DER GOLDENE SCHLÜSSEL
Das ist doch Schwachsinn, du Eiterkopf!«,
fluchte Ben. »Wieso sollten wir die Knochen unter dem Fenster
vergraben? Was soll das bringen?«
»Schutz vor den bösen Geistern verstorbener
Wilderer. Oder willst du dich im Schlaf ausnehmen lassen wie ein
gepunkteter Wildbulle? Ich nicht!«, motzte Yanko.
»Ich auch nicht!«, rief Ben. »Aber das ist doch
Unsinn! Die Geister von Wilderern kommen immer durch die Tür, sie
sind dazu verflucht, sich nach ihrem sündigen Leben an die Regeln
des Anstands zu halten. Wir müssen die Knochen unter der
Türschwelle vergraben!«
»Mach doch, was du willst. Ich vergrabe meine
Knochen unter meinem Fenster!«
Keifend standen sich die beiden Freunde gegenüber.
Der drahtige Ben war nur unwesentlich älter und größer, er hatte
schon ebenso viele Raufereien gegen den kräftigeren Yanko gewonnen
wie verloren. Unter dem verstrubbelten braunen Haar, das ihm tief
in die Stirn hing, funkelten die graublauen Augen angriffslustig
hervor, während Yankos dunkle Augen selbst jetzt, mitten im Streit,
noch schalkhaft zu blitzen schienen, als könne er nicht einmal den
ernst nehmen.
Nica saß in ihrem ramponierten weißen Kleid oben
auf der bröckligen Außenwand der Ruine, das lange, leuchtend blonde
Haar zu einem einfachen Knoten geschlungen, und sah mit großen
dunklen Augen und einem Lächeln, das sie seit dem Tod ihres Vaters
vor wenigen Wochen viel zu selten
gezeigt hatte, auf die beiden Streithähne herab. Die wenigen
Strahlen der schräg stehenden Nachmittagssonne, die durch das
dichte Laub des die Ruine umgebenden Waldes drangen, schienen ihr
mitten in das lächelnde Gesicht. Nica fürchtete sich nicht vor den
Geistern von Wilderern, schließlich besaß sie ein altes Amulett,
das sie vor wenigen Monaten von ihrer Tante bekommen hatte, an dem
Abend, als der Aufbruch nach Trollfurt festgestanden hatte. Eines
der wenigen Dinge, die sie bei ihrer Flucht nicht hatte
zurücklassen müssen.
»Du wirst mir noch danken, dass ich meine Knochen
unter der Tür vergrabe. Sie bieten dann nämlich auch euch Schutz!«,
stieß Ben hervor und stapfte um die Ecke, vorbei an den drei
geflügelten Drachen, die faul im ehemaligen sonnendurchfluteten
Burghof herumlagen und sich nicht regten; nur ab und zu zuckte ein
Schwanz, als wolle er ein lästiges Insekt vertreiben. Wobei Drachen
natürlich zu groß waren und ihre geschuppte Haut zu dick, als dass
sie sich um Insekten hätten kümmern müssen.
Die längst verfallene Ruine erhob sich auf einer
kleinen Lichtung, ganz oben auf einem dicht bewachsenen Hügel
inmitten des Furchenwalds, nur wenige Meilen entfernt von der Stadt
Falcenzca. Einst musste sie ein wehrhaftes Kloster oder eine
weitläufige Burg gewesen sein, doch inzwischen waren die steinernen
Überreste von Moosen, Gräsern und Sträuchern überwuchert, sogar
eine einsame knotige Feuereiche erhob sich inmitten der ehemaligen
Stallungen. Brunnen gab es keine mehr, der ehemalige Kamin diente
als Auffangbecken von Regenwasser; wenn es denn mal regnen sollte.
Nur der große, runde, unterste Raum im ehemaligen Ostturm war noch
überdacht. Doch Geister schwebten nicht von oben über Mauern
herein, davon hatte Ben noch
nie gehört. Sie hielten den Kontakt zur Erde, in der sie begraben
waren.
Ben warf sich vor der Türschwelle zum Turmzimmer
auf die Knie, zerrte das Messer, das Yanko ihm vor seiner ersten
Flucht aus Trollfurt geschenkt hatte, aus dem Gürtel, und begann,
das wuchernde Gras, die Wurzeln und die Erde zwischen den Ritzen
der verwitterten Pflastersteine herauszukratzen. Nur mühsam kam er
voran, die Steine waren groß und seit Jahrhunderten hier, die
Ritzen zwischen ihnen schmal. Er achtete nicht auf das Schnauben
der Drachen und den Vogelgesang in seinem Rücken, sondern grub stur
weiter, bis er den ersten Stein aus dem Boden heben konnte. Die
Erde darunter war dunkel und feucht, obwohl es seit Tagen oder eher
Wochen nicht geregnet hatte. Ein aufgeschreckter, fingerdicker
weißer Wurm wühlte sich hektisch in die Tiefe zurück.
Angeekelt verzog Ben das Gesicht und starrte ihm
nach, bis er verschwunden war; zu spät fiel ihm ein, dass man den
Wurm vielleicht für einen Zauber hätte verwenden können.
Egal, dachte er. Erst würde er den Schutz
vor untoten Wilderern zu Ende bringen, dann konnten sie ja in Ruhe
nach weißen Würmern graben, wenn Yanko oder Nica wussten, was man
mit ihnen anstellen könnte. Vielleicht kannte sich Yanko ja
wenigstens mit weißen Würmern aus, wenn er schon keine Ahnung von
Schutzzaubern mit Hasenknochen hatte.
Nachdem der erste Stein heraus war, ging es
leichter. Ben stieß die Klinge tief in die Erde und hebelte den
nächsten heraus, dann einen dritten und vierten. Schließlich hatte
er die gesamte Vorderseite der Türschwelle freigelegt.
Die Schwelle bestand aus einem ausgetretenen
dunkelgrauen
Gestein, das von einem feinen Gespinst aus weißen Linien
durchzogen war. Sie war außergewöhnlich massiv und reichte zwei
Handbreit in die Tiefe, die Erde direkt unter ihr war tiefschwarz
wie Torf. Auch war sie ein wenig wärmer als der sonstige Boden und
trocken, stellte Ben fest, als er Platz für die Knochen schaffen
wollte. Kurz zuckte er zurück, doch als er die Finger hineingrub,
stieß er auf etwas Hartes. Zuerst dachte er an eine Baumwurzel,
doch es schien aus Metall zu sein und lag locker in der Erde.
Hastig umschloss er das Ding und zog es aus der Tiefe. Es war ein
Schlüssel aus Gold.
Ungläubig starrte er ihn an, dann wischte er
vorsichtig den Dreck ab. Der Schlüssel war groß, so lang wie die
Hand eines ausgewachsenen Mannes, und die Räute war einem
Drachenkopf nachempfunden. Kleine weinrote Edelsteine bildeten die
Augen, sie funkelten im Sonnenlicht, als wären sie lebendig. Der
Bart bestand aus einer ausgebreiteten, gezackten Drachenschwinge –
es konnte kein Schloss geben, in das dieser Schlüssel passte.
Ausprobieren konnte ihn Ben aber nicht, die Tür über der Schwelle
war schon lange nicht mehr hier, es gab nur noch verbogene rostige
Scharniere in der Wand. In der ganzen Ruine fand sich keine Tür und
kein Tor mehr.
»Hey, Yanko. Nica«, krächzte er. Der kleine Streit
von eben war vergessen, wie all die anderen in den Tagen zuvor. Zu
vieles verband sie, seit sie gemeinsam gegen die Ketzer in der
alten Blausilbermine Trollfurts gekämpft hatten, die Nica einem
gigantischen erwachenden Drachen opfern wollten, obwohl ihr Vater
sie angeführt hatte. Auch gegen die ordenstreuen Rechtgläubigen
Trollfurts hatten sie sich gewandt, denn diese hielten Ben für
einen Mörder und wollten Drachen versklaven, indem sie ihnen die
Flügel und damit den
freien Willen abhieben. Auf zwei geflügelten Drachen waren sie
gemeinsam geflohen, und eine solche Freundschaft zerbrach nicht so
schnell, auch wenn sich Ben in den letzten Wochen erst daran hatte
gewöhnen müssen, dass die beiden ein Paar waren und er nur ihr
Freund.
Ben räusperte sich und rief lauter. Dabei konnte er
den Blick nicht von dem Schlüssel abwenden. Mit einem Hemdzipfel
reinigte er noch die letzten dreckigen Verzierungen, und nun
schimmerte das Gold des Schlüssels so klar, als habe er bis gerade
eben in der Auslage eines Goldschmieds gelegen und nicht tief in
der Erde.
»Was ist los?«, fragte Yanko, als er und Nica um
die Ecke bogen.
Ben hielt ihnen den Schlüssel entgegen und zeigte
ihnen, wo er ihn gefunden hatte.
»Ist das Gold? Echtes Gold?«, fragte Nica.
Doch bevor sie ihn in die Hand nehmen konnte,
griffYanko danach. »Heiliger Trollbollen! Das ist phantastisch
gearbeitet. So was hab ich noch nie gesehen, der Schwung der Ohren,
die feinen Schuppen. Jeder Zahn ist zu erkennen. Das ist ein
Meisterwerk.«
Ben grinste, als gelte das Kompliment ihm, obwohl
er den Schlüssel nur gefunden, nicht gefertigt hatte. Yanko wusste,
wovon er sprach, schließlich war sein Vater Schmied in
Trollfurt.
»Darf ich jetzt auch mal?«, fragte Nica spitz und
sah Yanko mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Ähm, ja, klar«, sagte Yanko und reichte ihr hastig
den Schlüssel.
Ben grinste. Er konnte sich nicht erinnern, dass
sich Yanko je untergeordnet hatte oder sich von irgendeinem Jungen
in Trollfurt hatte herumschubsen lassen, selbst wenn dieser zwei
Köpfe größer und dreimal so breit gewesen war. Doch bei Nica sah es
ganz anders aus.
»Was hatte der Schlüssel unter der Schwelle
verloren?«, fragte Yanko, während Nica das Kunstwerk bewundernd in
den Händen drehte.
»Ein Ersatzschlüssel für Notfälle?«, schlug Ben
vor, ohne nachzudenken.
»Klar, Schrumpfkopf. Und immer, wenn sich der
Ritter versehentlich ausgesperrt hat, musste er den halben Weg vor
der Tür aufreißen, um an den Schlüssel zu kommen. Er ist nie ohne
Schaufel aus dem Turm gegangen, falls er den Schlüssel vergessen
sollte. Sehr sinnvoll! Ersatzschlüssel müssen leicht zu erreichen
sein.«
»Selbstverständlich. Am besten an einem
beschrifteten Haken gleich neben dem Burgtor. Da freut sich dann
jeder Belagerer, weil er gar keine Armee mehr mitbringen muss, um
deine Burg einzunehmen. Krötenfurzer!«
»Schlammtrinker!«
»Drachenkottaucher!«
»Eiterkopf!«
»Dreifach bepisster...«
»Jungs!«, rief Nica, und Ben und Yanko hörten auf,
einander anzuknurren und sahen sie an. »Ich glaube nicht, dass das
ein Ersatzschlüssel ist.«
»Sage ich doch...«, murmelte Yanko.
»Sohlenlecker«, zischte Ben.
»Das muss irgendein Zauber sein.« Nica hielt den
Schlüssel gegen den wolkenlosen blauen Himmel direkt über der Ruine
und starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Eine Schwelle
ist ein mächtiger Ort für einen Zauber. Und
eine normale Tür kann man mit diesem Ding auf keinen Fall
öffnen.«
Die beiden Jungen nickten. Unwillkürlich blickte
Ben in das runde Turmzimmer hinein, doch dort hatte sich nichts
verändert. Noch immer fiel das Sonnenlicht durch die drei Fenster
herein, noch immer lagen ihre wenigen Habseligkeiten über den
staubigen Boden verstreut, und auch an den Wänden hatte sich keine
weitere Tür geöffnet. Nica und Yanko sahen sich ebenfalls um und
schienen auf etwas zu lauschen, als müsste sich eine Veränderung
mit einem Geräusch ankündigen. Die Vögel sangen noch immer, die
Drachen schnauften in aller Gemütlichkeit.
»Heißt das, ich habe jetzt irgendeinen Zauber
zerstört?«, fragte Ben leise. »Ich meine, indem ich ihn ausgegraben
habe?«
Seine Freunde zuckten mit den Schultern und sahen
zu Boden. Ihnen war sichtlich unwohl bei diesem Gedanken. Yanko
räusperte sich und brummte: »So verfallen, wie die Ruine ist, hat
hier bestimmt kein Zauber mehr gewirkt.« Doch es klang weder
überzeugt noch überzeugend.
»Lasst uns mal rumschauen, vielleicht hat sich ja
doch etwas geändert«, schlug Nica vor und drückte Ben rasch den
Schlüssel wieder in die Hand. »Ist deiner, du hast ihn
gefunden.«
Langsam schob Ben ihn in die tiefe rechte Tasche
seiner abgeschabten und mit zahlreichen bunten Flicken übersäten
Hose. Zum ersten Mal im Leben besaß er etwas Wertvolles, abgesehen
von dem Blausilber, das sie in der Mine eingesteckt hatten, doch er
konnte sich nicht freuen. Zu viele Geschichten von armen Tölpeln
kannte er, die einen Zauber gebrochen hatten und daraufhin von
seiner freien Magie besessen wurden. Oder sie wurden von einem
Fluch getroffen, der den
Zauber schützte. Ben hatte von Frauen gehört, denen riesige Warzen
auf den Augenlidern wuchsen, so dass sie diese nicht mehr öffnen
konnten, wie auch von einem Bauer, über dessen Feldern es nicht
mehr geregnet hatte, selbst wenn über die Äcker seiner Nachbarn das
stürmischste Gewitter hinwegfegte, nur weil er ihren
Fruchtbarkeitszauber vor lauter Neid aus dem Boden gerissen
hatte.
Die Erde um den Schlüssel herum war tiefschwarz und
trocken gewesen, und der Tod trocknete die Dinge aus. Was war das
für ein Zauber?
Ben fluchte und stapfte mit seinen Freunden durch
die Ruine, doch sie bemerkten nichts, was sich seit dem Fund
verändert hatte. Noch immer dösten kleine gelbe Salamander auf den
Mauerresten und huschten davon, wenn sie ihnen zu nahe kamen. Eine
silberne Libelle, auf deren Flügeln sich die wechselnden Grüntöne
der Blätter spiegelten, tanzte durch die Ruine, und weder sie noch
andere Tiere noch die dämmernden Drachen wirkten nervös. Nirgendwo
hatte sich eine bislang verborgene Tür geöffnet, kein Keller voller
Schätze war plötzlich erschienen. Auch stürzten die alten Mauern
nicht ein, sie standen fest, auch ohne dass der Schlüssel in der
Erde ruhte. Irgendwo rieselte ein wenig grauer Mörtel zu
Boden.
Mit Sonnenuntergang waren letztlich die meisten
Bedenken verflogen, und als sich Yanko und Nica in das Turmzimmer
zurückzogen, waren die beiden bester Laune, lachten und alberten
herum. Nica wirkte ausgelassen wie nie seit dem Tod ihres Vaters.
Bislang hatte sie Ben nicht darauf angesprochen, worüber er sehr
dankbar war. Schließlich war er es gewesen, der ihn mit der als
Waffe geschwungenen Fackel getroffen,
in Brand gesteckt und in den Drachenschlund gestoßen hatte. Auch
wenn der Drache Nicas Vater aus- und gegen die Wand gespuckt hatte,
hatte doch Ben seinen Tod eingeleitet.
Tagsüber wusste er, dass es richtig gewesen war,
dass es keine andere Möglichkeit gegeben hatte, den mordgierigen
und besessenen Ketzer zu stoppen, doch oft genug träumte er
deswegen noch immer schlecht, denn nachts schlief sein Verstand.
Dann sah er sein von Wut und Hass verzerrtes Gesicht, den Schmerz
und die Überraschung, als er mit voller Wucht von der Fackel
getroffen wurde. Viel deutlicher als in jener Nacht hörte er den
Schädelknochen knirschen und den dumpfen Aufprall gegen die
Felswand. Manchmal erwachte Ben davon, riss japsend die Arme hoch,
um einen Angriff abzuwehren, einen Angriff, der nicht kam.
Ben sah Nica und Yanko nach, wie sie Hand in Hand
zu ihrem Schlafplatz schlenderten, auch wenn er in der Dunkelheit
nicht mehr als grobe Schatten erkannte. Dann stapfte er zu seiner
Decke, die er am anderen Ende der Ruine ausgebreitet hatte. Er
wollte die beiden nicht hören, solange er allein daneben liegen
musste, ihr Getuschel, die Küsse und Berührungen. Er wollte nicht
neben diesen Geräuschen liegen und sich einsam fühlen. Für einen
Moment dachte er an die schöne Anula, die er in Falcenzca
kennengelernt und anfangs für eine rüschennasige Rinnsteinschnepfe
gehalten hatte. Die er belogen und getäuscht hatte, um den Drachen
Juri zu befreien, die ihn dann jedoch so intensiv angesehen hatte,
dass er es nicht vergessen konnte. Leichtfertig hatte er
versprochen, sie zu besuchen, wenn er erneut nach Falcenzca käme,
doch seit Wochen war er nicht in die Stadt hinübergelaufen. Jetzt
wünschte er sich, sie wäre hier bei ihm.
Dann bemerkte er, wie sich die Drachen erhoben.
Alle drei
breiteten die Flügel aus, auch die von Juri waren in den letzten
Wochen dank Bens außergewöhnlicher Gabe vollständig nachgewachsen,
und seit gestern konnte er wieder fliegen. Ben war ein
Drachenflüsterer, und das bedeutete, er verfügte über die Kraft,
Drachen zu heilen, indem er ihnen die Hände auflegte. Sogar
abgeschlagene Körperteile wuchsen unter seiner Berührung wieder
nach, nur den Tod konnte er nicht rückgängig machen.
Drei Drachen hatte er bislang geheilt – allen hatte
ein Ordensritter einen oder zwei Flügel abgeschlagen, denn der
Orden der Drachenritter glaubte an die alte Legende, die besagte,
dass die Flügel von Samoth, dem dunklen Gott der Tiefe, verflucht
seien, und nur ohne sie könne ein Drache frei sein. Doch Ben
wusste, dass Drachen ohne Flügel nicht frei waren, sondern
willenlos wie Schoßtierchen, leicht zu befehligen und zu reiten.
Die Ketzer dagegen waren überzeugt, Drachen seien Geschöpfe Samoths
und man müsse sie unterwerfen, indem man ihnen die Flügel nahm. Und
so machten sowohl der Orden der Drachenritter als auch der
ketzerische Orden der Freiritter Jagd auf wilde Drachen, um ihnen
die Flügel abzutrennen. Ben wollte den geknechteten Wesen die
Flügel und Freiheit zurückgeben.
Die drei, bei denen es ihm bereits gelungen war,
waren bei ihnen geblieben. Aiphyron war der Erste gewesen, ein
großer Drache mit Schuppen vom tiefen, wunderschönen Blau einer
alten Himmelsbuche. Feuerschuppe war kleiner, vielleicht acht
Schritt lang, und von dunkelroter, teils oranger oder gar gelber
Färbung, sein Panzer wirkte wie ineinandergeflochtene Flammen, er
war von Nicas Vater geknechtet worden. Den massigen, schilffarbenen
Juri hatten Ben und Aiphyron aus dem Stall des Händlers Dicime in
Falcenzca entführt.
Nun erhoben sie sich zu dritt. Tagsüber taten sie
es wegen der Nähe zu der großen Stadt nicht, sie wollten die
Ordensritter, die ihnen Flügel und damit die Freiheit nehmen
wollten, nicht auf die Ruine aufmerksam machen, in der sie seit
beinahe einem Monat lagerten. Doch nachts wollten sie sich frei
fühlen.
Ben hörte die Flügel schlagen, sah ihre Schemen
über den Baumwipfeln verschwinden. Er verharrte mit einem
glücklichen Lächeln auf den Lippen, dann kletterte er auf das
höchste Stück der einst mächtigen Außenmauer, anstatt sich
hinzulegen. So weit wie möglich kraxelte er hinauf und suchte sich
eine bequeme Sitzposition, so dass er eine verwitterte Zinne als
Rückenlehne benutzen konnte und kein spitzer Stein in seinen
Hintern piekste. Lächelnd legte er den Kopf in den Nacken und
blickte in den klaren Sternenhimmel empor.
Der Mond war halb voll und von klarem Weiß, in
seinem Licht konnte Ben hin und wieder den Schatten eines Drachen
vorüberhuschen sehen. Sie schraubten sich in ferne Höhen hinauf,
warfen sich in wilde Sturzflüge und tollten herum wie ausgelassene
Welpen, obwohl zumindest Aiphyron schon deutlich mehr Jahre auf dem
Buckel hatte als jeder verknöcherte, verbiesterte Erwachsene, den
Ben kannte. Ihnen zuzusehen, machte Ben glücklich, es waren die
schönsten Geschöpfe, die er je getroffen hatte – vielleicht
abgesehen von einigen Mädchen.
Und es machte ihn glücklich, weil seine Gabe den
dreien ermöglicht hatte, wieder zu fliegen. Kurz starrte er auf
seine Hände, dann hob er den Kopf wieder. Es waren keine besonders
großen Hände, sie waren schlank und schmutzig, aber dennoch steckte
eine so große Gabe in ihnen.
Was war das für eine alte Überlieferung, der
zufolge man
einem Drachen die Flügel abhacken musste, um ihn auf diese Weise
zu einem friedliebenden Geschöpf zu machen? Immer wieder hatte sich
Ben das gefragt, doch keine Antwort gefunden. Das Böse steckte
nicht in den Schwingen! Wie konnte man das nur glauben, wenn man
die Augen öffnete und sich einen freien Drachen besah? Ohne Flügel
blieben versklavte, der Sprache beraubte Geschöpfe zurück, die sich
nicht von der Erde erheben konnten. Was waren das für strahlende
Ritter und Priester, die den Unterschied zwischen Bösem und
Freiheit nicht kannten? Hatte Ben auch einst geträumt, selbst ein
Ritter zu werden, inzwischen verabscheute er den Orden nur
noch.
In solche Gedanken versunken beobachtete er, wie
Aiphyron durch die Luft wirbelte, sich in die Tiefe stürzte, knapp
über den dunklen Baumwipfeln die Flügel ausbreitete und elegant
über die Ruine hinwegsegelte, über Bens Kopf, dicht gefolgt vom
gedrungenen Jurbenmakk, der Juri genannt werden wollte, und
Feuerschuppe, der sich nicht an seinen Drachennamen erinnern
konnte.
Wie lange er ihnen zugesehen hatte, wusste Ben
nicht, als Aiphyron plötzlich neben ihm landete. Aufrecht auf den
Hinterbeinen stehend, lehnte er sich lässig an die Mauer, so dass
sein Kopf direkt vor Ben verharrte.
»Was ist los, Junge?«, fragte er.
»Nichts.«
»Ach, komm schon, für wie blind hältst du mich?
Immer wenn du nachts in den Himmel starrst, geht dir irgendwas im
Kopf um. Spuck’s aus.«
Langsam zog Ben den goldenen Schlüssel aus der
Tasche. Er sagte nichts davon, dass er sich einsam fühlte, wenn er
Yanko und Nica zusammen sah, dass er sich manchmal daran
erinnerte, wie er selbst in Nica verliebt gewesen war, noch vor
Yanko, und dass er an Anula dachte, immer öfter, an ihre
leuchtenden Augen und das glänzend schwarze Haar, auch an die
kleinen Erhebungen, die sich unter ihrer grünen Livree abgezeichnet
hatten. An ihre roten Lippen, die zu küssen er versäumt hatte. In
seinen Gedanken war nicht viel von ihrer Hochnäsigkeit geblieben.
Ben sagte auch nichts davon, wie gern er den Drachen beim Fliegen
zusah, dass er nicht einfach so in die Nacht starrte, sondern zu
ihnen hinauf. Das alles behielt er für sich, er erzählte nur vom
Fund des Schlüssels und fragte: »Meinst du, ich bin jetzt
verflucht? Hast du so einen Drachenschlüssel schon einmal
gesehen?«
»Drachenschlüssel? Wir haben keine Schlüssel. Was
sollen wir damit denn absperren? Die Kleidertruhe für unsere
Feiertagsschuppen? Oder unsere Paläste in den Wolken, gemauert aus
Regentropfen?« Aiphyron grinste sein seltsames, lippenloses
Drachengrinsen, und Ben ließ sich davon anstecken.
»Du glaubst also nicht, dass ich verflucht bin?«,
hakte er noch einmal nach.
»Verflucht? Wegen eines derartig winzigen Dings?
Das glaubst du doch selbst nicht.« Aiphyron beachtete den Schlüssel
erst jetzt so richtig, roch an ihm und näherte sich mit dem Auge
auf höchstens zwei Handbreit Entfernung. »Sieht aus wie
Menschenwerk, nur feiner, schöner. Wenn ich es mir recht besehe,
ist es viel zu schön für eine Arbeit aus ungeschickten
Menschenhänden. So etwas könnte niemand von euch groben,
ungeschlachten, kurzlebigen, ungeschickten...«
»Ja, ich hab’s verstanden«, brummte Ben. »Wir
können nichts. Aber ein Drache mit derart ungelenken Riesenklauen
muss gerade reden.«
Aiphyron grinste.
Ben knurrte »Nacktflieger« und knuffte den Drachen,
der ihn schon wieder verladen hatte, spielerisch auf die
Schnauze.
»Warte mal!« Aiphyron hörte auf zu grinsen. »Ich
glaube, ich habe tatsächlich schon einmal von einem solchen
Schlüssel gehört oder zumindest von so einem Drachenkopf. Ich kann
mich nicht mehr richtig erinnern, ich weiß wirklich nicht mehr, ob
es um einen Schlüssel ging oder nur um einen derart fein
gearbeiteten Drachenkopf mit roten Augen aus Edelstein. Irgendetwas
war damit. Aber das ist Jahre her, viele, viele Jahre.«
»Kein Witz?«
»Nein, kein Witz diesmal. Ich kann mich nur nicht
richtig erinnern.« Aiphyron starrte den Schlüssel an, dann Ben. Er
schnaubte und schüttelte den Kopf, als wolle er lästige Insekten
vertreiben. »Aber ich bin sicher, dass du nicht verflucht bist.
Ganz sicher.«
»Gut«, sagte Ben. Das war doch schon mal etwas.
»Danke.«
Dann erhob sich Aiphyron wieder in die Luft,
wünschte Ben eine gute Nacht und stürzte in den Himmel.
In aller Ruhe stieg Ben von der Mauer und rollte
sich in seine Decke. Er dachte an Anula, die kleingewachsene,
hübsche, hochnäsige Hausdienerin mit den verkniffenen Mundwinkeln,
die höchstens zwei Jahre älter war als er. In seinen Gedanken
lachte sie viel, küsste ihn und berührte ihn mit sanften Fingern.
Ihre Augen leuchteten wie damals, als ihre Hände gemeinsam aufjuris
Schulterknubbel gelegen hatten.
Er spürte sein Herz heftiger schlagen, dabei hatte
er ihr doch nur etwas vorgespielt: dass er ein Bürgermeistersohn
mit geheimen Auftrag sei und dass er wiederkommen würde. Das hatte
er nie ernsthaft geplant, seit Wochen hielt er sich nun wenige
Meilen von der Stadt entfernt auf, doch nie hatte
er sie besucht. Juris Flügel wären auch weitergewachsen, wenn er
einen Nachmittag nach Falcenzca gegangen wäre. Dass er es nicht
getan hatte, war doch Beweis genug, dass er nichts für sie empfand,
oder nicht? Warum also schlug sein Herz jetzt schneller?
Aber morgen, dachte er, morgen würde er zu ihr
gehen. Nur so. Vielleicht wusste sie mehr über diese Ruine, wer
hier einst gelebt haben mochte. So würden sie möglicherweise mehr
über den goldenen Schlüssel herausfinden. Ja, das sollte er
wirklich tun. Der Schlüssel mochte noch wichtig sein, es ging um
ihn, nicht darum, sie wiederzusehen. Das würde er auch Nica und
Yanko begreiflich machen, denen er bislang noch gar nichts von ihr
erzählt hatte. Er war nicht verliebt, auf keinen Fall.
»Nicht in dich, Anula«, murmelte er, schloss die
Augen und sagte es gleich noch einmal, und dann nur noch einmal
ihren Namen. Sein Herz schlug laut.
Über ihm tollten die Drachen durch den nächtlichen
Himmel.