CHYBHIA
Ich sage doch, der weiß einfach alles«, brummte Aiphyron, nachdem ihnen Kaedymia die richtige Richtung nach Chybhia gewiesen hatte. Ben kam es vor, als habe diese nicht viel gemein mit der, in die sie ursprünglich geflogen waren.
»Danke«, sagte Kaedymia zu Ben. Erste, noch durchscheinende Schuppen bildeten sich bereits wieder auf der verheilten Brustwunde, und die Flügel waren so weit gerichtet, dass sie ihn nach ein, zwei weiteren Tagen Ruhe wieder würden tragen können. Noch konnte man eine dünne Naht erkennen, wo die Membran gerissen war.
»Keine Ursache«, wehrte Ben ab, froh, dass der Hauch von Verfall aus den Wunden verschwunden war, und auch ein wenig stolz. »Danke für dein Wissen und die richtige Richtung. Andere Drachen hätten sich da ohne Hilfe verflogen.«
»Jaja«, knurrte Aiphyron. »Jetzt steig schon auf und lass diese Lobhudelei. Der Kerl ist schon eingebildet genug, und das wird im Alter immer schlimmer.«
»Pass auf den jungen Griesgram auf«, sagte Kaedymia zu Ben und grinste Aiphyron an.
Sie verabschiedeten sich voneinander, und Aiphyron erhob sich in die Lüfte.
Bester Laune flogen sie in großer Höhe dahin. Während er Kaedymia geheilt hatte, hatte Ben nicht ein einziges Mal an mögliche Verfolger gedacht. Vielleicht weil er keine Zeit dafür gehabt hatte, vielleicht weil er sich im morastigen Delta verborgen, fern aller Handelswege, vor dem Orden sicher gefühlt hatte. Doch in Chybhia würde es wieder anders werden, die Stadt musste er ohne Aiphyron betreten, also vollkommen allein. Daran hätte er denken sollen, bevor er Yanko und Nica verlassen hatte.
Das hätte nichts gebracht, erinnerte er sich, bevor er seine Entscheidung richtig bedauern konnte, sie hätten ihn sowieso nicht begleitet, sie wollten ja unbedingt diesen Ketzer jagen. Dabei waren Drachen viel wichtiger, das hatte er eben erst wieder gespürt. Nichts war diesem Gefühl vergleichbar, wenn die Heilkräfte kribbelnd durch seine Hände flossen, wenn er spürte, wie sich ein Drache erholte. Nichts, mit Ausnahme von fliegen vielleicht.
Nein, ohne Yanko und Nica war er besser dran. In Falcenzca hatten sie ihn an seiner Hose erkannt, die Ritter in Vierzinnen hatten aufgrund ihrer Anzahl eine Verbindung zu diesem Steckbrief gezogen. Allein, ohne Haare, ohne seine auffällige Hose in einer weit entfernten Stadt, in der er niemanden kannte und niemand ihn, würde man ihn nicht erkennen. Zu den Spielen musste die Stadt nur so vor Fremden wimmeln, keiner achtete da auf einen einzelnen Jungen. Es war besser so, sagte er sich immer wieder. Zu dritt würden sie nur auffallen. Dennoch wäre er lieber nicht allein gewesen.
Er ließ die Landschaft unter sich dahinziehen und sprach mit Aiphyron über dieses und jenes, fragte ihn über Kaedymia aus, ob er noch andere Freunde unter den Drachen habe und wie oft er diese traf. Aiphyron konnte das nicht genau beantworten – es käme eben immer darauf an, wie oft sie sich zufällig über den Weg flogen, so ein Treffen plane man doch nicht. Immer wieder wiederholte Ben, was für ein Glück sie gehabt hatten, diesen außergewöhnlichen Schlüssel zu fmden. »Der kann echt hilfreich sein.«
»Natürlich, aber welchen deiner unzähligen Paläste willst du damit denn verschließen?«, fragte Aiphyron. »Du besitzt nicht einmal eine Hütte und bist auf der Flucht, falls du das noch nicht gemerkt hast.«
»Mit dem Schlüssel müssen wir irgendwann nicht mehr fliehen. Eines Tages gibt er uns irgendwo den nötigen Schutz vor dem Orden.« Ben hoffte, dass es noch vor dem Winter geschehen würde. In der Kälte wollte er nicht mehr auf der Straße sein, auch nicht in der Luft.
»Ich bin lieber frei als an eine belagerte Hütte gefesselt«, brummte der Drache.
»Du frierst dir ja auch nicht den Hintern ab, wenn Schnee fällt.«
»Es gibt Länder, da fällt kein Schnee. Länder, die nicht vom Orden der Drachenritter beherrscht werden.«
Ben lächelte bei dieser Vorstellung. Nicht frieren und nicht gejagt werden. Doch bevor er von einer solchen Zukunft träumen konnte, musste er erst den Schwur erfüllen – dann konnte er mit Aiphyron irgendwo in der Sonne liegen. Vielleicht sogar am Meer und mit Yanko, Juri, Feuerschuppe und Nica.
Und Anula.
Auch wenn sie ihn zurückgewiesen hatte, plötzlich war sie wieder in seinem Kopf, und seine Gedanken verweilten am längsten bei ihr. Er stellte sich vor, wie es wäre, von ihr geküsst zu werden, und als sich nach langer, langer Zeit seine Lippen von ihren lösten, hatte er Nicas Gesicht vor Augen.
Wieso verrichteten in den Liedern die Helden ihre Taten immer für eine einzige wunderschöne Frau? Wieso wussten sie so genau, für wen sie was empfanden? Stets gab es nur eine einzige Frau, die die Richtige war; in den kniffligsten Geschichten höchstens noch eine verführerische Nachtfee oder sinnenverwirrende Nymphe, die jedoch rasch als ebenso böse wie schön entlarvt wurden, abgewiesen oder als Geschöpf Samoths geköpft. Jedem war klar, welches Herz es zu gewinnen galt, es ging nur darum, es zu schaffen. Warum war keiner dieser Helden je gleichzeitig auf eine Anula und eine Nica getroffen? Ben war sicher, dass keine von beiden eine böse Nachtfee war.
Sobald er den Drachen befreit hatte, würde er seine Träume zu Rate ziehen. Den Seherpilzen traute er nicht, er zweifelte, ob sie wirklich die Wahrheit verkündeten. Er würde sich eine Traumweide suchen und in ihrem Wurzelwerk Schlaf. Von welchem Mädchen er dann träumte, wäre die Richtige. Er hoffte, es wäre Anula.
Dämlicher Warzenkopf, beschimpfte er sich selbst. Wenn du das schon hoffst, dann lass die Träumerei doch sein, flieg einfach nach Falcenzca und frag sie noch mal, ob sie mit dir kommen will. Dann ist sie die Richtige. Sie hat dich beim letzten Mal nicht für tausend Gulden verraten, sie wird es auch ein weiteres Mal nicht tun. Sag ihr klar und deutlich, was du empfindest, fall auf die Knie und stotter nicht herum wie beim letzten Mal. Oder entführ sie zur Not. Besonders schöne Frauen wurden in alten Liedern doch oftmals und gern geraubt und entdeckten erst danach ihre Gefühle für den Helden. Ben stellte sich vor, wie er Anula am Arm packte und ihr mitteilte, er würde sie jetzt rauben. Und wie sie ihn mit hochgezogener Augenbraue ansah und Nein sagte.
Doch.
Nein.
Doch.
Nein.
Doch.
So ging es in seinem Kopf hin und her, und er fluchte darüber, dass sie ihm sogar in seinen Träumen widersprach. Sein Herz schlug dennoch schneller, und plötzlich war es ebenso wichtig, nach Falcenzca zurückzukehren, zu ihr, wie diesen Drachen zu befreien. Doch erst der Schwur, schließlich war der Drache gefangen, während Anula frei war und sicher noch ein paar Tage warten konnte.
»Verfluchtes Feuer«, knurrte Aiphyron in diesem Moment.
Ben blickte auf und entdeckte am Horizont eine aufsteigende Rauchsäule. Kurz darauf flogen sie direkt über den Brandherd hinweg. Aus der Höhe und mit all dem dunklen Qualm war es schwer zu erkennen, doch schien es, als brannten dort zwei schon weit eingefallene Gebäude am Rand eines Dorfs. Menschen standen als kleine Punkte herum, einige schimmerten silbern in der Sonne, als trügen sie eine Rüstung.
»Ritter.« Aiphyrons Stimme war voller Verachtung.
Ben spuckte im Vorüberfliegen hinunter, in der vagen Hoffnung, einen von ihnen zufällig zu treffen.
»Das kann ich auch«, knurrte Aiphyron, flog eine Schleife und spuckte direkt über den Rittern einen dicken Batzen in die Tiefe. »Aber ich glaube nicht, dass wir den Brand so löschen können.«
Ben lachte auf, und sie flogen weiter. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Aiphyron getroffen hatte.
 
Als sich die Sonne dem Horizont näherte, erreichten sie Chybhia. Die Stadt lag nicht fern eines gedrungenen, felsigen, zerklüfteten Bergs an einem großen, langgestreckten See, dessen Wasser von außergewöhnlicher Klarheit war. Auf ihm brach sich das Sonnenlicht wie nirgendwo sonst. Jetzt am Abend erstrahlte der Schaum der sanften Wellen in einem hellen Rot, am Mittag funkelte angeblich die ganze Wasserfläche klarer als Diamanten. Sah man dann von oben hinein, strahlte einem die Sonne ebenso gleißend entgegen wie vom Himmel, daher hatte der See den Namen Hellwahs Spiegel.
Die Häuser Chybhias waren überwiegend aus weißem Stein gebaut, und viele waren am Ufer des Sees errichtet, denn jeder suchte die Nähe zu dem heiligen Gewässer. So zog sich ein großer Teil der Stadt wie ein schmaler Streifen an Hellwahs Spiegel entlang, auf der Landseite geschützt von einer mächtigen weißen Mauer, auf deren Kamm sich mehrere Schritt hohe, gewundene Stahlzinken erhoben, welche die Strahlen der Sonne repräsentieren sollten und gleichsam Angreifern den Zugang zur Stadt verwehren.
Doch nicht nur auf dem Land erhoben sich die Häuser. Zahlreiche breite, bebaute Brücken führten weit auf den See hinaus, kreuzten sich oder führten gar auf riesigen Säulen im Bogen über die Gebäude einer anderen Brücke hinweg. Die Kapitelle der Brückenpfeiler waren mit erhabenen vielstrahligen Sonnen verziert. Jahr um Jahr wuchs die Stadt weiter auf den See hinaus.
Je näher sie kamen, umso deutlich erkannten sie, wie prächtig Chybhia wirklich war. Viele der Häuser waren Paläste, die Tempel reich verziert, und der pompöse Eingang des bestimmt zweihundert Schritt langen Stadions, in dem viele der heiligen Wettkämpfe stattfanden, hatte ein Dach aus Goldplatten.
Die Straßen schienen sehr belebt, ein Gewühl aus Punkten in unterschiedlichsten Farben wogte sich in alle Richtungen. Der Lärm, den sie machten, wurde als Gemurmel bis zu Aiphyron und Ben hinaufgetragen. Weit draußen auf dem See, sogar jenseits der mächtigen Türme, die mit großen Katapulten die seewärtigen Grenzen der Stadt bewachten, schwamm eine Handvoll Häuser auf Flößen. Nicht alle hatten den Anker geworfen, manche ließen sich offenbar treiben. Chybhia war so groß, dass Ben lange nicht jede Straße, geschweige denn jede Einzelheit von oben aufnehmen konnte.
»Lass uns ein Versteck finden, bevor sie dich entdecken«, sagte er. Doch weder der See noch die umliegenden Felder oder weitläufigen Wiesen im Umland der Stadt boten Schutz vor neugierigen Blicken. Auch der Berg kam nicht in Frage, er war der Austragungsort für wenigstens einen Wettkampf.
»Wie wäre es mit dem Wäldchen dort hinten?«
»Ziemlich weit weg. Da laufe ich morgen ja den halben Tag, um in die Stadt zu kommen.«
»Fauler als ein Sack Mehl, der Herr Ben«, knurrte Aiphyron. »Keine Angst, ich bring dich morgen vor Sonnenaufgang schon wieder nah genug an die Stadt heran, damit deine zarten Füße keine Bläschen bekommen. Aber wahre Helden jammern wirklich weniger herum.«
»Ich jammere nicht. Ich dachte, dass vielleicht die Zeit drängt. Abgesehen davon kann ich ohne Blasen leichter an einem Wettkampf teilnehmen. Das Einfachste wäre es nämlich, ich würde den Drachen gewinnen. Dann wird er mir überreicht, und wir müssen nicht in die Ställe einbrechen. Bestimmt sind die gut bewacht.«
»Dir ist schon klar, dass auf dich ein Kopfgeld ausgesetzt ist? Willst du als Vertreter der Geächteten antreten, oder was?«
»Schon mal was von Verkleiden gehört? Klar ist es als Drache schwer, die Schuppen zu wechseln, aber wir Menschen können uns andere Kleidung anlegen.«
»Und das macht euch zu einem anderen?«
»Manchmal.«
»Und als was willst du Bürschchen dich verkleiden? Als geschrumpfter Held?«
»Sehr witzig. Es ist völlig egal, als was ich mich ausgebe, Hauptsache nicht als mich selbst. Und wenn es als fahrender Kesselflicker ist.«
»Klingt nicht sehr glaubwürdig«, brummte Aiphyron und tauchte in Richtung Erde. Sie hatten das Wäldchen erreicht, das sich aus der Nähe als gar nicht so klein herausstellte. Die Bäume standen dicht, es war ein gutes Versteck. »Kesselflicker gewinnen keine Wettkämpfe, ohne enttarnt zu werden, wenn du mich fragst.«
»Ach ja?«
»Ja.« Der Drache setzte auf einer kleinen Lichtung auf, an deren Rand ein schmaler Bach entlangfloss. »Denkst du nicht, dass all die versammelten Helden, Ritter und Adlige misstrauisch werden, wenn sie von einem Handwerker geschlagen werden? Noch dazu von einem Jungen wie dir? Ich denke, sie sind zu sehr von sich selbst eingenommen, um das zu ertragen.«
»Hm«, brummte Ben. Das klang überzeugend, doch das wollte er nicht zugeben.
»Ich sage dir, mach dir einen schönen Tag, finde heraus, wer den Drachen gewinnt, und wir jagen ihn ihm ab, sobald er die Stadt verlässt. Dort drin wimmelt es sicher vor Ordensrittern.«
Das klang weit weniger heroisch und abenteuerlich, aber vernünftig. Und tatsächlich weniger gefährlich. Beinahe unmerklich nickte Ben.
Suchend blickte er sich nach etwas Frischem zu essen um, doch außer ein paar Beeren entdeckte er am Rand der Lichtung nichts Schmackhaftes, und so kramte er ein zähes Stück Dörrfleisch aus dem Rucksack, das Yanko in Trollfurt eingesteckt hatte.
»Ich will ja nicht schon wieder damit anfangen«, sagte Aiphyron. »Aber wäre es nicht schön, bald in ein anderes Land zu fliegen, das nicht vom Orden beherrscht wird? Ich meine, wir hetzen ständig von einer Stadt zur nächsten, und wir Drachen dürfen uns immer in der Nähe verstecken. Immer dasselbe. Zu dritt war es nicht ganz so öde, aber jetzt bin ich auch noch allein.«
»Bald bist du ja wieder zu zweit«, blaffte Ben, dessen Angst schleichend wiedergekehrt war, seit sie den Boden berührt hatten. »Meinst du, ich bin wild darauf, allein in so eine Stadt zu laufen? Ich werde gejagt!«
»He, was ist los, Junge? Ich hab doch nur Spaß gemacht.« »Toller Spaß«, brummte Ben, der auf keinen Fall zugeben wollte, dass er sich vor dem Gang in die Stadt fürchtete, davor, vom Orden erwischt zu werden.
Gehenkt.
Oder von den unerbittlichen weißen Drachen gefressen. Doch dann platzte es aus ihm heraus, und er erzählte Aiphyron von all diesen Ängsten. Der Angst, dass irgendwer doch seine Verkleidung durchschaute, der Angst vor jedem Schritt im Rücken, vor jedem nächtlichen Geräusch im Gebüsch, das ein anschleichender Kopfgeldjäger sein könnte. Der Angst, die ihn nur hoch in den Lüften in Ruhe ließ, und die jetzt mit aller Macht zurückgekommen war, weil Yanko und Nica nicht bei ihm waren. Auch wenn ihre Begleitung in Vierzinnen nicht viel geholfen hatte.
»Aber ich bin bei dir«, sagte Aiphyron.
»Klar.« Ben knuffte ihn gegen die Schnauze. »Du liegst hier faul auf der Lichtung und frisst gelangweilt irgendwelche roten Käfer.«
»Ich kann morgen über der Stadt kreisen und dich im Auge behalten, hoch oben. Selbst wenn irgendein Ritter mich als fernen Punkt sieht und sogar ahnt, was ich bin, was soll er schon groß tun? Hochfliegen? Sein Schwert nach mir schmeißen?«
Ben grinste und fühlte sich gleich ein wenig wohler. Alles schien nun weniger schlimm, seit er es ausgesprochen hatte. Seit er wusste, dass Aiphyron doch irgendwie bei ihm sein würde. »Aber wie willst du mich von so fern im Auge behalten?«
»Es sind gute Augen.«
»Und wenn ich in einem Gebäude verschwinde?«
»Dann warte ich, bis du es wieder verlässt. Im schlimmsten Fall verliere ich dich auch, aber ich finde dich wieder. Und ich werde es bemerken, wenn sich ein weißer Drache der Stadt nähert. Dann gebe ich dir ein Zeichen oder hole dich sofort raus. Ich lass nicht zu, dass dich ein weißer Drache erwischt.«
»Gut«, sagte Ben und machte es sich unter einer jungen Himmelsbuche am Rand der Lichtung bequem. In dieser Nacht wurde er nicht von Albträumen geplagt.
 
Das kniehohe Gras war feucht vom Tau, und als Ben in der Morgendämmerung schließlich die Straße nach Chybhia erreichte, war seine Hose durchnässt und klebte kühl an den Waden. Leichter Wind wehte vom See herüber, und Ben sehnte sich nach der Sonne, die ihm die Beine trocknen und wärmen würde. Ganz langsam schlenderte er Richtung Stadt, die vielleicht noch zwei Meilen entfernt lag. Er wollte nicht als Erster am Morgen Einlass begehren, um nur nicht aufzufallen. Sicher war sicher.
Während der chybhischen Spiele wurden Streitigkeiten und Fehden in Hellwahs Namen zurückgestellt, erinnerte sich Ben. Sie wurden in den Wettkämpfen ausgetragen. Innerhalb der Stadtmauern und einer Bannmeile um sie her durfte kein Blut vergossen werden, auch fanden in diesen Tagen keine Hinrichtungen statt. Ihm würde schon nichts geschehen. Er warf einen kurzen Blick in den Himmel, doch noch war es zu diesig und lange nicht hell genug, als dass er Aiphyron entdecken konnte, nicht einmal als verschwommenen dunklen Punkt.
Vereinzelte Nebelschleier krochen wie ausgefranste geisterhafte Riesenwürmer über das Land. Die ersten Vögel hatten zu singen begonnen, doch ansonsten lag die Welt noch im Schlaf.
Da durchbrach ein dumpfer Schlag vor ihm die Stille des Morgens, und Ben zuckte zusammen. Was war das? Der Ton schien sich für einen Moment im Nebel zu verfangen, bevor er endgültig verwehte. Es klang unheimlich.
Gedämpfte Rufe waren zu vernehmen, doch Ben verstand kein Wort. Dann ein zweiter Schlag, dem weitere folgten. Regelmäßig, als würde jemand hämmern.
Hektisch sah sich Ben in alle Richtungen um, konnte jedoch die Quelle der Schläge nicht ausmachen. Aufs Höchste angespannt ging er weiter, sein Herz schlug schneller. Wütend befahl er sich, sich zusammenzureißen. Wahrscheinlich reparierte irgendein freundlicher Bauer seinen Weidezaun, oder die Straße wurde ausgebessert, damit die Stadt einen guten Eindruck auf die zahlreichen Besucher machte. Hammerschläge waren weder unheimlich noch gefährlich, auch nicht in Dämmerung und Nebel. Und niemand würde dort vorn ihren Steckbrief an einen Baum nageln. Er durfte nicht so schreckhaft sein!
Nach einer Weile sah er eine mit schwarzer Erde aufgeschüttete Terrasse links im Nebel auftauchen, vielleicht zehn Schritt im Geviert groß und drei Schritt hoch. Zwei kräftige Männer knieten dort und hämmerten auf etwas am Boden ein. Dann legten sie ihre Werkzeuge zur Seite und richteten mit einem dritten, der neben ihnen gestanden hatte, einen gut zwei Mann hohen Balken auf. Als sie ihn ein Stück weit in einem Loch versenkten und um die eigene Achse drehten, um ihn passend auszurichten, erkannte Ben, dass oben ein kürzerer, verstärkter Querstreben saß, von dem ein Strick herabhing.
Ein Galgen.
»Noch ein Stück zu mir«, befahl der dritte Mann, dann rief er: »Stopp.«
Schwungvoll schlug er irgendwelche Stützhölzer am Galgen fest, bevor sie das Loch mit dunkler Erde füllten und festklopften.
Nur nicht auffallen, dachte Ben und zwang sich weiterzulaufen. Dabei warf er immer nur kurze Blicke hinüber. Die Männer beachteten ihn nicht.
Am Fuß der Terrasse stapelten sich noch mehr Balken. Unauffällig versuchte Ben, sie zu zählen, doch er kam immer wieder durcheinander. Sieben oder acht weitere Galgen ließen sich mit dem Material aber bestimmt errichten. Auf dem obersten Balken saß ein aufgeplusterter Nachtadler und ließ sich von den lauten Hammerschlägen nicht vertreiben. Mit durchdringenden fahlen Augen stierte er Ben an. Sein scharfer Schnabel öffnete sich, und er ließ ein lautes Krächzen vernehmen, das in Bens Ohren wie ein böses Lachen klang. Er musste an die Galgen vor Vierzinnen denken.
Keine Hinrichtungen während der Spiele, so war die Tradition, dachte er verzweifelt, als das Hämmern hinter ihm wieder einsetzte und der Adler noch einmal sein dunkles Krächzen hören ließ. Was geschah hier?
Rechts am Wegrand erschien ein weißer, steinerner Pfeiler, in den schwungvolle Buchstaben eingraviert waren.
Chybhia
Stadt der heiligen Spiele
Eine Meile
Ben verstand, sein Mund wurde trotz des Nebels trocken. Der Galgen wurde außerhalb der Bannmeile angelegt, dann schadete er nicht der Tradition. Und eine Meile war schnell zurückgelegt, wenn man Blut vergießen wollte. Anscheinend schenkte das Verbot von Hinrichtungen während der Spiele nicht jedem Schutz.
Kurz dachte Ben daran, umzukehren, aber er durfte nicht. Er durfte sich nicht so leicht einschüchtern lassen, dieser Strick galt nicht ihm. Außerdem hatte er es geschworen. Niemand würde ihn erkennen, sagte er sich zum hundertsten Mal, niemand. Er trug keine verräterische Tätowierung wie ein Ketzer. Und Aiphyron kreiste über ihm. Auch wenn er ihn nicht sehen konnte, so war der Drache doch da. Entschlossen stapfte Ben weiter. Er würde seiner Angst nicht nachgeben, niemals.
Als er das offene Stadttor erreichte, hatte sich die Sonne gerade rot vom Horizont erhoben. Hatte das Tor von oben noch winzig gewirkt, so fühlte sich Ben nun wie ein unbedeutender Zwerg. Der Durchgang war bestimmt ein Dutzend Schritt hoch, und darüber prangte das große Mosaik einer goldenen Sonne. Wasserblaue Banner, Hellwahs Symbol und das des Drachenordens wehten über den mächtigen Zinnen sowie das Fischwappen des Stadtfürsten. Die stählernen Strahlen auf der wuchtigen Stadtmauer blinkten im Licht der aufgehenden Sonne. Schon Falcenzca hatte ihn beeindruckt, doch erst jetzt verstand Ben, wie klein seine Heimatstadt Trollfurt wirklich war.
Die ersten Reisenden, die im Gasthaus vor dem Tor übernachtet hatten, weil sie erst nach Schließung der Tore hier angekommen waren, betraten die Stadt. Sie trugen die unterschiedlichsten Trachten, bis zu den Knien hängende Hemden, wie Ben sie noch nie gesehen hatte, oder mit zahlreichen Schnüren und Bändern versehene, gescheckte Hosen aus einem kuhähnlichem Fell, die nur bis zu den Waden reichten. Sogar einen Mann in weitem Hemd und gestreiftem Rock aus grobem Stoff konnte er ausmachen. Um dessen Hals baumelte eine furchtgebietende Kette aus zahlreichen gebleichten Knochen, wahrscheinlich wurde er deshalb von niemandem für den Rock ausgelacht. Auch Ben unterdrückte ein Glucksen. Der Torwächter scherzte jedoch völlig entspannt mit dem Mann, als wären Röcke tragende Männer keine Seltenheit.
Ein harmloses Schlaflied pfeifend, schritt Ben an ihnen vorbei nach Chybhia hinein. Niemand kam auf die Idee, ihn aufzuhalten.
»Nicht so schnell, Junge!«, erscholl es da plötzlich doch hinter ihm. Er war erst wenige Schritte weit in die Stadt hineingekommen. Sein Bauch zog sich zusammen, alle Muskeln spannten sich an.
Flieh!, schrie ihm jede Faser seines Körpers zu. Doch wie sollte er in dieser Stadt jemandem entkommen? Er kannte nicht eine der so früh nur spärlich belebten Straßen, er wusste nicht, wohin sie führten, wo die Sackgassen lauerten. Es gab keine Menschenmenge, in der er untertauchen konnte. Mit hetzendem Herzen blickte er über die Schulter zurück.
»Was ist denn jetzt noch?«, fragte ein dunkelhaariger Bursche nur drei, vier Schritt von Ben entfernt und wandte sich einem alten Mann mit roter Nase zu, der aus der Tür des ersten Hauses hinter dem Tor schaute.
»Bring doch gleich noch ein mittleres Käserad mit, eins von den würzigen. Die Verwandtschaft deiner Mutter ist schrecklich verfressen.«
Im Haus keifte irgendwer, und der Alte schrie hinein: »Und ob!«
Der Bursche nickte und stapfte müde und griesgrämig auf Ben zu und an ihm vorbei.
Hörbar stieß Ben die Luft aus.
 
In den folgenden zwei Stunden lief er kreuz und quer durch die Stadt, und der Eindruck, den er aus der Luft gewonnen hatte, bestätigte sich: Chybhia war reich. Viele der Häuser waren prächtig und hatten breite, mit herrlichen Schnitzereien verzierte Türen. Mosaiken mit Halbedelsteinen zierten manche Wand, und viele der Städter trugen Kleidung aus edlem Tuch und schweren Schmuck aus Gold und Silber, Ringe und Anhänger mit großen, glitzernden Steinen. Sie waren wohlgenährt und gut frisiert.
Doch zugleich entdeckte er mehr Bettler auf den Straßen als in Falcenzca, kleine Mädchen ebenso wie alte Männer. An vielen Kreuzungen kniete eine der zerlumpten Gestalten und hielt den Passanten die geöffneten Hände entgegen. Manch einer presste gar unterwürfig die Stirn aufs Pflaster und wartete reglos auf jede kleine Gabe, die man ihm in die Hand werfen möge. Andere saßen mit untergeschlagenen Beinen hinter einem alten verbeulten Hut, in dem drei oder vier Münzen blitzten. Manchem fehlte ein Körperteil, andere waren blind.
Ganz zu Beginn hatte er sich gefragt, warum sich diese Leute nicht einfach etwas stahlen, so wie er sich in Trollfurt Äpfel und anderes geklaut hatte. Warum kratzten sie nicht nachts einen der wertvollen Steine von den Hauswänden? Davon gab es schließlich genug. Oder zogen einem der Wohlhabenden den Beutel aus der Tasche, auch davon gab es genug. Doch dann bemerkte er, wie viele Büttel hier herumliefen, die Blicke stets aufmerksam nach hier und da gerichtet. Dazu kamen noch zahlreiche Ritter und Leibwächter. Nein, wer hier arm war, der konnte kaum stehlen, der musste betteln.
Mit offenem Mund schlenderte Ben umher, und nicht nur die prächtigen Häuser rangen ihm Bewunderung ab. Die Straßen führten von einem kleinen Platz zum nächsten, und auf vielen erhoben sich Gedenksäulen mit den Statuen von bedeutenden Siegern der chybhischen Spiele. Helden, die mehr als einen Wettkampf gewonnen hatten. Staunend las Ben die eingemeißelten Inschriften.
Ein gewisser Meholl hatte vor fünf Jahrhunderten dreimal den Lauf und einmal den Faustkampf gewonnen und war deshalb bis heute nicht vergessen. Nur einen kleinen Finger hatte seine Ehrenstatue inzwischen verloren. Ben fragte sich, wie lang dieser Ruhm noch anhalten mochte, wie viele weitere Jahrhunderte, und verspürte den Drang, doch selbst an den Spielen teilzunehmen. Dann schüttelte er den Kopf. Das war ganz sicher keine Methode, um unbeachtet zu bleiben. Und was hätte er selbst im Falle eines Siegs von der Ehrenstatue für einen namenlosen Kesselflicker?
Yanko müsste hier sein, um das zu sehen, dachte Ben und entdeckte zwei etwa achtjährige Jungen vor einer Statue. Der eine kickte einen Kiesel dagegen.
»Zidou war der Größte«, sagte der andere Junge. »Er hat in dem Jahr gewonnen, in dem der fiese Fürst Emmo Tiere für sich antreten ließ. Er hat seinen schwarzen Hund im Lauf besiegt.«
»Das weiß doch jeder«, winkte der andere ab und kickte einen weiteren Stein gegen die Säule.
Ben hatte den Eindruck, dass über die Jahre keineswegs der Ruhm verblasste, sondern die Taten im Gegenteil noch wuchsen. Welcher Mensch konnte schon einem Hund davonlaufen? Doch das war anscheinend nicht die einzige Großtat Zidous gewesen.
»Auch dass er den hungrigen Bären im Faustkampf besiegt hat«, fuhr der Junge fort. »Aber er musste nicht geblendet antreten, wie Herr Lepe, der auch ohne Augenlicht das Bogenschießen gewann.«
»Ja, Herr Lepe war auch der Größte«, stimmte sein Freund zu. »Nur halt später.«
»Sein Pfeil hat nie das Ziel verfehlt.«
»Niemals.«
»Wollen wir zu seiner Statue?«
»Gut. Aber dann müssen wir ins Stadion. Ich will in die erste Reihe.«
»Ja. Die erste Reihe ist die beste.«
Bevor sie sich auf den Weg machen konnten, sprach Ben sie an und fragte, wann welcher Wettkampf stattfinden würde. Er sei gerade erst in der Stadt angekommen.
»Genau zur richtigen Zeit«, versicherten die Jungen, und sie hatten Recht, denn heute standen die ersten Runden im Faustkampf und Bogenschießen an sowie der Lauf über drei Stadionrunden. Die Jagd im Reinen Bach würde am nächsten Tag stattfinden. Die sei immer das Beste, sagten die Jungen noch, dann eilten sie davon.
Nicht einen Steckbrief hatte Ben bislang gesehen, nicht ihren und auch keinen anderen, als hätte man diese für die Zeit der Spiele abgehängt. Niemand hatte ihn misstrauisch gemustert, auch keiner der Ordensritter, die in unregelmäßigen Abständen zu viert durch die Straßen patrouillierten. Auch hatte keiner der drei Prediger, die er bislang passiert hatte, von ihm gesprochen.
Sie hatten ausnahmslos vor Sünden und dem Ende der Welt gewarnt, vor den untrüglichen Zeichen. Ben zuckte nun nicht mehr bei jedem lauten Ruf in seinem Rücken zusammen und wollte nicht mehr davonrennen, sobald er eilige Schritte hinter sich vernahm.
Angesteckt von der gespannten Stimmung, die in der Stadt herrschte, beschloss er, sich die heutigen Wettkämpfe anzusehen. Zuvor tauchte er jedoch noch schnell in ein Wirtshaus ab, um ein spätes Frühstuck zu sich zu nehmen. Er bezahlte mit dem Geld, das sie den befragten Rittern abgenommen hatten.
Plötzlich drang durch das Fenster eine Stimme herein, die er zu kennen glaubte.
»Warum nur hat Hellwah dich mit so wenig Verstand gesegnet? Es ist doch offensichtlich, dass du ein wenig mehr hättest gebrauchen können...«, sagte sie schleppend.
Arthen, schoss es Ben durch den Kopf, und er sprang ans Fenster. Hastig blickte er in alle Richtungen, konnte den verhassten Ritter jedoch nirgendwo erkennen.
Wie hätte er auch so schnell hierherkommen sollen? Und warum? Seine Aufgaben lagen in Vierzinnen, er war nur ihretwegen zu seinem Abt aufgebrochen, und da diese Reise wegen ihrer Befreiung hinfällig war, hatte er sich bestimmt wieder in Vierzinnen verkrochen.
»Arthen«, murmelte er trotzdem noch einmal mit unterdrückter Wut, aber das konnte einfach nicht sein. Es musste noch andere Menschen geben, die so sprachen. Eine Verwechslung. Er musste schleunigst aufhören, überall Verfolger zu sehen. Und zu hören. Wenn das so weiterging, würde er demnächst wohl noch eine Bedrohung riechen oder schmecken.
Er rieb sich über den Nacken, wo sich die Härchen aufgerichtet hatten. Niemand suchte in Chybhia nach ihm, schon gar nicht ein Ritter, der in einer fernen Stadt war.
Der Wirt sah ihn verwirrt an, weil er sich noch immer an die Wand neben das Fenster presste und hinaussah.
»Ich dachte, ich hätte einen Freund gesehen«, erklärte Ben leise und lächelte. Doch auch Freunde hatte er keine in dieser Stadt.
»Wenn ich einen Freund sehe, verstecke ich mich nicht«, schnarrte der Wirt mit einem schiefen Grinsen.
»Ich wollte ihn überraschen.«
»Schon gut, Junge. Ich hatte auch immer solche und solche Freunde. Noch Nachschub?«
»Nein, danke.« Das Frühstück schmeckte nun nur noch halb so gut. Ben zahlte und reihte sich auf der Straße in den Menschenstrom ein, der zum Stadion drängte. Dabei nahm er sich fest vor, sich nicht von einem eingebildeten Ritter den Tag verderben zu lassen. Er war hier bei den chybhischen Spielen! Aiphyron hatte gesagt, er solle den Tag genießen, und das würde er auch tun. Mit federndem Schritt lief er weiter.