PILZE UND EIN KUSS
Als die ersten Vögel des Tages zu singen begannen und sich der Himmel am Horizont ganz langsam hell färbte, landeten die Drachen. Nica hatte in Trollfurt die grobe Richtung vorgegeben, und seit sie über das ausgedehnte Waldgebiet flogen, hatten die Drachen mit ihren scharfen Augen, die auch nachts viel mehr sahen als menschliche, die Gegend nach einem geeigneten Rastplatz abgesucht. Nun gingen sie an einem Bach inmitten der Bäume zu Boden. Ben vermutete in ihm einen Zubringer zum Sippa, aber er war nicht sicher. Die hohen Bäume am Ufer standen dicht beieinander, im Unterholz zeigte sich kein Pfad, nicht das kleinste Anzeichen menschlicher Zivilisation.
Ganz in der Nähe des Bachs lag ein gutes Dutzend mehrere Schritt großer, moosbewachsener Felsen nebeneinander und übereinander, türmten sich auf bis zu den höchsten Wipfeln, bestimmt viermal so hoch wie ein einfaches Haus. Zwischen den einzelnen Brocken öffneten sich Spalten und kleine Höhlen, in denen Ben, Nica und Yanko gut auch tagsüber schlafen konnten; dort schien die Sonne nicht hinein. Es war so dunkel, dass man nicht bis in die hintersten Winkel blicken konnte.
Yanko sammelte ein paar Stöcke vom Boden auf, brach sie in unterarmlange Stücke und schleuderte sie mit Wucht in die Spalten, um giftige Schlangen und anderes Getier aufzuscheuchen, das sich dort möglicherweise wohnlich eingerichtet hatte.
Tatsächlich stob aus einer der Höhlen ein seltsamer Vogel. Er hatte ein prächtiges, leuchtend rotes Gefieder und ähnelte einem aufgeplusterten Königsschwan, nur dass er dreimal so groß war und sein gelber Schnabel leicht gekrümmt und spitz wie der eines Raubvogels. Auch waren die Beine ein Stück länger und die Flügel kleiner, zu klein, um den Vogel in die Luft zu tragen. Wild schlug er mit ihnen um sich, krächzte laut und heiser und rannte mit zornig blitzenden Augen auf Yanko zu. Noch bevor er reagieren konnte, schnellte Aiphyrons Klaue vor und packte das zeternde Tier.
»Hey, Bursche, bist du ein Feuervogel?«, knurrte er ihn an und hielt ihn sich prüfend direkt vor das rechte Auge, während er das linke zusammenkniff. Er musterte ihn mit derselben misstrauischen Abneigung wie ein Juwelier einen schlecht geschliffenen Edelstein.
Hilflos krächzte und zappelte der Vogel im festen Griff der Drachenklaue.
»Red deutlich! Ich kann dich nicht verstehen«, schnaubte Aiphyron.
»Krah«, machte der Vogel.
»Feuervogel oder nicht? Sag schon!«
»Krah!«
»Das ist keine vernünftige Antwort!«
»Krah!«
»Was?«
»Krah!«
Zu einer anderen Antwort schien der Vogel nicht in der Lage zu sein. Also ließ Aiphyron ihn nach weiterem Hin und Her langsam wieder auf die Erde und gab ihm einen aufmunternden Klaps auf den Hintern, so dass ein paar Federn knickten und der Vogel in den Bach schlitterte. Mit schlagenden Flügeln tauchte er unter, sanfte Wellen plätscherten über ihn hinweg. Kurz darauf kämpfte er sich schimpfend wieder an die Oberfläche, reckte den langen Hals hierhin und dorthin, plusterte die Federn auf und ließ sich schließlich mit der Strömung davontreiben.
Ben und die anderen hatten Aiphyrons Anfälle bei dem einen oder anderen roten Tier zu oft erlebt, um sich noch groß darüber zu wundern oder es gar zu kommentieren. Ben starrte dem Vogel hinterher, der sich auf dem Wasser bewegte, als wäre er dort zu Hause. Inzwischen reckte er den Kopf stolz in die Höhe, als wäre nichts gewesen. Als wäre er der unumstrittene König des Bachs und nicht eben von einem Drachen durch die Gegend gekegelt worden.
»Dann macht es euch mal bequem«, sagte Aiphyron wieder ganz fidel und leckte sich hungrig über das Maul. »Ich schau mal, ob ich uns irgendein leckeres Tier zum Frühstück fangen kann.«
»Du gehst jagen?«, fragte Yanko verblüfft.
»Ja. Warum?«
»Und was ist mit dem Vogel? Du hattest gerade einen riesigen Braten gefangen und ihn wieder freigelassen. Was hattest du an ihm auszusetzen?«
»Sag mal, Junge, was ist mit dir los? Ich esse doch niemanden, mit dem ich schon geredet habe.«
»Geredet...?«
»Natürlich«, sagte Aiphyron und breitete die Flügel aus. »Bis gleich.«
 
Die weiteren Höhlen erwiesen sich als verlassen, sah man von ein paar Schnecken, gefleckten Nachtasseln und anderen harmlosen Krabbeltieren ab. Es waren keine frischen Spuren von größeren Tieren zu erkennen. Neugierig kletterten die drei Freunde auf die Felsen und sahen sich um. Die Bäume standen dicht, das Unterholz in der Umgebung war ausgeprägt, Anzeichen von Menschen ließen sich keine finden. Plötzlich rief Nica: »Pilze!«
»Was?«, fragte Ben.
»Seherpilze.« Ehrfürchtig deutete sie auf ein knappes Dutzend Pilze mit sonnengelben Lamellen und glänzend dunkelblauen, trichterförmigen Kappen, in denen sich im Herbst das Regenwasser sammelte. Sie wuchsen im dichten Moos auf der Nordseite eines Felsens, ihre Kappen hatten die Größe eines Handtellers.
Langsam ging Nica auf sie zu und ließ sich auf die Knie sinken. Mit den Fingerkuppen strich sie vorsichtig über den größten Pilz.
»Sind die essbar?«, fragte Yanko.
»Essbar?« Nica wandte sich um, ihre Augen leuchteten. »Kennt ihr keine Seherpilze?«
Ben und Yanko schüttelten die Köpfe, und Yanko hakte noch einmal nach.
»Weit mehr als das«, versicherte Nica. »Sie lassen einen die Wahrheit erkennen. Eigentlich sind sie Priestern vorbehalten, aber ich habe mit einer Freundin schon mal welche gegessen. Wir konnten die Bäume atmen hören, und sie hat das wahre Gesicht eines Jungen gesehen, der ihr den Hof gemacht hat: Es war eine gierige Fratze mit bluttriefenden Raubtierzähnen. Daraufhin hat sie ihn zurückgewiesen, und er hat sich nach dem nächsten Tanz um Mitternacht an einer anderen vergangen, an einem hübschen Mädchen mit braunen Locken und großen Augen, die gern mit den Jungen schäkerte. Man hat sie am nächsten Morgen an der Friedhofsmauer gefunden, wimmernd in sich zusammengesunken und mit zerrissenem Kleid, ein tiefer Schnitt quer über die linke Wange, überall grün und blau geprügelt. Der Junge war verschwunden. Die Pilze haben meine Freundin mit ihrer Vision von seiner verborgenen wahren Fratze gerettet.«
Ben und Yanko starrten tief beeindruckt abwechselnd Nica und die Pilze an. Dann fragte Yanko: »Und du? Was hast du gesehen?«
»Ich habe gar nichts gesehen. Ich habe etwas über mich erkannt.«
»Und was?«
Nica lächelte, drehte sich wieder um und pflückte vorsichtig einen Pilz. Sie brach den Stiel direkt oberhalb des Mooses ab, so dass die Wurzeln im felsigen Boden verblieben und aus ihnen ein neuer Pilz nachwachsen konnte. »Wenn du es wirklich wissen willst, nimm dir einen. Vielleicht kannst du es dann ja auch erkennen.«
»Aber...«
»Von mir erfährst du es nicht.«
»Klingt doch lustig«, sagte Ben und stieß Yanko mit der Schulter an.
Vorsichtig schnitten sie sich auch jeweils einen Pilz ab.
Dann setzten sie sich zu dritt mit untergeschlagenen Beinen in einen Kreis. Nica brach ein kleines Stück von ihrer Kappe ab und schob es sich mit Zeigefinger und Daumen in den Mund. Genüsslich leckte sie sich beide Finger ab und kaute ganz langsam mit geschlossenen Augen. Anschließend bröckelte sie sich ein zweites Stück ab und schob es hinterher.
Ben und Yanko taten es ihr nach.
Im Mund zerfiel der Pilz fast von selbst, nur die Oberhaut der Kappe hielt zusammen und schmiegte sich klebrig an die Zunge. Ben kratzte sie mit den Zähnen ab und kaute sie zu einem Brei. Es schmeckte bittersüß und nussig zugleich und ein wenig herb nach kühler Erde. Ein leichtes Kribbeln breitete sich rasch in Bens Mundraum aus, ein Gefühl von Taubheit. Grinsend schob er sich ein zweites Stück zwischen die Lippen. Das Kribbeln wurde ein wenig stärker, doch sonst geschah nichts. Er sah, hörte, roch und spürte nichts anderes als zuvor, auch überfielen ihn keine besonderen Eingebungen.
»Und jetzt?«, fragte er nach einer Weile. »Was soll jetzt passieren?«
»Hab Geduld«, sagte Nica. »Du musst der Wahrheit schon ein wenig Zeit lassen, zu dir zu gelangen. Aber sie wird dich erleuchten.«
»Jetzt redest du wie ein Priester«, brummte Yanko.
»Der Pilz ist ja auch für Priester.«
»Und das bedeutet, dass man...?«
»Seid einfach still und konzentriert euch auf seinen Geschmack und das Kribbeln. Er wird gleich anfangen.«
Ben ließ die Hände sinken und versuchte vollkommen zu entspannen. Er lauschte auf die singenden Vögel, das Rascheln der Blätter und den rauschenden Bach und betrachtete den halben Pilz in seinen Händen. So also erkannten die Priester die Wahrheit. Habemaas, der Hellwahpriester aus Trollfurt, hatte davon nie etwas gesagt, aber so ein Geheimnis behielt man wohl auch besser für sich. Stets hatte er behauptet, die Wahrheit lasse sich in alten Legenden und dem Strahlen der Sonne finden, und wer ihr Licht deuten konnte wie auch den Flug der Vögel, der würde Hellwahs Willen erfahren. Aber Ben wusste auch, dass sich zahlreiche Zauber in einfachen Dingen oder Wesen verbargen, in toten Ratten und in Blut. Warum also nicht auch in einem einfachen Pilz?
Er starrte ihn an, strich mit dem Zeigefinger der Rechten sorgsam über ihn hinweg. Immer deutlicher konnte er die einzelnen Fasern im schmutzig weißen Stiel erkennen. So wunderbar geformt war dieser Pilz – es musste wahrlich ein besonderer sein. Er schob seine Zunge im Mund hin und her, um dem Geschmack nachzuforschen, dem pelzigen Kribbeln. Genüsslich steckte er sich einen weiteren Brocken zwischen die Lippen.
Langsam wanderte das Kribbeln seinen Kopf hinauf, als würden zahllose Fliegen durch seine Haare wimmeln. Es kitzelte. Die Lippen schwollen an und schienen plötzlich vollkommen ausgetrocknet zu sein. Immer wieder fuhr er sich mit der ebenfalls dicken Zunge darüber, und zugleich fühlte er sich herrlich leicht, nahm alles viel intensiver wahr, die frühmorgendlichen Geräusche des Waldes formten sich zu einer fröhlichen Melodie, die er am liebsten mitpfeifen wollte, doch er konnte die Lippen nicht gleichzeitig spitzen und lächeln. Das Grau der Felsen zersplitterte zu tausend unterschiedlichen Grautönen, er konnte die kleinste Struktur im Stein sehen, ja, konnte sie mit seinen Fingerkuppen richtiggehend spüren, ohne sie wirklich zu berühren. Das Grün des Mooses wurde zum einzig wahren Grün der Welt, dem grünsten Grün aller Zeiten, dem ursprünglichen Grün, so tief und saftig. Nicas offenes blondes Haar hatte das Licht der aufgehenden Sonne aufgesaugt, selbst hier im Schatten der Felsen, und jede einzelne Strähne wurde zu einem Lichtstrahl. Mit geöffnetem Mund starrte Ben sie an, während sie den Kopf mit geschlossenen Augen kreisen ließ. Vom Pilz in ihrem Schoß war nur noch der Stiel übrig.
Auch Yanko hatte inzwischen die ganze Kappe gegessen. Den Stiel hatte er sich ins linke Ohr gesteckt, während er das rechte auf den Felsboden gelegt hatte und selig vor sich hin brabbelte: »Ich kann sein Herz schlagen hören. Ich kann sein Herz schlagen hören.«
Ben hörte nichts schlagen, doch er spürte plötzlich einen kalten Hauch über die Felsen hinwegziehen, wie der beißende Nordwind, der im Spätherbst den ersten Schnee von den strahlend weißen Gipfeln des Wolkengebirges nach Trollfurt hinuntergeweht hatte. Schneller als sich die Härchen auf seinen Armen aufrichten konnten, war der eisige Hauch wieder verschwunden. Ben blickte sich um und sah für einen winzigen Moment zahlreiche Steckbriefe an den umstehenden Bäumen hängen. Ausnahmslos handelte es sich um Steckbriefe, auf denen Nica, Yanko und er gesucht wurden. Nicas Haar strahlte auch auf ihnen wie die Sonne, während seines wie hässliches Gestrüpp wirkte, tief in die Stirn hängendes, vertrocknetes Moos.
»Tausend Gulden«, murmelte er. »Bei einer solchen Summe werden sie uns durch die ganze Welt jagen.«
»Ich kann sein Herz schlagen hören«, brabbelte Yanko noch immer.
Mit dem nächsten Lidschlag waren die Steckbriefe verschwunden, doch Ben wusste nun, dass sie an den Haaren erkannt werden würden, das hatte der Seherpilz ihm offenbart. Wie auch die Wahrheit über sein Haar: Es war hässliches, verdorrtes, traurig herabhängendes Moos. Niemand konnte solches Haar lieben.
In aller Ruhe zog er sein Messer und hielt sich die Klinge vor das Gesicht. Sie schimmerte silbern, und er bewegte sie hin und her, immer schneller. Glückselig betrachtete er das flackernde Schimmern der Klinge.
Nica ließ immer noch den Kopf kreisen.
Es war wirklich ein wunderschönes Messer, das er von Yanko bekommen hatte. Gerührt strich Ben mit den Fingern über die Klinge, er hatte das Gefühl, einfach alles berühren zu wollen. »Danke, Yanko. Du bist der beste Freund der Welt.«
»Ich kann sein Herz schlagen hören«, sagte Yanko und öffnete die Augen. Langsam hob er den Kopf, strahlte Ben an, zog den Stiel aus seinem Ohr und hielt ihn Ben entgegen. »Der Fels hat ein Herz. Hör mal.«
»Später, das hat noch Zeit. Erst musst du dir die Haare wachsen lassen. Und zwar schnellstens. Damit sie dich nicht mehr erkennen. Das ist dringend! Die elendigen Steckbriefe sind überall.«
»Die Haare wachsen lassen?« »Ja. Deine sind zu kurz zum Schneiden. Und wir müssen uns verändern. Unsere Haare werden uns verraten.«
Yanko lachte laut und meckernd los, schlug dabei mit den flachen Händen auf den Boden. Nach ein paar Augenblicken brach das Lachen abrupt ab, und er starrte Ben mit weit aufgerissenen, glänzenden Augen an. »Verdammt, du hast Recht.«
»Die Pilze haben Recht.«
Yanko brummte zustimmend und rollte den Stiel zwischen den Handflächen hin und her. Dann zerquetschte er ihn bedächtig und rieb sich die Überreste in die stoppeligen Haare. Mit wackeligen Beinen erhob er sich und stieg vom Felsen herab. »Ich geh zum Fluss und gieß’ meine Haare, bis sie mir tief in die Stirn hängen.«
Ben nickte, den Blick stur auf die funkelnde Klinge in seiner Hand gerichtet. Er konnte sich in ihr spiegeln. Einen Moment lang starrte er auf seine Haare, vielleicht auch einen Tag lang, wer konnte das schon unterscheiden, dann packte er mit der Linken seinen Schopf und setzte die Klinge knapp über der Kopfhaut an. Es ziepte, als er an den Haaren herumsäbelte, aber er biss sich auf die Lippen. Jammern und Weinen war für Kinder. Immer wilder riss und zerrte er an ihnen, Büschel um Büschel fiel zu Boden.
»Autsch.« Das Messer war ihm abgerutscht, und er hatte sich die Kopfhaut geritzt. Doch der Schmerz ebbte rasch wieder ab, ein Tropfen Blut rann ihm über die Stirn, und er wischte ihn beiläufig weg. Pah! Was für eine Babywunde, das spritzte ja gar nicht.
Dann setzte er neu an. Noch dreimal schnitt er sich, bevor er nach letzten Haarsträhnen tastete.
»Du blutest«, sagte Nica, die plötzlich neben ihm kniete. Erschrocken schnitt er sich jetzt auch noch in die Stirn.
»Autsch!« Vorwurfsvoll sah er sie an.
»Autsch«, sagte Nica mitfühlend. »Jetzt blutest du noch mehr.«
»Ach nein«, knurrte er. »Und warum?«
»Weil du dich geschnitten hast.« Sie lächelte. »Schneidest du mir auch die Haare? Ich weiß, warum du es tust.«
Ben schüttelte den Kopf. »Sonnenstrahlen kann man nicht einfach abschneiden.«
»Bitte. Wenn ich es selbst machen muss, schneide ich mich bestimmt.«
Er sah ihre Haare rot werden wie eine untergehende Sonne, doch er wollte nicht, dass es Nacht wurde auf Nicas Kopf. Noch während er sich über diesen Gedanken wunderte, griff er vorsichtig nach einer ersten Strähne und schnitt sie auf Kinnhöhe ab. Kürzer würde er es nicht machen, es durfte nicht vollkommen dunkel werden auf ihrem Kopf.
Unentschlossen hielt er die sonnengleiche Strähne in der Hand, er konnte sie einfach nicht zu Boden fallen lassen. Also stopfte er sie sich in die Hosentasche und langte nach der nächsten.
Nica kicherte.
Als er fertig war, kniff er die Augen zusammen, um sein Werk zu begutachten. Sonderlich gerade war ihm der Schnitt nicht gelungen, doch das machte nichts, auch die Ränder der Mittagssonne faserten aus, wenn man direkt hineinblickte.
»Feuerschuppe hat es mir erzählt«, sagte Nica.
»Was?«
»Dass du der Erste warst.«
»Der Erste?«
»Der Erste auf meinem Balkon.« Sie streckte die Hand aus und strich über seine Wange. Sie begann zu kribbeln, und dieses Kribbeln war stärker als das, das der Pilz hervorgerufen hatte.
»Ich...« Ben wollte etwas sagen, nur wusste er nicht, was. Bilder von der Nacht, als er zu ihrem Fenster hochgestiegen war, tauchten in seinem Kopf auf. Es schien ewig her zu sein.
Nica beugte sich vor und küsste ihn ganz sanft auf den Mund. Ihre Lippen waren ebenso trocken wie seine. Einen Moment lang verharrte Ben wie zu Stein erstarrt, doch Nica zog den Kopf nicht wieder zurück. Dann erwiderte er den Kuss.
Es dauerte lange, bis sie sich voneinander lösten. Jedes Taubheitsgefühl war aus Bens Zunge gewichen, und doch spürte er noch die Leichtigkeit des Pilzes.
Unten am Bach landete Aiphyron und rief: »Essen! Es gibt... ähm... ein Tier.«
Der Rufbrachte die Erinnerung an die Welt wieder in Bens Gedanken, und er sagte ganz leise: »Yanko ist mein Freund.«
»Ja. Aber warum hast du nie etwas gesagt?«
Ben zuckte mit den Schultern. Was sollte er darauf antworten? Ich konnte nicht, ich war auf der Flucht? Du hättest mir damals, nicht zugehört? Nach seiner Rückkehr nach Trollfurt war alles anders gewesen, alles zu spät.
»Es gibt Essen«, sagte er und erhob sich.
»Warum hast du nichts gesagt?«
»Yanko ist mein Freund«, murmelte Ben noch einmal.
Beladen mit Schuldgefühlen kletterte er von den Felsen. Nica folgte ihm schweigend.