ZU VIELE FÄHRTEN
Der fahle Mond stand hoch über der Klamm.
Ben, Yanko und Nica saßen an einem kleinen Feuer und lauschten
Juris ausführlichem Bericht.
Sie hatten sich die Bäuche vollgeschlagen und
gierig wie Tiere aus dem Bach getrunken. Ausgelassen hatte Yanko
den ganzen Kopf in das kühle Wasser gesteckt und sich den Mund
volllaufen lassen. Immer wieder hatten sie lachend die Drachen
gefeiert, und Juri hatte ihnen weitschweifig versichert, er und
Aiphyron seien sehr wohl auf den Gedanken gekommen, dass Ben mit
»es kann dauern« doch seinen menschlichen Maßstab gemeint hatte und
nicht den eines Drachen. Nach Sonnenuntergang hatten sie die Stadt
abgesucht und die Gehenkten vor dem Tor bemerkt.
»Das gefiel uns nicht«, sagte er. »Wir machten uns
Sorgen, auch wenn wir natürlich erkannten, dass die Toten schon
länger tot waren. Dennoch schien es keine freundliche Stadt zu
sein. Feuerschuppe wollte sofort einen Passanten aus einer einsamen
Gasse pflücken und ihn höflich befragen, ob er euch gesehen habe.
Einen angetrunkenen jungen Mann, der die Begegnung morgen bestimmt
auf den Alkohol schieben würde, und wenn nicht, würden es zumindest
die tun, denen er davon berichtete. Doch wir hielten ihn davon ab.
Wir hatten nicht den geringsten Hinweis darauf, dass euch wirklich
etwas geschehen war, und ihr wart allein gegangen, um nicht mit
Drachen in Verbindung gebracht zu werden. Da wollten wir diese
Verbindung nicht allzu deutlich selbst
herstellen, nicht dass es euch gutginge und euch genau das erst in
Schwierigkeiten brachte. Denn wer konnte schon mit Sicherheit davon
ausgehen, dass wirklich niemand einem willkürlich entführten
Passanten Glauben schenken würde? Und wer wusste schon, wie viele
Leute wir überhaupt aus den Straßen fischen mussten, bevor wir
jemanden erwischten, der euch getroffen hatte? Also beschlossen
wir, erst einmal in Ruhe über der Stadt zu kreisen, bis wir euch
entdecken würden. Abwechselnd hat sich dabei immer einer von uns
gelöst und umflog die Stadt in größerer Entfernung, einfach um sich
mit allem vertraut zu machen, um zu sehen, ob dort nicht vielleicht
ein einsames Anwesen zu finden war oder was auch immer. Schließlich
gab es ja die Möglichkeit, dass dieser Norkham gar nicht in
Vierzinnen wohnte, sondern vielleicht nur bei der Stadt. Während
ihr also die Stadt selbst auskundschaftet, könnten wir uns ja ein
wenig um das Umland kümmern, das fiel uns leichter als euch. Und
dabei entdeckte Aiphyron dann zufällig das Feuer.«
Noch einmal dankten die drei den Drachen, dann
überlegten sie, was nun zu tun sei. Nica drängte es danach, die
beiden Ritter nach dem geflohenen Norkham und seinem Drachen zu
befragen, doch Aiphyron schlug vor, sich die Angst der Ritter vor
einem geflügelten Drachen zunutze zu machen und ihm die
Angelegenheit zu überlassen. Ihm allein, damit der Ritter keine
menschlichen Gestalten vor sich hatte, die ihm vertraut waren und
nicht so furchteinflößend. Sie sollten keinen Menschen haben, an
den sie sich voller Hoffnung wenden konnten.
Nur murrend willigte Nica ein, ihr war deutlich
anzusehen, dass sie den Ritter liebend gern selbst in Angst
versetzt hätte.
Während der Drache zum Käfig hinüberkroch, blieben
die
anderen schweigend auf ihren Steinen am Bachufer sitzen. Es
dauerte nur einen Augenblick, dann wurde das Plätschern des Wassers
von einem schrillen Flehen übertönt.
»Friss mich nicht! Bitte, friss mich nicht!«,
hörten sie den weißen Ritter jammern, während Friedbart immer
lauter brabbelte: »Hellwah hilf! O Hellwah, sende uns dein
strahlendes Licht und erlöse uns von der Dunkelheit. Hilf, Hellwah,
hilf deinem armen Knecht, der auf Knien vor dir liegt.«
Im flackernden Feuerschein zeigte sich ein dünnes,
eisiges Lächeln auf Nicas Lippen. Ben sah, wie sie angespannt die
Finger verknotete, wieder löste und wieder verknotete. Mit dem
linken Daumennagel schrabbte sie so heftig über die Finger der
rechten Hand, dass er sich wunderte, dass kein Blut floss.
»Kleiner Mann, ich will dich doch nicht fressen«,
brummte Aiphyron mit erlesener Freundlichkeit und einem Erstaunen,
das hörbar gespielt war. »Warum sollte ich das tun? Einem Gast, dem
wir unser bestes Zimmer überlassen haben. Ich würde dich nur gern
etwas fragen, wenn es genehm ist. Darf ich?«
»Du sprichst! Du sprichst!«, kreischte der Ritter,
während er verzweifelt am Gitter rüttelte.
»Ähm, ja. Natürlich.«
»Das kann nicht sein! Drachen sprechen nicht! Sie
sprechen nicht! Niemals!« Die Stimme des weißen Ritters überschlug
sich. Ben vermutete, dass Aiphyron ihn in diesem Moment mit
entblößten Zähnen anlächelte, vielleicht auch eine kleine Flamme in
der Kehle gurgelte. Sehen konnte er es nicht, der Käfig lag
außerhalb des Feuerscheins, nur der Schwanz und die Hinterbeine des
Drachen wurden von den Flammen angestrahlt.
»Hellwah, hilf«, jammerte Friedbart noch immer und
immer wieder von Neuem, und er schluchzte, soweit das über die
Entfernung zu verstehen war.
Ben erinnerte sich an seine eigene Angst, als er
Aiphyron das erste Mal getroffen hatte. Dennoch spürte er
Verachsung für die beiden in sich aufsteigen. Immerhin waren sie
Ritter des Ordens, die sich einem Drachen angeblich im Kampf
stellten. Wo war ihre viel besungene Tapferkeit? Oder kannten sie
die nur, wenn sie von hinten aus einem Versteck brachen?
»Aber du hast doch eben selbst festgestellt, dass
ich spreche«, führte Aiphyron mit ruhiger Stimme aus. »Wie kannst
du da gleichzeitig behaupten, ich könnte es nicht? Widerspricht
sich das nicht?«
»Samoth! Samoth spricht aus dir!« Der Schrei des
Ritters ging in ein Japsen über. »Es sind die Worte des großen
Täuschers, die ich vernehme. Ich werde ihnen nicht glauben. Nichts
werde ich dir glauben.«
»Das musst du auch nicht, das verlangt keiner.
Wichtig ist im Augenblick nur das Gegenteil, nämlich dass ich dir
glaube.« Aiphyron ließ ein kurzes belustigtes Schnauben
hören.
Friedbarts gemurmelte Bitten an Hellwah wurden
immer leiser und verloren sich schließlich in der Nacht, wurden vom
Plätschern des Bachs verschluckt.
»Ich sage nichts, ich sage gar nichts!«, rief der
weiße Ritter, in dem plötzlich Trotz zu erwachen schien.
»Und wenn ich dich ganz lieb bitte?«, fragte
Aiphyron mit so leiser Stimme, dass sie am Feuer kaum zu vernehmen
war. Er kroch noch ein Stück auf den Käfig zu, so dass seine
Schnauze nun die Gitterstäbe berührte.
Was er nun sagte, konnte Ben nicht mehr verstehen,
auch
die Antwort des Ritters nicht. Doch dass er antwortete, war zu
hören; erst stockend, dann sprach er schneller und schneller,
hechelte fast panisch von Satz zu Satz, von Aussage zu Aussage. Nur
manche Worte drangen deutlich bis zum Lagerfeuer, die meisten
lauteten nicht, nein, bitte, andere und schuld.
Am Feuer wurde kein Wort gesprochen. Alle lauschten
stumm in die Nacht, in der Hoffnung, doch noch etwas zu verstehen.
Immer wieder schielte Ben zu Nica, in deren versteinerten
Mundwinkeln immer dann ein Lächeln zuckte, wenn sich die Stimme des
Ritters voller Furcht erhob.
Nach einer langen Weile kam Aiphyron zu ihnen
herüber. »Er hat keine Ahnung, wo der Ketzer ist. Er vermutet, dass
er in die Berge geflohen ist, denn dort gibt es zahlreiche
Verstecke. Dorthin flieht jeder, der nichts zu verlieren hat, sagt
er, denn die Berge sind gefährlich, nur die wenigsten Verfolger
wagen sich dort weit hinein. Unter den Bergen hausen kleine,
grünhäutige und kahlköpfige Gnome, die sich am Tag ihrer Mann- oder
Frauwerdung selbst furchtbare Zähne aus Granit hauen und sie sich
statt der kindlichen Eckzähne einsetzen. In den schwärzesten
Nächten kommen sie aus ihren Höhlen gekrochen und fressen Menschen
im Schlaf, denen sie zugleich mit einem bösen Zauber so tiefe
Träume schenken, dass sie nicht erwachen. Diese Träume
abzuschütteln, gelingt nur den wenigsten, und nicht selten ist bis
dahin schon ein halbes Bein gegessen oder ein Arm. In schlimmen
Fällen erwacht der Wanderer mit einem tatsächlichen Loch im Bauch
oder nur einem halben Kopf auf den Schultern.«
»Ein halber Kopf, pah! Das ist doch Unsinn!«,
motzte Nica.
Yanko lachte, doch es war nicht klar,
worüber.
»Natürlich ist das Unsinn«, fuhr Aiphyron fort.
»Doch irgendwer
glaubt es, und vielleicht gibt es dort tatsächlich irgendwelche
Gnome, die nicht sonderlich freundlich sind. Tatsache bleibt, dass
die Berge jenseits der ersten Kette gemieden werden. Aber nicht vom
tapferen Orden, wie mir der Ritter versicherte. Zwei Tage lang hat
dort ein halbes Dutzend Ritter vergeblich nach irgendwelchen Spuren
Norkhams gesucht, bevor sie wieder nach Vierzinnen zurückkehrten,
um weitere Ketzer zu befragen. Doch die meisten hatten ihrem
Glauben bereits abgeschworen, und neue Glaubensbrüder konnte man ja
schlecht in einen Kerker werfen oder gar foltern, und so erhielten
sie nur bedauerndes Schulterzucken zur Antwort.
Übrigens heißt der Kerl Zendhen, ich habe ihn
gefragt. Auch was sie mit dem Drachen gemacht haben, kann er nicht
mit Sicherheit sagen. Er weiß nur, dass dieser von vier Rittern aus
der Stadt geschafft wurde. Entweder zum Hohen Abt Morlan in sein
befestigtes Wehrkloster an einem Fluss namens Firnh, oder er wurde
dem Fürsten dieses Landstrichs hier zum Geschenk gemacht, um ihn zu
überzeugen, ein wenig härter gegen Ketzer vorzugehen. Den Namen
konnte ich mir aber einfach nicht merken. Wie auch immer, am
wahrscheinlichsten schien es ihm, dass er nach Chybhia geschafft
wurde, wo jeden vierten Spätsommer sportliche Wettkämpfe zu
Hellwahs Ehren stattfinden sollen. Sie scheinen unter Menschen wohl
recht bekannt zu sein, denn er war sich sicher, dass ihr davon
gehört habt. Habt ihr?«
Alle drei nickten.
»Die chybhischen Spiele. Jeder kennt die«, murmelte
Yanko mit leuchtenden Augen, und Ben erinnerte sich daran, dass er
früher davon geträumt hatte, für Trollfurt dort anzutreten. In
welcher Disziplin, war ihm egal gewesen, Yanko
war es um den Ruhm gegangen. Seit mehr als einem Jahrhundert hatte
es keinen Sieger aus Trollfurt gegeben, und seit die Mine vor gut
zehn Jahren aufgegeben worden war, nicht einmal einen Teilnehmer.
Ben hatte zwar immer zuallererst Ritter werden wollen, aber
natürlich hätte auch er gern an den Spielen teilgenommen. Jeder
Junge, der etwas auf sich hielt, hätte das.
Sie wurden alle vier Jahre veranstaltet, und die
größten Städte des Großtirdischen Reichs sowie hochrangige Adlige
und bedeutende Händler sandten ihre Vertreter, um im Faustkampf,
Lauf, Wagenrennen, Dichterwettstreit, Weitsprung, Bogenschießen,
Ringball oder der Jagd im Reinen Bach anzutreten. Mancher Fürst und
Kaufmannssohn hatte sich sogar selbst mit den anderen gemessen.
Jeder Sieger stand fortan unter dem Segen Hellwahs und wurde mit
Geschenken überhäuft. Sein Name wurde im Ewigen Fels eingemeißelt,
und er hatte das Recht erwirkt, in jedem Tempel und Kloster
Hellwahs zu nächtigen und zu speisen. In der Heimat war man fortan
ein Held.
»Dem Sieger von irgend so einer Bachjagd wird zu
allen anderen Ehren der Titel eines Drachenreiters verliehen, hat
er gesagt«, fuhr Aiphyron fort. »Auch wenn mir diese ganze
Geschichte ausgesprochen seltsam erscheint, ist es wohl so, dass
die beiden Ritter, die den Drachen für die Siegerzeremonie fangen
sollten, noch nicht erfolgreich waren. Zufällig reisten sie vor ein
paar Tagen durch Vierzinnen, klagten dort ihre Sorgen und fragten
die anwesenden Ritter, ob sie vielleicht von einem geflügelten
Drachen gehört hätten. Der Einzige, den sie bisher befreit hätten,
habe die Größe einer fetten Katze und sei entsprechend nicht im
Geringsten zum Reiten geeignet. Ihnen den frisch erbeuteten Drachen
des
geflohenen Ketzers zu überlassen, sei wohl Herrn Arthens Vorschlag
gewesen, kurz nachdem diese wieder aufgebrochen waren, und dieser
Herr setzte sich offenbar meistens durch. Ordensbrüder seien
schließlich verpflichtet, einander zu helfen, habe er gesagt, zumal
ein Turnier ohne Siegerdrachen ein Schandfleck auf der ruhmreichen
Geschichte des Drachenordens sei. Ruhmreich hat
selbstverständlich Zendhen gesagt, oder dieser Arthen, nicht ich.
Wie auch immer, unser Gefangener hat nicht mitbekommen, ob die
Ritter tatsächlich den erfolglosen Jägern nachgeeilt sind, den
verstümmelten Drachen als Geschenk im Gepäck, oder wohin sie sonst
mit ihm aufgebrochen sind.«
Einen ausgedehnten Augenblick lang herrschte
Stille, nur das leise Plätschern des Bachs war zu vernehmen, das
ferne Rauschen eines Wasserfalls und das knisternde Lagerfeuer.
Ganz nahe am Ufer schlug ein auftauchender Fisch, der nach einem
Insekt auf der Wasseroberfläche schnappte, leise Wellen.
Nica packte das Messer, mit dem sie eben noch
gegessen hatte, wischte es an der Hose ab und erhob sich. »Gut. Das
sind ein paar Antworten, aber es sind nicht genug. Jetzt gehe ich
hinüber und stelle ihm noch ein paar Fragen zum Hohen Norkham.
Dieser verfluchte Zendhen soll lernen, dass er mich ebenso fürchten
muss wie einen geflügelten Drachen.«
»Nica. Meinst du nicht, dass wir genug erfahren
haben?«, sagte Ben und stand ebenfalls auf. Ihm gefiel Nicas
Gesichtsausdruck nicht, der gar kein Ausdruck war, sondern eine
leblose Maske. In diesem Moment traute er ihr alles zu. Rötlich
funkelte die Klinge im Schein der Flammen.
»Genug? Nichts ist genug. Mit diesen läppischen
Antworten finden wir vielleicht den Drachen, aber sicher nicht
mehr.«
»Aber das ist doch das, was wir wollen. Wir wollten
immer den Drachen.«
»Den Drachen und Norkham.« Den Namen des Ketzers
spuckte sie aus. »Das haben wir geschworen. Und wenn sie jetzt
getrennt wurden, müssen wir trotzdem beide finden. Beide!«
»Dann lass uns mit dem Drachen anfangen.«
»Warum? Auch wenn dir der Drache wichtiger ist, ich
will den ach so Hohen Norkham zuerst winseln sehen. Verstehst du
das?« Herausfordernd schob sie das Kinn vor.
»He, ihr zwei«, sagte in diesem Moment Yanko und
trat zwischen sie. Er legte jedem einen Arm um die Schulter. »Hört
auf zu streiten. Je mehr wir wissen, umso besser, das wird auch Ben
zugeben. Doch ich glaube nicht, dass wir dazu das Messer brauchen.
Was suchen wir?«
»Antworten«, brummte Nica.
»Einen Drachen und einen Ketzer«, sagte Ben im
selben Moment.
»Alles richtig. Aber betrachtet es mal anders: Was
wir von den beiden Rittern erfahren wollen, ist die Wahrheit. Mehr
können sie uns nicht sagen. Hauptsache, sie verschweigen uns
nichts.« Lächelnd schob er die Hand in die Hosentasche und zog
einen kleinen Beutel hervor. »Und die Wahrheit erfahren wir mit
Pilzen.«
»Aber das sind heilige Seherpilze. Die sind nicht
für Gefangene!«, protestierte Nica. Die Hand mit dem Messer hing
unentschlossen herab, während Ben seinen Freund zweifelnd
anstarrte, überrascht von dem Vorschlag. Dass man jemanden auf
diese Weise zum Sprechen brachte, davon hatte er noch nie gehört.
Glaubte Yanko wirklich an die Wirkung der Pilze, oder wollte er nur
Nica bremsen?
»Wer sagt das?«, fragte Yanko.
»Das macht eben niemand«, beharrte Nica, die sich
wohl Ähnliches fragte wie Ben. »Niemand hat so einen Unsinn je
versucht.«
»Dann wird es Zeit, dass es jemand tut.« Noch immer
lächelte Yanko. »Man muss schließlich nicht immer alles so machen
wie alle, oder?«
»Nein.« Kurz zuckte es um Nicas Mundwinkel, dann
hellte sich ihr Gesicht mit einem Mal auf. »Aber du hast Recht, das
könnte wirklich klappen. Lass es uns bei einem ausprobieren.«
Ben nickte, obwohl er nicht überzeugt war. Weder
von der Wirkung der Pilze noch davon, dass die Ritter überhaupt
etwas wussten. Sonst hätten sie den Ketzer doch sicher längst
selbst gefangen. Doch Yanko hatte in einem Recht: Man musste etwas
ausprobieren, bevor man wirklich wusste, ob es funktionierte.
»Wir nehmen den dämlichen Friedbart«, bestimmte
Nica und entzündete eine Fackel im Feuer, damit sie beim Käfig auch
ausreichend Licht hatten. »Wenn er redet, können wir auch Zendhen
einen Pilz geben. Wenn nicht, bleibt uns noch immer das
Messer.«
Doch sie griffen schon früher zum Messer, denn
Friedbart weigerte sich vehement, eine halbe Pilzkappe zu
schlucken. Er schrie und jammerte, sie wollten ihn vergiften und
töten. Erst versuchten sie es mit Beschwichtigungen und Vernunft,
doch das half nichts. Dann drohten sie ihm mit der Klinge, doch
auch das brachte sie nicht weiter.
»Bitte nicht, bitte nicht. In Hellwahs Namen, lasst
mich leben«, flehte Friedbart auf Knien. Dann presste er wieder die
Lippen aufeinander, als hätte er Angst, sie würden ihm den Pilz
einfach in den geöffneten Mund werfen.
Zendhen saß derweil schweigend, reglos und mit
gesenktem Kopf in einer Ecke des Käfigs und versuchte, nicht die
geringste Aufmerksamkeit zu erregen. Immer wieder linste er zu
ihnen herüber, doch sagte er nichts und rührte sich nicht.
»Der Pilz ist harmlos, wie oft denn noch?«, schrie
Yanko schließlich, biss ein Stück von der Pilzkappe ab, kaute es
langsam und schluckte es schließlich mit vorgerecktem Hals deutlich
erkennbar herunter. Dann riss er den Mund auf, streckte die Zunge
heraus und zeigte dem Ritter seine leere Mundhöhle. »Siehst du?
Harmlos! Du feiger, winselnder Kniekriecher!«
»Harmlos?«
»Harmlos und lecker. Also lang zu!« Yanko warf die
angebissene Pilzkappe in den Käfig.
Zögernd hob Friedbart sie auf und drehte sie in den
Händen. Mit einem ängstlichen Blick auf Nica, die noch immer das
Messer fest umklammerte, schob er ihn sich zwischen die Lippen. Er
kaute kaum, sondern schluckte den Pilz mit zusammengepressten Augen
im Ganzen herunter. Dann murmelte er: »Hellwah, hilf.«
»Und? Schmeckt’s?«, fragte Yanko freundlich.
»Ähm, ja«, antwortete Friedbart und öffnete die
Augen. Er strich sich prüfend mit der flachen Hand über den Bauch,
drückte mal hier, mal da, als erwarte er jeden Augenblick
einsetzende Schmerzen. Doch als diese ausblieben, fiel ihm offenbar
ein, dass er Hunger hatte, obwohl er vor nicht allzu langer Zeit
gegessen hatte. »Könnte ich noch mehr haben?«
»Später vielleicht«, sagte Yanko, und dann warteten
sie darauf, dass die Wirkung des Pilzes einsetzte.
»Ich weiß nicht, wo dieser Ketzer ist«, verriet
ihnen Herr Friedbart nach einer Weile mit glänzenden Augen. Auf
allen vieren kam er an das Gitter gekrochen wie ein zutrauliches
Tier, das gestreichelt werden wollte.
Ben verschränkte die Hände hinter dem Rücken, um ja
nicht in Versuchung zu kommen, ihm über das Haar zu streichen. Alle
Angst schien den Ritter verlassen zu haben. »Tagelang haben wir
ganz Vierzinnen auf den Kopf gestellt, doch es half nichts; er
blieb spurlos verschwunden. Niemand sprach mit uns, und seine Füße
hatten im Fels keine Abdrücke hinterlassen. Aber heute, heute
könnte ich seine Fährte riechen. Ich könnte den Nachhall seiner
Schritte hören, so klar sind meine Ohren jetzt, ja, ich könnte
seine unsichtbaren Abdrücke sogar schmecken.« Unvermittelt leckte
Friedbart mit der Zunge über die groben Dielen des Käfigbodens, auf
dem noch immer Fruchtreste klebten. Dann sah er sie sabbernd wie
ein Hund an. »Hier war er sicher nicht.«
»Was machen die Pilze mit ihm?«, raunte Ben, der
nicht wusste, ob er angewidert sein sollte oder lachen.
»Ich weiß nicht«, flüsterte Yanko. »Vielleicht
kommt ihre Wahrheit derjenigen in die Quere, die im Wein stecken
soll. Er hat ja auch getrunken.«
»Uns interessiert nicht, was du nicht weißt«, sagte
Nica, während sie Friedbart streng musterte. »Sag uns, was du
siehst.«
»Was ich sehe?« Friedbart hechelte Nica an,
umschloss zwei Gitterstäbe mit den Händen und reckte ihr sein
Gesicht so weit wie möglich entgegen.
»Ja. Vertraue dem Pilz. Was hat Herr Arthen
vermutet, was meinst du, wo steckt Norkham? Denk nicht nach, lass
einfach die Bilder in deinen Kopf«, befahl Nica. »Und mach
Sitz.«
»Ich sehe ihn! Ich sehe ihn!« Gehorsam setzte sich
Friedbart und strahlte Nica an. »Einsam und verlassen rennt er
durch einen dichten Wald und ernährt sich von fingergroßen,
grünhäutigen Gnomen, die er von Sträuchern mit flüsternden Blättern
und großen blutigen Dornen pflückt. In einen schwarzen
Kapuzenmantel gehüllt, flieht er vor Ordensrittern in strahlenden
Rüstungen. Oder folgt er ihnen? Ich weiß es nicht, sie rennen wohl
im Kreis. Auf den Bäumen sitzen bunte Vögel mit den Gesichtern
schöner Frauen und singen durcheinander. Eine behauptet, ein
verzauberter Drache zu sein und will geküsst werden, und dann
springt sie von ihrem Ast, der plötzlich vertrocknet ist, direkt in
einen Fluss aus goldenem Honig und lässt sich davontreiben, und
Norkham schwimmt ihr nach, und die Ritter werfen sich auf ihre
Schilde und in den Fluss und staksen mit langen Schwertern
hinterher, über zahllose Honigfälle unter einem leuchtenden
Sternenhimmel, und jeder Stern ist das glitzernde Auge einer
haarigen Spinne, und ihre ineinander verflochtenen Beine sind die
Schwärze der Nacht, die jeden Morgen von Hellwahs Feuer verbrannt
wird, und der Honig fließt durch ein riesiges Fischernetz, das von
einem schrecklichen Giganten gehalten wird. Er besteht aus
Tausenden ineinander verkeilter, lachender Kinder. Fängt ein Kind
an zu weinen, wird es in den Honigfluss gestoßen und treibt hinaus
auf ein endloses bernsteinfarbenes Meer, in dem der Honig zu
riesigen glitzernden Wellen erstarrt. Über das Meer fegen
Wirbelstürme aus dem vielstimmigen schrillen Lachen des
Kindergiganten hinweg, doch sonst weht kein Wind. Gar
keiner!«
Der Ritter hatte zum Schluss hin immer schneller
gesprochen und atmete jetzt schwer, als wäre er weit gerannt. Seine
glasigen Augen waren auf Nica geheftet, als erwarte er Lob. Oder
einen Knochen.
»Das war’s?«, fragte sie.
Er nickte.
»Hast du mir sonst noch etwas mitzuteilen?«
»Ich habe schon zahlreiche Jungfrauen gerettet und
unzählige versklavte Drachen befreit, selbst einen mit sieben
Flügeln, gegen den kämpfte ich sogar mit brennendem Fieber und
einer knapp über dem Heft abgebrochenen Klinge. Ich bin ein
vielbesungener Held, doch leider ging mir kürzlich meine Jungfrau
abhanden. Wollt Ihr ihren Platz einnehmen und mein schöner Köder
für die von Samoth versklavten Geschöpfe sein?«
»Nein.« Nica verzog das Gesicht und befahl: »Leg
dich einfach hin und sei ruhig.«
Der Ritter gehorchte hechelnd.
»Das soll die Wahrheit sein?«, fragte Ben. »Dass er
ein Hund ist, der von Honigflüssen träumt?«
»Einen Versuch war es wert«, brummte Yanko.
»Ich denke, er hat zumindest zu Beginn die Wahrheit
gesagt«, vermutete Ben. »Der Orden hat keine Ahnung, wohin Norkham
geflohen ist.«
»Das kann sein, muss aber nicht stimmen. Zur
Sicherheit werde ich mir Herrn Zendhen doch noch vornehmen.« Nica
zog das Messer wieder hervor.
»Was willst du tun? Ihn foltern, ihm die Finger
abscheiden?«, fragte Ben. »Die Nase? Die Ohren?«
»Ja, wenn er sonst nicht redet? Was bleibt uns dann
übrig? Wir müssen Norkham finden, das haben wir hoch und heilig
geschworen!«
»Dabei war nie die Rede davon, andere zu
quälen.«
»Meinst du vielleicht, mir bereitet das
Vergnügen?«, blaffte sie ihn an.
Genau das fragte sich Ben, seit sie am Feuer nach
dem Messer gegriffen hatte. Er war nicht sicher, ob es ihr wirklich
um Antworten ging oder darum, Rache zu nehmen. Für die Zeit im
Käfig und vor allem für das, was er ihr angedroht hatte. Sein
Wunsch, ihr das Kleid anzuziehen, war kein sehr fürsorglicher
gewesen. Stumm schüttelte Ben den Kopf.
»Was dann? Hast du etwa Mitleid mit dem
Wurm?«
»Nein, aber...« Mehr wusste Ben nicht zu sagen.
Noch vor kurzem hatte er selbst Margulv Schmerzen zufügen wollen,
und säße Herr Arthen dort drüben im Käfig, würde er ihm mit dem
größten Vergnügen so viel Angst einjagen, bis er sich in die Hosen
machte. Er würde ihn mit Steinen und Dreck bewerfen, bis auch
dessen ganzer Körper mit schmerzhaften Blutergüssen und Platzwunden
übersät war, und er würde sich darüber ärgern, dass Dreck weder
schimmelte noch stank wie verfaulte Früchte. Für das, was dieser
weiße Ritter Nica hatte antun wollen, verdiente er fraglos
Schmerzen. Trotzdem wollte Ben nicht sehen, wie sie ihre Wut an ihm
ausließ, wollte es auch nicht hören. Im Käfig war der Ritter
wehrlos, das erschien ihm falsch. Aber war es richtig, den Kerl
ungestraft zu lassen?
»Was, aber?«, herrschte sie ihn an.
»Nichts«, sagte er. »Aber du weißt selbst, dass es
nichts bringt. Ich sehe mir das nicht an.«
»Zwingt dich ja keiner!«
»He, Ben, komm schon, du weißt, wir müssen noch
mehr erfahren, wenn wir Norkham finden wollen. Es muss sein. Wenn
es um den Drachen ging, wärst du jetzt auch nicht dagegen.«
»Doch«, behauptete Ben mit leisem Trotz. Er wusste
nicht, was er in dem Fall denken würde. Wie sollte man das auch
wissen? Das waren nur Gedankenspiele, und er war zu müde und
durcheinander.
»Es ist wichtig, dass du bleibst«, beschwor ihn
Yanko. »Bitte.«
»Lass ihn doch gehen, wenn er kein Blut sehen
kann«, sagte Nica bissig. »Alles muss sich um seinen Drachen
drehen. Was ist mit meiner Rache? Er hat es geschworen!«
»Aber das nicht!« Ben deutete auf das Messer in
Nicas Hand. »Das habe ich nicht geschworen!«
»Dann denk daran, was die oben in Vierzinnen getan
haben! Denk an die Galgen vor der Stadt!«
»Daran will ich aber nicht denken!«, fauchte Ben
und wandte sich ab – nicht ohne einen letzten Blick auf Herrn
Zendhen zu werfen, der zusammengekrümmt im Käfig saß und voller
Furcht zu ihnen herüberstarrte. Hilflos hob er die Hand ein Stück
und bewegte lautlos die Lippen. Ben schien es, als würde er ihm ein
Bitte zumurmeln, als würde er hof fen, Ben ließe ihn nicht mit den
anderen beiden allein. Doch Ben schüttelte den Kopf und stapfte
davon, zu aufgewühlt und zornig, um zu wissen, was er wirklich
empfand. Mitleid mit diesem Ritter war es jedenfalls nicht.
Ben stapfte an den Drachen vorbei, immer weiter
hinauf in die Klamm.
»Wann sollen wir dich suchen kommen?«, rief ihm
Juri scherzhaft hinterher, doch Ben antwortete nicht. Er wollte
einfach nur allein sein.