GEFANGEN
Die Fesseln schnitten Ben ins Fleisch. Er
hätte heulen können vor Wut. Warum nur hatten sie einem fremden
Jungen einfach so vertraut? Die Ritter hatten sich gründlich davon
überzeugt, dass Nica wirklich eine Ketzerin war. Jeder von ihnen
hatte die Tätowierung genau in Augenschein genommen. Nun saß sie am
Tisch und biss sich auf die Unterlippe, um nicht zu weinen.
Ben und Yanko hatten sich ausziehen müssen, und als
nirgendwo ein Drache auf ihrer Haut entdeckt worden war, hatte man
sie wieder in ihre Kleider gesteckt. Dem Jungen waren fünf Gulden
in die Hand gezählt worden. Fünf! Mit einem schuldbewussten Blick
zu Nica war er schließlich gegangen.
Du weißt nicht, wie viel du eigentlich für uns
hättest bekommen, können, dachte Ben bitter. An Händen und
Füßen gefesselt kauerte er neben Nica und Yanko in der hintersten
Ecke der Gaststube. Zwei große bärtige Ritter saßen ihnen gegenüber
und behielten sie im Auge, die Schwerter griffbereit vor sich auf
dem Tisch.
Wenn auch Margulv nicht wusste, was sie wert waren,
so schienen es die Ritter zu ahnen. Triumphierend wedelte einer von
ihnen mit einem Steckbrief vor Bens Gesicht herum. »Erkennst du
dich wieder?«
»Von was sprichst du?« Ben bemühte sich um einen
irritierten Gesichtsausdruck.
»Davon.« Der Ritter drückte Ben den Steckbrief fast
auf
die Nase. Er war ein kleiner kräftiger Mann von etwa vierzig
Jahren, der nur noch spärliches braunes Haupthaar hatte. Seine
kleinen, eng stehenden Augen huschten ständig unruhig hin und her,
und beim Sprechen befeuchtete er nach jedem zweiten Satz die dünnen
Lippen mit einem schnellen Wischer der spitzen Zunge.
Ben wich zurück und schüttelte den Kopf. »Ich
verstehe überhaupt nichts.«
»Bist du dir sicher, Arthen?«, mischte sich ein
großer drahtiger Ritter mit hoher Stirn ein, dessen Gesicht von
einer mächtigen, zweimal gebrochenen Hakennase dominiert wurde. Das
rechte Auge war blau und gelb geschwollen, als hätte er vor wenigen
Tagen einen kräftigen Tritt abbekommen.
»Natürlich. Zwei Jungen, ein Mädchen, alle im
richtigen Alter, auch die Haarfarbe stimmt. Nur die Länge nicht,
aber Haare kann man schneiden.«
Der Drahtige nahm sich den Steckbrief und starrte
mit seinem gesunden Auge lange darauf. »Die Kleidung stimmt auch
nicht.«
»Mensch, Friedbart! Wer sich die Haare schneidet,
kann sich auch umziehen.«
»Ja, klar.«
»Und schau dir den Kerl mit all den Schnitten auf
dem Kopf doch an: verwahrlostes Aussehen passt. Das Mädchen
hat dunkelbraune Augen und eindeutig ein schmales, wenn auch
dreckiges Gesicht. Meinst du nicht?«
»Doch, aber was ist mit dem Dritten? Er lächelt
überhaupt nicht, und schon gar nicht scheinheilig.«
»Friedbart! Kein Mensch lächelt den ganzen Tag! Und
schon gar nicht, wenn er gerade gefangen wurde!«
Brummend nickte Friedbart, doch ganz überzeugt
schien er noch nicht zu sein. Immer wieder sah er vom Steckbrief
auf die drei und wieder zurück. »Bist du dir wirklich sicher? Da
steht...«
»Was heißt schon sicher? Es geht um tausend Gulden!
Tausend! Verstehst du das? Weißt du, wie viel das ist? Wir müssen
einfach nur ein weißes Kleid für das Mädchen auftreiben und eine
Hose mit hundert bunten Flicken für den störrischen Burschen. Das
muss sich doch problemlos schneidern lassen. Wir kriegen es schon
hin, dass sie genau so aussehen wie auf dem Steckbrief
beschrieben.« Listig zwinkerte Arthen seinem Kameraden zu.
»Ja, aber wenn sie es nicht sind?«
»Friedbart! Bist du echt so schwer von Begriff?«,
dröhnte Arthen.
Die anderen Ritter, die sich nach der Gefangennahme
wieder ihrem Frühstück zugewandt hatten, lachten und schüttelten
vergnügt die Köpfe: »Der Friedbart wieder. Riesige Stirn, aber
nichts dahinter.«
»Ich...«, sagte Friedbart.
»Was meinst du, wem der Hohe Abt mehr Glauben
schenken wird?«, unterbrach ihn Arthen. »Sollen die drei auch
hundertmal beteuern, dass sie unschuldig sind, wem wird er glauben?
Ihnen oder uns?«
»Aber wenn sie...«
»Hast du jetzt etwa Mitleid mit so ’ner dreckigen
Ketzerin?«
»Nein, aber...« Langsam hellte sich Friedbarts
Gesicht auf, er begann zu grinsen. Ein schrecklich breites Grinsen,
das von einem kleinen Ohr zum anderen reichte. »Jetzt verstehe ich.
Tausend Gulden. Und wir haben nur fünf bezahlt.«
Lachend prosteten sich die Ritter am Tisch zu. »Auf
Friedbart, den schnellsten Denker des Ordens!«
»Friedbart und die tausend Gulden.«
»Tausend!«
Ben schloss die Augen und sackte auf der Bank
zusammen. Mit keiner List der Welt konnten sie sich aus ihren
Fesseln reden, wenn es den Rittern vollkommen egal war, ob sie
schuldig waren oder nicht.
Arthen beugte sich zu ihm herunter, so dass ihre
Gesichter beinahe zusammenstießen, sog die Luft ein und leckte sich
über die Lippen. Seine kleinen blaugrauen Augen bohrten sich kalt
in seine. »Leugne es, solange du willst, doch du bist es wirklich.
Ich kann das riechen. Ich wusste, du würdest kommen.«
Ben presste die Lippen demonstrativ zusammen. Er
würde nichts sagen, würde sie nicht verraten. Solange die Ritter
dachten, sie würden ihren Abt um die Belohnung prellen, konnten sie
sich immer noch verplappern. Vielleicht bekam auch einer ein
schlechtes Gewissen, weil er plötzlich Angst hatte, Hellwah selbst
zu betrügen. Das war ihre einzige Chance. Nein, Ben würde sich
nicht verplappern, nicht noch einmal.
»Ganz wie du willst. Doch du wirst schon noch
reden, glaub mir.« Mit einem bösen Grinsen wandte sich der Ritter
ab und seinen Kameraden zu. »Wer als Erster ein weißes Kleid
auftreibt, das dieser jungen Dame passt, darf mir helfen, es ihr
anzuziehen.«
Schwein, dachte Ben, während Nica Arthen
hasserfüllt anstarrte. Yanko knurrte etwas Unverständliches und
zerrte an seinen Fesseln.
Derweil sprangen die Ritter von ihren Plätzen auf,
Schüsseln, Becher und Stühle wurden umgestoßen, fast alle drängten
aus der Wirtsstube. Selbst im Gesicht des Wirts zuckte es kurz,
als überlegte er, sich ebenfalls auf die Suche zu machen.
Ein junger schmächtiger Ritter, der ganz hinten im
Pulk stand und sich nicht traute, die älteren Kameraden
beiseitezuschieben, rief verzweifelt: »Dann möchte ich ihr die
ketzerischen Drachenaugen ausbrennen, Herr Arthen! Darfich, ja?
Bitte! Ich habe mich als Erster gemeldet.«
»Das hast du. Aber die Augen werden nur denjenigen
ausgebrannt, die ihren Irrglauben widerrufen.«
»Aber jeder hat bisher widerrufen. Wer widerruft
denn nicht?«
»Sie.« Arthen lächelte. »Wir geben ihr nämlich
keine Gelegenheit dazu. Schließlich wollen wir sie als unversehrte
Ketzerin zum Hohen Abt schaffen. Sie soll ja noch ihr Kopfgeld wert
sein, nicht wahr?«
»Oh«, sagte der Junge. »Oh, ja. Natürlich.«
Dann eilte er als Letzter in die Stadt hinaus, auf
der Suche nach einem weißen Kleid. Keiner der Ritter hatte Nicas
Maße genommen. Zurück blieben nur Arthen, Friedbart und die zwei
großen bärtigen Ritter, die die Gefangenen reglos im Auge
behielten.
»Während sich die Kameraden also um angemessene
Kleidung für die junge Dame kümmern«, sagte Arthen mit gespielter
Höflichkeit, »zeige ich euch nun eure Unterkunft für die nächsten
Tage.«
Die Ritter bugsierten sie aus einer Seitentür des
Schankraums. Der Wirt putzte noch immer beiläufig Gläser und
blickte ihnen ohne die geringste Regung hinterher.
Inzwischen stand die Sonne hoch am Himmel. Ben
kauerte auf den groben Bohlen und hielt sich die Hände schützend
vor das Gesicht. Nur ab und zu schielte er zwischen den Fingern
hindurch, doch eigentlich wollte er nicht sehen, was dort
vorging.
Zusammen mit Nica und Yanko saß er in einem drei
Schritt langen und knapp zwei Schritt breiten Käfig, der auf der
Ladefläche eines Pferdewagens befestigt war. Seit zwei oder drei
Stunden stand der Wagen ohne Pferde auf dem ovalen Marktplatz
mitten auf der zweiten Zinne der Stadt und wurde von den zwei
bärtigen Ordensrittern bewacht. Sie bewegten sich kaum – nicht
einmal ihre Gesichter zuckten, wenn eine Fliege auf ihnen landete –
und sagten nichts. Nur wenn sie nach den drei Gefangenen befragt
wurden – woher diese stammten, was sie verbrochen hatten -,
antworteten sie schlicht: »Samothanbeter.«
Eine überreife Wasserbirne zerplatzte an Bens Ohr,
und das matschige Fruchtfleisch drang ihm in den Gehörgang und
tropfte seinen Hals hinab, sein eingerissener Hemdkragen war schon
vollkommen von der klebrigen Feuchte zahlloser Früchte durchweicht.
Ein paar kleine schwarze Kerne rieselten zu Boden.
»Schäm dich!«, brüllte eine alte Frau mit
eingefallenen grauen Wangen, und das blonde Mädchen an ihrer Hand,
höchstens acht Jahre alt und wahrscheinlich ihre Enkelin, spuckte
nach Yanko, kam aber nicht weit genug, weil sie sich nicht bis ganz
an den Käfig herangetraut hatte. Als säßen wilde Tiere darin.
»Komm, versuch es noch mal«, ermunterte die Alte
sie und schob sie ein Stück vor.
Ben sah, wie Yanko stumm die Augen schloss.
Sie waren die Sündenböcke für alles. Ben kannte das
aus Trollfurt, doch noch nie hatte er sich so elend gefühlt; dort
war er nie hinter Gittern gewesen, wenn die anderen ihn gepiesackt
hatten. Stets hatte er noch seine Freiheit gehabt. Sobald er seine
Abreibung bekommen hatte, hatte er nach Hause schleichen und seine
Wunden lecken können. Er hatte sich wehren können, egal, wie
hoffnungslos es gewesen war. Und trotz allem hatte er doch zu ihnen
gehört. Nie war es tatsächlich um sein Leben gegangen.
Hier hingegen waren sie Fremde, namenlose
Eindringlinge von irgendwo, an denen man sich straflos abreagieren
konnte. Für die tief sitzende Wut auf die selbstherrlichen
Ordensritter, die man herunterschlucken musste, für das
schmerzhafte Ausbrennen der Drachenaugen, das man erduldet hatte,
für die Toten vor dem Tor, für das Gefühl der Ohnmacht, wenn man
seinem Glauben abschwören musste, für einfach alles, was in den
letzten Tagen geschehen war. Und dabei konnte man den Ordensrittern
zugleich beweisen, dass man wirklich konvertiert war, dass die
Feinde des Ordens nun auch die eigenen Feinde waren.
Wutverzerrte Gesichter schrien und spuckten sie an,
übermütige junge Männer bewarfen sie mit Obst, denn sie machten ein
Spiel daraus, wer aus größter Entfernung noch immer einen Kopf
traf. Selbst Steine waren nach ihnen geschleudert worden, doch als
Yanko heftig aus einer Platzwunde über dem Auge geblutet hatte,
waren die beiden Ordensritter doch eingeschritten. Schließlich
verlangte der Steckbrief, die Gesuchten lebend abzuliefern.
Ben hatte schon lange aufgegeben zu protestieren,
zu schreien, er sei überhaupt kein Samothanbeter. Stur hielt er den
Kopf unten und ließ einfach alles über sich ergehen. Irgendwann
würden sie aufbrechen, und dann wäre zumindest diese Tortur
vorbei.
Dann würden sie zu ihrer Hinrichtung gekarrt
werden. Manchmal hob er doch den Kopf, blickte sehnsuchtsvoll in
Richtung Klamm und beschimpfte seine eigene Dummheit. Dort drüben
lagen Aiphyron, Juri und Feuerschuppe, und er selbst hatte ihnen
gesagt, sie sollten sich keine Sorgen machen, der Ausflug nach
Vierzinnen könne dauern.
Was hatte er sich nur dabei gedacht?
Wahrscheinlich würden die Drachen drei Tage lang
warten, im Bach baden und sich die Sonne auf die Schuppen scheinen
lassen, bevor sie zum ersten Mal überhaupt einen Gedanken daran
verschwendeten, nach ihren menschlichen Freunden zu suchen. Ach,
Ben hat doch gesagt, das kann dauern, würde Juri sagen und den
anderen irgendeine langatmige Anekdote erzählen, wie er einmal
sieben Wochen auf jemanden hatte warten müssen. Den drei
Schuppenlosen geht es bestimmt prächtig.
Doch bis dahin wären sie schon längst unterwegs zu
diesem Hohen Abt, und wenn die Drachen endlich doch nach ihnen
sehen würden, würden sie sich eine Stadt vornehmen, in der es von
Drachenrittern wimmelte. In Bens Vorstellung wurden Aiphyron erneut
die Flügel abgeschlagen, ebenso Juri und Feuerschuppe, sie wurden
versklavt, und alles nur seinetwegen.
Warum hatte er die Drachen nicht gebeten, nach
sechs Stunden nach ihnen zu sehen?
Warum hatten sie diesem verdammten Jungen
vertraut?
Wütend schlug er sich gegen die Stirn und langte so
in die breiige Überreste einer Frucht. Vielleicht war es auch das
rohe Ei, das der Bäckerlehrling mit dem roten Gesicht nach ihm
geschleudert hatte.
Oder hatte vielleicht sogar Hellwah selbst ihnen
das eingebrockt? Mit ihrem Schwur hatten sie sich gegen seinen
Orden
gewandt, wie auch gegen die Ketzer, die ihn ebenso verehrten, wenn
auch auf andere Art. Aber sie alle lagen falsch, was die Drachen
anbelangte. Trotzig presste Ben die Zähne aufeinander. Sie lagen
falsch! Drachenflügel waren nicht verflucht. Und wenn Hellwah
selbst das glaubte, dann lag eben auch er falsch! Warum sollten
Götter nicht irren können?
Eine Frucht sauste über Ben hinweg, traf jemanden
jenseits des Käfigs. Beschimpfungen wurden hin und her
geschleudert, irgendwer lachte, doch Ben hielt den Kopf unten.
Solange sie sich dort draußen stritten, wurden sie hier drin
wenigstens in Ruhe gelassen.
Kurz schielte er zu Yanko hinüber. Schützend hatte
er den Arm um Nica gelegt, das Blut auf seiner Stirn war getrocknet
und hatte sich mit allem Möglichen vermischt. Yankos Haar war
vollgeschmiert mit zahllosen Essensresten, seine Kleidung von
dunklen Flecken übersät.
»Betet ihr wirklich zu Samoth?«, fragte da eine
leise Stimme neben Ben. Es war das erste Mal, dass diese Frage
gestellt wurde.
Verwundert sah er auf und entdeckte Margulv, der
auf seiner Unterlippe kaute und unruhig hin und her tippelte.
»Das fragst du jetzt?«, fauchte er. »Nachdem du uns
verkauft hast? Bisschen spät, was?«
»Betet ihr zu Samoth oder nicht?« Margulv starrte
Ben hartnäckig an. In seinen versteinerten Zügen war nicht zu
lesen, was in ihm vorging.
»Warum sollte ich mit dir reden?«, knurrte Ben.
»Dreckiger Verrätergnom.«
»Ihr betet zu Samoth«, stellte Margulv schlicht
fest, und Erleichterung zeigte sich auf seinem Gesicht. Als hätte
er jetzt nachträglich die Gewissheit, richtig gehandelt zu
haben.
Ben schielte zu den beiden Rittern, die jedoch mehr
auf den Tumult um den Wagen achteten als auf ihre Gefangenen.
Bürger beschuldigten sich gegenseitig, hier schrie einer »Absicht«,
dort einer »Versehen!«, doch ohne Entschuldigung. Früchte wurden
als Beweismittel geschwenkt, Fäuste geschüttelt. Und irgendwer
schrie: »Ein Versehen? Das hat schon dein stinkender Großvater
behauptet, als er den Hamster meiner Großmutter angezündet hat! Ihm
sei die Fackel aus den fetten Fingern geglitten. Pah! Ausreden,
alles Ausreden!«
»Lass meinen Großvater aus dem Spiel, der ist seit
fünfzehn Jahren tot.«
»Der Hamster schon viel länger!«
Es schien, als würde jeder noch so lange vergrabene
Groll ausgegraben werden, alle waren wild darauf, einen anderen zu
beschuldigen, irgendwen bestraft zu sehen, gerächt, für was auch
immer.
Möglichst unauffällig rutschte Ben Richtung
Käfigrand. Margulv stand nah am Gitter, vielleicht konnte er ihn
packen und es ihm heimzahlen. Seinetwegen saßen sie im Käfig,
seinetwegen würden sie hängen. Ben wollte dem Kerl wehtun,
schrecklich wehtun. Doch dazu musste er ihn erst einmal lange genug
in ein Gespräch verwickeln, bis er zupacken konnte.
»Glaubst du wirklich, wir beten zum Gott der
Tiefe?«, fragte er. »Glaubst du, wir opfern ihm kleine Kinder? Und
fressen die größeren roh? Warum haben wir dich dann nicht gleich
gepackt und noch vor dem Tempel geröstet?«
»Weil es ein Hellwah-Tempel war und ihr
Samothanbeter am liebsten um Mitternacht tötet, wenn die Nacht am
dunkelsten ist.«
»Wer sagt das?«
»Jeder.«
»Dann irrt wohl jeder. Wir jagen auch bei Tag
gern.« Ben schnellte vor, prallte mit der Schulter schmerzhaft
gegen das Gitter, doch das war egal. Sein ausgestreckter Arm ragte
zwischen zwei stählernen Stäben hindurch, und die Hand krallte sich
in Margulvs Kragen.
Der war so überrascht, dass er sich weder wehrte
noch schrie. Voller Wut zerrte Ben ihn heran, so dass das Gesicht
des Jungen gegen eine Käfigstange schlug und nur noch eine
Handbreit von seinem entfernt war. Die Wangen wurden gegen die
Stangen gepresst, Schmerz spiegelte sich in Margulvs Augen.
»Warum hast du uns verraten? Was haben wir dir
getan?«, knurrte Ben und packte immer fester zu, so dass der
Hemdkragen in Margulvs Hals schnitt. »Schau doch vor das Stadttor,
was der Orden euch angetan hat. Und ihnen hilfst du?«
»Ich will ihnen nicht helfen, aber ich brauch das
Geld«, flüsterte Margulv mit dünner Stimme. Er versuchte nicht
einmal, sich loszureißen.
»Und deshalb verrätst du eine Glaubensgenossin?
Wegen ein paar Münzen? Ihr tragt dieselbe Tätowierung!«
»Bislang wurde doch keiner von uns eingekerkert.
Ich dachte, sie verbrennen die Drachenaugen und lassen euch dann
wieder laufen. Das bisschen Schmerz ist auszuhalten, das weiß ich.«
Seine Stimme zitterte. »Meine Mutter ist doch krank.«
»Und ein solcher Verrat macht sie gesund? Wenn sie
wüsste, woher das Geld kommt, würde sie bestimmt vor Scham
sterben.«
Eine winzige Träne zeigte sich in Margulvs Auge,
doch dann verzerrten sich seine Züge und er spuckte Ben ins
Gesicht.
Um sich schlagend, riss er sich los. Ben war von dem plötzlichen
Angriff so überrascht, dass er den Jungen tatsächlich entwischen
ließ.
»Du sagst mir nicht, was richtig und falsch ist! Du
nicht!«, schrie er aus mehreren Schritt Entfernung. Zornig kratzte
er eine Handvoll Splitt und Dreck von der Straße und schleuderte
sie nach dem Käfig. Ben konnte gerade noch rechtzeitig Augen und
Mund schließen, bevor er im Gesicht getroffen wurde. »Wer Samoth
anbetet, hat kein Recht, über andere zu urteilen!«
Dann rannte er davon.
»Ich hoffe, deine Mutter verreckt jämmerlich!«,
brüllte Ben ihm nach. Ihm war egal, dass sie wohl am wenigsten für
all das hier konnte, wenn sie krank daniederlag, er wollte einfach
nur diesem verräterischen Margulv wehtun. Und er wollte die Wut auf
sich selbst hinausbrüllen, die Wut darüber, dass er Margulv nicht
hatte halten können, dass er ihm nicht wenigstens die Nase
gebrochen oder ein blaues Auge verpasst hatte. »Wahrscheinlich bist
du eh nicht aus ihrem Bauch geschlüpft, sondern aus einer
schwarzeitrigen Pestbeule an ihrem ungewaschenen Hintern!«
»Halt’s Maul«, rief irgendwer aus der Menge, und
Ben wurde mit voller Wucht von einer angeschimmelten Zwiebel
getroffen. Hart schmetterte sie gegen seine Nase, es knirschte. Er
hätte heulen können vor Wut und Schmerz, doch er verbiss sich alle
Tränen und verzog sich wieder in die Käfigmitte, das Gesicht
zwischen den Knien, die Hände schützend vor den Ohren. Reglos ließ
er weitere wüste Beschimpfungen und matschiges Obst über sich
ergehen und versuchte, an nichts zu denken, weder an die Schmerzen
noch an die Angst oder die Wut auf sich selbst.
Schließlich tauchten Herr Arthen und die anderen
Ritter auf und spannten zwei große kräftige Pferde mit wilden
Mähnen vor den Käfigwagen.
»Sind das wirklich die Leute, die die armen
Höhlenhamster töten?«, fragte ein kleiner schmächtiger Junge aus
der Menge die Ritter.
»Ja. Es sind sehr, sehr böse Menschen.« Herr Arthen
strich dem Jungen ernst über das Haar.
»Na, was habe ich dir gesagt?«, sagte sein Freund
oder Bruder, der einen halben Kopf größer war und eifrig die
Ordenskrieger anlächelte, während sich der kleine Junge dem Käfig
zuwandte. Seine Hände waren leer und zu Fäusten geballt.
»Das ist für Kaschbi«, stieß er mit rotem Gesicht
und verquollenen Augen hervor und spuckte nach Ben, Yanko und Nica.
»Mörder!«
Dann zog er schniefend und mit hängendem Kopf ab.
Der andere Junge schloss rasch zu ihm auf und legte ihm tröstend
den Arm um die Schulter.
»Na, ihr habt wohl nicht allzu viele Freunde hier«,
sagte Arthen und musterte den mit Fruchtresten und Speichel
übersäten Käfigboden. Mit dem Dolch kratzte er ein Stück Feuerapfel
von den Bohlen, beäugte es und ließ es wieder fallen. »Aber
wenigstens haben sie euch gut gefüttert. Verhungern lassen sie hier
wirklich keinen. Das Essen sollte noch bis morgen langen. Meint ihr
nicht?« Laut lachend wandte er sich wieder ab und rief nach seinem
Pferd.
Währenddessen nahmen ein junger Bursche mit
zahlreichen Muttermalen im Gesicht und eine hübsche blonde Frau –
wohl ein Knappe und eine Jungfrau – auf dem Kutschbock Platz, in
dem auch die Habseligkeiten, die den drei Freunden abgenommen
worden waren, verstaut waren.
Herr Arthen, Herr Friedbart und ein weiterer
Ritter, der selig lächelnd ein weißes Kleid mit zahlreichen Rüschen
und Schnüren auf seine Satteltaschen gebunden hatte, würden sie zu
Pferd begleiten. Ruckelnd setzte sich der Wagen in Bewegung.
Langsam zuckelten sie aus der Stadt, und Ben
blickte durch die Gitterstäbe zurück. Nicht wenige Menschen
starrten ihnen zornig oder voll Abscheu nach, die Fäuste geballt,
doch niemand schien noch weitere Früchte oder Steine übrig zu
haben, um sie nach ihnen zu schleudern. Auch Margulv entdeckte er
in der Menge, doch seine Miene konnte er nicht deuten. Die
Käfigstangen hatten zwei geschwollene rote Linien in seinem Gesicht
hinterlassen, und wenigstens das verschaffte Ben eine kleine,
dumpfe Befriedigung.