm offenbar ein, dass er Hunger hatte, obwohl er vor nicht allzu langer Zeit gegessen hatte. »Könnte ich noch mehr haben?«
»Später vielleicht«, sagte Yanko, und dann warteten sie darauf, dass die Wirkung des Pilzes einsetzte.
»Ich weiß nicht, wo dieser Ketzer ist«, verriet ihnen Herr Friedbart nach einer Weile mit glänzenden Augen. Auf allen vieren kam er an das Gitter gekrochen wie ein zutrauliches Tier, das gestreichelt werden wollte.
Ben verschränkte die Hände hinter dem Rücken, um ja nicht in Versuchung zu kommen, ihm über das Haar zu streichen. Alle Angst schien den Ritter verlassen zu haben. »Tagelang haben wir ganz Vierzinnen auf den Kopf gestellt, doch es half nichts; er blieb spurlos verschwunden. Niemand sprach mit uns, und seine Füße hatten im Fels keine Abdrücke hinterlassen. Aber heute, heute könnte ich seine Fährte riechen. Ich könnte den Nachhall seiner Schritte hören, so klar sind meine Ohren jetzt, ja, ich könnte seine unsichtbaren Abdrücke sogar schmecken.« Unvermittelt leckte Friedbart mit der Zunge über die groben Dielen des Käfigbodens, auf dem noch immer Fruchtreste klebten. Dann sah er sie sabbernd wie ein Hund an. »Hier war er sicher nicht.«
»Was machen die Pilze mit ihm?«, raunte Ben, der nicht wusste, ob er angewidert sein sollte oder lachen.
»Ich weiß nicht«, flüsterte Yanko. »Vielleicht kommt ihre Wahrheit derjenigen in die Quere, die im Wein stecken soll. Er hat ja auch getrunken.«
»Uns interessiert nicht, was du nicht weißt«, sagte Nica, während sie Friedbart streng musterte. »Sag uns, was du siehst.«
»Was ich sehe?« Friedbart hechelte Nica an, umschloss zwei Gitterstäbe mit den Händen und reckte ihr sein Gesicht so weit wie möglich entgegen.
»Ja. Vertraue dem Pilz. Was hat Herr Arthen vermutet, was meinst du, wo steckt Norkham? Denk nicht nach, lass einfach die Bilder in deinen Kopf«, befahl Nica. »Und mach Sitz.«
»Ich sehe ihn! Ich sehe ihn!« Gehorsam setzte sich Friedbart und strahlte Nica an. »Einsam und verlassen rennt er durch einen dichten Wald und ernährt sich von fingergroßen, grünhäutigen Gnomen, die er von Sträuchern mit flüsternden Blättern und großen blutigen Dornen pflückt. In einen schwarzen Kapuzenmantel gehüllt, flieht er vor Ordensrittern in strahlenden Rüstungen. Oder folgt er ihnen? Ich weiß es nicht, sie rennen wohl im Kreis. Auf den Bäumen sitzen bunte Vögel mit den Gesichtern schöner Frauen und singen durcheinander. Eine behauptet, ein verzauberter Drache zu sein und will geküsst werden, und dann springt sie von ihrem Ast, der plötzlich vertrocknet ist, direkt in einen Fluss aus goldenem Honig und lässt sich davontreiben, und Norkham schwimmt ihr nach, und die Ritter werfen sich auf ihre Schilde und in den Fluss und staksen mit langen Schwertern hinterher, über zahllose Honigfälle unter einem leuchtenden Sternenhimmel, und jeder Stern ist das glitzernde Auge einer haarigen Spinne, und ihre ineinander verflochtenen Beine sind die Schwärze der Nacht, die jeden Morgen von Hellwahs Feuer verbrannt wird, und der Honig fließt durch ein riesiges Fischernetz, das von einem schrecklichen Giganten gehalten wird. Er besteht aus Tausenden ineinander verkeilter, lachender Kinder. Fängt ein Kind an zu weinen, wird es in den Honigfluss gestoßen und treibt hinaus auf ein endloses bernsteinfarbenes Meer, in dem der Honig zu riesigen glitzernden Wellen erstarrt. Über das Meer fegen Wirbelstürme aus dem vielstimmigen schrillen Lachen des Kindergiganten hinweg, doch sonst weht kein Wind. Gar keiner!«
Der Ritter hatte zum Schluss hin immer schneller gesprochen und atmete jetzt schwer, als wäre er weit gerannt. Seine glasigen Augen waren auf Nica geheftet, als erwarte er Lob. Oder einen Knochen.
»Das war’s?«, fragte sie.
Er nickte.
»Hast du mir sonst noch etwas mitzuteilen?«
»Ich habe schon zahlreiche Jungfrauen gerettet und unzählige versklavte Drachen befreit, selbst einen mit sieben Flügeln, gegen den kämpfte ich sogar mit brennendem Fieber und einer knapp über dem Heft abgebrochenen Klinge. Ich bin ein vielbesungener Held, doch leider ging mir kürzlich meine Jungfrau abhanden. Wollt Ihr ihren Platz einnehmen und mein schöner Köder für die von Samoth versklavten Geschöpfe sein?«
»Nein.« Nica verzog das Gesicht und befahl: »Leg dich einfach hin und sei ruhig.«
Der Ritter gehorchte hechelnd.
»Das soll die Wahrheit sein?«, fragte Ben. »Dass er ein Hund ist, der von Honigflüssen träumt?«
»Einen Versuch war es wert«, brummte Yanko.
»Ich denke, er hat zumindest zu Beginn die Wahrheit gesagt«, vermutete Ben. »Der Orden hat keine Ahnung, wohin Norkham geflohen ist.«
»Das kann sein, muss aber nicht stimmen. Zur Sicherheit werde ich mir Herrn Zendhen doch noch vornehmen.« Nica zog das Messer wieder hervor.
»Was willst du tun? Ihn foltern, ihm die Finger abscheiden?«, fragte Ben. »Die Nase? Die Ohren?«
»Ja, wenn er sonst nicht redet? Was bleibt uns dann übrig? Wir müssen Norkham finden, das haben wir hoch und heilig geschworen!«
»Dabei war nie die Rede davon, andere zu quälen.«
»Meinst du vielleicht, mir bereitet das Vergnügen?«, blaffte sie ihn an.
Genau das fragte sich Ben, seit sie am Feuer nach dem Messer gegriffen hatte. Er war nicht sicher, ob es ihr wirklich um Antworten ging oder darum, Rache zu nehmen. Für die Zeit im Käfig und vor allem für das, was er ihr angedroht hatte. Sein Wunsch, ihr das Kleid anzuziehen, war kein sehr fürsorglicher gewesen. Stumm schüttelte Ben den Kopf.
»Was dann? Hast du etwa Mitleid mit dem Wurm?«
»Nein, aber...« Mehr wusste Ben nicht zu sagen. Noch vor kurzem hatte er selbst Margulv Schmerzen zufügen wollen, und säße Herr Arthen dort drüben im Käfig, würde er ihm mit dem größten Vergnügen so viel Angst einjagen, bis er sich in die Hosen machte. Er würde ihn mit Steinen und Dreck bewerfen, bis auch dessen ganzer Körper mit schmerzhaften Blutergüssen und Platzwunden übersät war, und er würde sich darüber ärgern, dass Dreck weder schimmelte noch stank wie verfaulte Früchte. Für das, was dieser weiße Ritter Nica hatte antun wollen, verdiente er fraglos Schmerzen. Trotzdem wollte Ben nicht sehen, wie sie ihre Wut an ihm ausließ, wollte es auch nicht hören. Im Käfig war der Ritter wehrlos, das erschien ihm falsch. Aber war es richtig, den Kerl ungestraft zu lassen?
»Was, aber?«, herrschte sie ihn an.
»Nichts«, sagte er. »Aber du weißt selbst, dass es nichts bringt. Ich sehe mir das nicht an.«
»Zwingt dich ja keiner!«
»He, Ben, komm schon, du weißt, wir müssen noch mehr erfahren, wenn wir Norkham finden wollen. Es muss sein. Wenn es um den Drachen ging, wärst du jetzt auch nicht dagegen.«
»Doch«, behauptete Ben mit leisem Trotz. Er wusste nicht, was er in dem Fall denken würde. Wie sollte man das auch wissen? Das waren nur Gedankenspiele, und er war zu müde und durcheinander.
»Es ist wichtig, dass du bleibst«, beschwor ihn Yanko. »Bitte.«
»Lass ihn doch gehen, wenn er kein Blut sehen kann«, sagte Nica bissig. »Alles muss sich um seinen Drachen drehen. Was ist mit meiner Rache? Er hat es geschworen!«
»Aber das nicht!« Ben deutete auf das Messer in Nicas Hand. »Das habe ich nicht geschworen!«
»Dann denk daran, was die oben in Vierzinnen getan haben! Denk an die Galgen vor der Stadt!«
»Daran will ich aber nicht denken!«, fauchte Ben und wandte sich ab – nicht ohne einen letzten Blick auf Herrn Zendhen zu werfen, der zusammengekrümmt im Käfig saß und voller Furcht zu ihnen herüberstarrte. Hilflos hob er die Hand ein Stück und bewegte lautlos die Lippen. Ben schien es, als würde er ihm ein Bitte zumurmeln, als würde er hof fen, Ben ließe ihn nicht mit den anderen beiden allein. Doch Ben schüttelte den Kopf und stapfte davon, zu aufgewühlt und zornig, um zu wissen, was er wirklich empfand. Mitleid mit diesem Ritter war es jedenfalls nicht.
Ben stapfte an den Drachen vorbei, immer weiter hinauf in die Klamm.
»Wann sollen wir dich suchen kommen?«, rief ihm Juri scherzhaft hinterher, doch Ben antwortete nicht. Er wollte einfach nur allein sein.