TAUSEND GULDEN UND DAS ENDE DER WELT
As sich Ben dem Stadttor von Falcenzca
näherte, hatte er sich noch immer nicht beruhigt. Wie hatte Yanko
ihn so verraten können? Sie waren Freunde! Und wie viel Wut und
Hass steckten in Nica? Wenn diese sich nur gegen den Ketzer
richteten, konnte ihm das egal sein, doch immerhin war es Ben
gewesen, der ihren Vater mit der Fackel in den Drachenschlund
gestoßen hatte. Wenn sie diesem Ketzer die Schuld an den Taten
ihres Vaters gab, wenn sie sie so entschuldigte, würde sie dann
irgendwann Ben dafür hassen, dass er ihren Vater getötet
hatte?
Er hatte es nicht gewollt. In diesem Moment hatte
er überhaupt nicht darüber nachgedacht, hatte sich nur dem Kampf
gestellt, hatte Nica helfen wollen und verhindern, dass die Ketzer
den gigantischen Drachen noch vor seiner Geburt unterwarfen und ihn
voller Schmerz auf die Welt hetzten. Nie hatte Nica ihm einen
Vorwurf gemacht. Indem er ihren Vater getötet hatte, hatte er sie
gerettet, aber dennoch war es ihr Vater gewesen.
Er wollte nicht, dass Nica ihn hasste, auch wenn
sie ihn gerade hintergangen hatte. Dabei konnte er ihre Wut
verstehen, nur Yanko nicht. Yanko hätte ihn warnen müssen, sich
nicht mit ihr zusammen seinen Schwur erschleichen. Verdammter
Krötenkotfresser!
»Weg da!«, brüllte jemand direkt vor Ben. Der
hatte, tief in Gedanken versunken und den Blick zu Boden gerichtet,
seine Umgebung vergessen. Jetzt riss er den Kopf hoch und die
Augen auf. Ein Berittener im grün-weißen Wams und Kettenhemd
trabte mit hochrotem Kopf auf Ben zu und machte keine Anstalten,
sein schwarzes Pferd zu zügeln. An seinem Gürtel hing das große
Schwert eines Ritters, ein runder Schild war hinter dem Sattel auf
das Pferd geschnallt. Er hatte die Gerte erhoben, stierte Ben mit
kleinen verkniffenen Augen an und brüllte wieder: »Aus dem Weg,
Rotznase!«
Hastig sprang Ben von der Straße und schlitterte in
den Graben hinab, rutschte aus und landete im Dreck auf den
Knien.
»Ja, so ist’s recht, Lump! Auf die Knie.« Der
Reiter lachte und preschte an Ben vorbei.
Ihm folgten drei weitere Bewaffnete, die in sein
Lachen einfielen, und die große, verzierte Kutsche eines reichen
Mannes, die von sechs Schimmeln gezogen wurde. Sie bretterten
vorbei, als würden sie aus der Stadt fliehen. Durch das milchige
Kutschenfenster war niemand im Inneren zu erkennen.
Fluchend stieg Ben aus dem knietiefen Graben und
wünschte dem Reiter tausend schmerzende Warzen an den Hintern und
eine unablässig tropfende Eiterbeule auf die Nase. Dabei starrte er
auf sein verdrecktes Hemd und die abgetragene, hundertfach
ausgebesserte und von zahlreichen bunten Flicken übersäte
Hose.
Lump hatte ihn der Reiter genannt. Lump.
Natürlich. Wie kam Ben nur auf die Idee, dass ein anderer Städter
etwas anderes in ihm sehen würde? Jemand wie dieser Ritter oder
auch die schöne Anula. Mochte sie auch eine Dienerin sein, sie war
es bei einem angesehenen Händler, sie lief nicht in Fetzen herum,
und ihre Freunde gewiss auch nicht. Vielleicht war sie ja doch eine
Rinnsteinschnepfe und hielt sich für was Besseres. War sie das etwa
auch? Sie musste Dutzende Verehrer
haben, doch mit Ben wollte niemand mehr zu tun haben. Sagte das
nichts aus? Dutzende gut aussehende, gut gekleidete, gut gebildete
Verehrer...
Doch keiner von ihnen ist ein
Drachenflüsterer, dachte Ben trotzig. Keiner verfügte über eine
besondere Gabe. Sollten sie doch von ihm und seiner Hose denken,
was sie wollten, er war kein Lump! Außerdem hielt Anula ihn noch
immer für einen Bürgermeistersohn mit einem geheimen Auftrag. Diese
Rolle konnte sich mit jedem noch so gepflegten Diener messen. Er
würde ihr einfach nicht die Wahrheit sagen, dann würde schon alles
gut werden.
Ben näherte sich dem turmhohen Tor, das ebenso wie
die gesamte Stadtmauer aus blank geschrubbten Steinen in den
unterschiedlichsten Farben bestand. Grüne, rote, schwarze, blaue,
weiße und andere Vierecke lagen nebeneinander, ohne dass Ben in
ihnen ein Muster oder gar ein bestimmtes Bild erkennen konnte. Jede
Farbe war in unterschiedlichen Tönen vertreten, hell und dunkel,
marmoriert und gefleckt. Unbewusst wurden Bens Schritte schneller,
er passte sich der städtischen Hektik und Eile an.
»Hey, Junge?«, rief ihm einer der Torwächter
hinterher, als sich Ben mit einer Gruppe viehtreibender Bauern und
staubbedeckter fahrender Händler in die Stadt schieben ließ. Obwohl
es mehr fragend als befehlend geklungen hatte, tauchte Ben sofort
in die nächste Gasse ab, den Kopf eingezogen, bereit loszurennen.
Seine Jahre als Sündenbock in Trollfurt hatten ihm diesen
Fluchtinstinkt eingeimpft.
Mit einem raschen Blick über die Schulter erkannte
er jedoch, dass ihm niemand folgte. Der dicke bärtige Wächter
reckte zwar den Hals und schien jemanden in dem Gewühl der Straße
zu suchen – ihn -, doch der andere, ein sehniger,
hochgewachsener Kerl mit Adlernase, winkte kopfschüttelnd ab und
lachte ihn aus. Derweil redete auch noch ein aufgebrachter Bauer
auf beide ein und schwenkte eine rot-blau gefiederte Gans, die wild
mit den Flügeln schlug, vor ihren Augen hin und her.
Dennoch eilte Ben weiter und bog kurz
hintereinander zweimal ab, folgte den schmalen Straßen, die ihn am
sicherlich überfüllten Marktplatz in der Stadtmitte vorbeiführten.
Die Bauern trieben ihr Vieh auf der breiten Hauptstraße weiter,
gefolgt von den Händlern, die ihre Waren noch im Laufen
anpriesen.
Ben musste auf die andere Seite von Falcenzca, und
er wollte schnell zu Anula, schließlich wusste er nicht, wann sie
eine kurze Arbeitspause einlegen durfte. Nach den Wochen im Wald
strömten die zahlreichen Gerüche der Stadt umso intensiver auf ihn
ein, der Duft von frischen Backwaren vermischte sich mit dem
Kotgestank der Tiere, süßliches Parfüm der reichen Damen mit den
Ausdünstungen des Rinnsteins. Ben atmete durch den Mund, um die
Nase zu schonen, und schlängelte sich an in helle Farben
gekleideten Bürgern vorbei, die vor Geschäften herumstanden, an
knienden Bettlern mit eingefallenen Gesichtern und Knechten und
Kindern auf Botengängen, die jeden Bekannten auf dem Weg freudig
begrüßten, weil er eine Ablenkung von den Pflichten versprach. Hie
und da schnappte er Gesprächsfetzen auf, mal ging es um den Markt
und wichtige Einkäufe, dann wieder um geheime Liebschaften, die
lachhaften Erlebnisse eines Trunkenbolds oder schreckliche Ketzer,
die irgendwo auf dem Vormarsch waren.
»Sie sind eine wahre Plage«, ereiferte sich ein
untersetzter, unrasierter Knecht.
»Möge Hellwah uns schützen«, murmelte eine gebeugte
Frau im mittleren Alter.
»Der Orden wird schon für Ordnung sorgen«,
behauptete einer.
»Als ob das wichtig wäre. Viel schlimmer ist doch,
dass die Preise für Äpfel schon wieder gestiegen sind«, beschwerte
sich ein anderer. So trug jeder seine Sorgen laut vor sich
her.
Als Ben an einem Gasthof vorbeikam, vor dem eine
junge Frau mit leuchtend roten Haaren Amulette gegen Ketzerflüche
verkaufte, rief jemand: »Hey! Das ist er doch!«
»Wer?«
»Na, er. Du weißt schon!«
»Er? Unsinn. Der ist viel zu klein und
allein.«
»Aber die Hose! Sieh dir die Hose an!«
»Die Hose... Du hast Recht.«
Achtlos eilte Ben auch an diesem Gespräch vorbei.
Langsam wurden die beiden Stimmen von anderen übertönt,
versickerten zwischen all den weiteren Geräuschen, bis ein lauter
Ruf an Bens Ohr drang: »Auf! Den Kerl schnappen wir uns!«
Schwere Schritte schlugen plötzlich auf das
Pflaster und näherten sich. Galt das ihm? Er hatte doch gar nichts
getan. Hastig blickte er sich um.
Drei Männer rannten auf ihn zu, der groben, aber
gepflegten Kleidung nach Handwerksgesellen. Sie waren deutlich
größer und kräftiger als Ben, und ihre Blicke galten eindeutig ihm,
sie waren hinter ihm her. Einer hatte die Arme so weit nach vorn
ausgestreckt, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor. Doch nur
beinahe – taumelnd und stolpernd stürzte er auf Ben zu, dicht
gefolgt von seinem kahlköpfigen Kameraden, dessen Gesicht von einem
gierigen Lächeln verzerrt
wurde. Es war ein Wunder, dass ihm kein Schaum aus dem Mund
troff.
Drei, vier Schritte hinter ihnen hechelte ein
beleibter Mann mit einem dichten Backenbart her, der keuchend
zwischen wulstigen Lippen hervorpresste: »Halt! Bleib stehen,
Bursche!«
Das war nun wirklich das Letzte, was Ben tun würde.
Er wirbelte herum und rannte los, stieß einen kleinen, für den
Markttag festlich herausgeputzten Jungen zur Seite, der stürzte und
doch vor Überraschung zu weinen vergaß, und bog bei nächster
Gelegenheit ab. Nur nicht geradeaus weiter, unberechenbar bleiben
wie ein Haken schlagender Hase auf der Flucht. Doch die drei Männer
blieben ihm weiter auf den Fersen, oder zumindest die beiden
schlanken. Das Keuchen des Dritten fiel immer weiter zurück.
Ben kannte sie nicht, keinen von ihnen, was wollten
sie also von ihm? Es musste eine Verwechslung sein, aber sie sahen
nicht aus, als würden sie sich auf ein vernünftiges Gespräch
einlassen. Sie waren erstaunt gewesen, ihn allein anzutreffen, doch
er war stets allein gewesen in Falcenzca. Alles deutete auf eine
Verwechslung hin. Wer sollte ihn hier überhaupt kennen? Bei seinen
kurzen Besuchen vor Wochen hatte er mit niemandem Händel gehabt,
und als er mit Aiphyron im Dunkeln Juri befreit hatte, hatte ihn
niemand deutlich gesehen.
Oder etwa doch?
Japsend und mit stechendem Herzen raste Ben durch
die verschlungenen Gassen, immer wieder schlug er eine andere
Richtung ein und hoffte, nicht in einer Sackgasse zu landen. Schon
lange wusste er nicht mehr, wo er sich befand, die Stadt war groß.
Schnaufend und mit schweren Schritten blieben
ihm seine Verfolger im Nacken. Sie forderten ihn nicht mehr zur
Aufgabe auf und schrien nicht nach Unterstützung. Passanten
starrten ihnen hinterher, teils verärgert, teils belustigt, doch
meist mit Desinteresse, solange er keinen anrempelte.
Wahrscheinlich hielten sie ihn für einen kleinen Dieb und wollten
sich keinen Ärger einhandeln, nicht für die Börse eines anderen
oder gar nur einen geklauten Apfel. Wer wusste schon, wie sich ein
Dieb in einem solchen Fall rächte?
»Lauf! Lauf! Lauf!«, feuerte ihn ein lachender Kerl
in einer gelben Livree an, der mit einer Weinflasche in der Hand an
einer Hausmauer lehnte. Ben jagte unter dicht behangenen
Wäscheleinen hindurch, die über dem ersten und zweiten Stock quer
über die Straße gespannt waren. Wären sie nur tiefer unten
angebracht, könnte er sie mit einem Sprung im Lauf herunterreißen
und die viel zu hartnäckigen Verfolger zum Stolpern bringen. Mit
wem verwechselten sie ihn, dass sie die Jagd einfach nicht
aufgaben?
»Das ist er!«, keuchte plötzlich jemand auf einer
Kreuzung, und schon hörte Ben einen weiteren Verfolger, dessen
nackte Sohlen im schnellen Rhythmus über das Pflaster patschten.
Ben drehte sich nicht um, rannte nur immer weiter und weiter,
versuchte verzweifelt, noch einmal das Tempo zu erhöhen.
»Er gehört mir!«, brüllte ein Weiterer mit tiefer,
knarrender Stimme und schloss sich den Verfolgern an. Inzwischen
schlugen zahlreiche schwere Füße auf den Boden, ein dunkles,
bedrohliches Prasseln hinter Ben, das sich nicht abschütteln ließ.
Was war hier los? So viele Leute konnten ihn doch nicht mit
irgendeinem gesuchten Halunken verwechseln!
Hatte er etwa einen Doppelgänger in der
Stadt?
Doch es war seine Hose gewesen, nicht sein Gesicht,
das
die ersten Verfolger auf ihn aufmerksam gemacht hatte. Was war an
seiner alten, tausendfach geflickten Hose denn so besonders?
In Trollfurt war Ben oft durch die Stadt gejagt
worden, einfach weil er dort der Sündenbock gewesen war. Hier
wusste er nicht, weshalb er gehetzt wurde, doch er wusste, dass er
erst rennen und dann nachdenken sollte. Er hatte gelernt, wann man
besser floh, und ihm war klar, dass er seine Verfolger möglichst
schnell loswerden musste, sonst würden es immer mehr werden. Sein
ominöser Doppelgänger musste sich zahlreiche Feinde gemacht haben,
und Ben verspürte nicht die geringste Lust, dessen Schandtaten
auszubaden.
Mit hämmerndem Herzen raste er auf die nächste
Kreuzung zu, da tauchte von links plötzlich ein schwerer,
gemächlicher Ochsenkarren auf, der sich ganz langsam in Bens Weg
schob und die Straße versperrte. Entweder war das das Ende der Jagd
oder seine Chance. Ben rannte einfach weiter, stur auf den hoch
beladenen Karren zu. Auf dem Bock saß ein alter hagerer Bauer, der
eine Peitsche in der Hand hielt und stur nach vorn starrte und auf
seine Ochsen einmurmelte. Mit jedem Schritt erschien Ben seine Idee
idiotischer, das Hindernis unüberwindbarer, doch die Schreie in
seinem Rücken trieben ihn an. Halsbrecherisch setzte er über die
Deichsel hinweg, direkt zwischen Ochsen und Kutschbock.
Der Bauer fluchte und hieb mit der Peitsche nach
ihm, doch viel zu spät. Ben gab einem der Tiere im Sprung noch
einen festen Klaps mit. Es muhte und tat einen Satz nach vorn, und
der erste Verfolger stürzte beim Versuch, Ben zu folgen, in den
Bauern und riss ihn vom Kutschbock. Der nächste rannte in das erste
Wagenrad.
Wildes Geschrei und Ochsengebrüll erhoben sich
hinter
Ben, doch er drehte sich nicht um. Er hetzte in die nächste Gasse,
noch immer waren ihm Fremde auf den Fersen, wenn auch nicht ganz so
dicht. Gleich an der Ecke befand sich ein kleines Wirtshaus mit
winzigen Fenstern und einem verschmutzten Schild über der Tür, von
dessen goldenem Stier die Farbe abblätterte. Ohne nachzudenken,
stürzte Ben hinein.
Noch bevor sich seine Augen an das dämmrige Licht
gewöhnt hatten, stürmte er am Tresen und undeutlichen Gestalten
vorbei, die ihm die Köpfe zuwandten. Einer rief: »Vorsicht!«, doch
das Serviermädchen wich von selbst aus. Irgendwas zerschellte am
Boden, irgendwer fluchte: »Rotznase, eitrige!«
Schwere Schritte und knurrende Verwünschungen
folgten Ben den schmalen Gang nach hinten, und er war nicht sicher,
ob es die Verfolger waren oder der verärgerte Wirt. Er raste am
Kellerabgang vorbei, ohne ihn zu beachten. Solche Keller, in denen
üblicherweise Bier, Fleisch und anderes kühl gelagert wurde,
verfügten über keinen zweiten Ausgang. In einer solchen Sackgasse
hatte sich Ben eine der schlimmsten Abreibungen seines Lebens
eingefangen, er wusste nur nicht mehr, weshalb.
Durch eine schwere, zum Glück nicht abgeschlossene
Holztür stolperte Ben in den Hinterhof, wie er gehofft hatte, und
raste weiter zum sicherlich zwei Schritt hohen Bretterzaun, der den
Hof vom nächsten abtrennte. Dort sprang er hoch, klammerte sich an
die Kante und zog sich hinauf, schwang das rechte Bein hinüber.
Während er sich vollständig über die Kante wälzte, blickte er
zurück. Ein kräftiger Mann mit grauem Backenbart und fleckiger
Schürze, ein glänzendes, unterarmlanges Messer in der Hand,
trampelte in den
Hinterhof. Der Wirt, stellte Ben erleichtert fest. Andere
Verfolger waren nicht zu sehen.
»Ich hoffe, du brichst dir den Hals!«, rief der
Wirt ihm hinterher, doch er gab die Jagd auf. Er hatte Gäste, um
die er sich kümmern musste, die Rache für zerstörtes Geschirr
musste da zurückstehen.
Ben hangelte sich von Innenhof zu Innenhof und
hoffte auf eine unverschlossene Hintertür, den Zugang zu einem
Geschäft, durch das er wieder auf die Straße gelangen konnte.
Jedoch kontrollierte er nur die Hintertüren der Häuser, die auf
eine andere Straße hinausführten als die, in der er verschwunden
war. Für seine Verfolger sollte es aussehen, als habe er sich in
Luft aufgelöst. Er wusste nicht, wie schnell sie ihn hinter den
Häusern suchen würden, doch hier saß er in der Falle – zu wenig
Platz, um davonzulaufen. Sobald sie im Gasthof nach ihm fragten,
würde der verärgerte Wirt sie mit Vergnügen auf seine Spur
setzen.
Als er im dritten oder vierten Hinterhof neben
verschlossenen Türen auch auf eine behangene Wäscheleine stieß,
fiel ihm wieder ein, dass mindestens einer der Männer ihn anhand
seiner Hose identifiziert hatte. Egal, wie seltsam das klang, es
blieb eine Tatsache, dass mehrere Männer unabhängig voneinander
hinter ihm her waren. Wenn sie ihn nun alle anhand der Hose erkannt
hatten, dann hatte er hier die Möglichkeit, sich zu tarnen. Er zog
seine Hose aus und betrachtete sie. Sie war ein Sammelsurium bunter
Flicken und Nähte, und tatsächlich wollte ihm niemand einfallen,
der etwas Ähnliches trug.
Rasch wählte er von der Leine eine dunkle
Leinenhose und schlüpfte hinein. Sie war zu groß, also krempelte er
die Beine um. Den Bauch polsterte er mit seiner alten Hose aus, die
er sich unter das weite Hemd stopfte. So war er nicht nur das
auffällige Kleidungsstück losgeworden, sondern wirkte auch dicker.
Den Gürtel schnürte er möglichst eng und band sich zu guter Letzt
noch ein Tuch um den Kopf, wie es die Seefahrer aus dem Süden
taten. Leider gab es kein schwarzes, er musste sich mit einem aus
hellem Rot begnügen, das aussah, als wäre es für Mädchen. Er band
es sich so eng hinter die Ohren, dass diese abstanden. Alles, was
sein Aussehen veränderte, war gut. Dann machte er sich wieder auf
den Weg.
Drei Hinterhöfe weiter spielten zwei Mädchen mit
kleinen Puppen aus Stroh. Die Puppen trugen kleine Krönchen aus
hellen Nussschalen, die Mädchen sorgsam geflickte Kleider aus
gefärbtem Leinen. Als er über den Zaun geklettert kam, starrten sie
ihn neugierig an, und die Dunkelhaarige fragte misstrauisch: »Bist
du ein Pirat?«
»Nein, keine Angst, ich tue euch nichts.« Ben
zeigte die leeren Handflächen, um zu beweisen, dass er nicht
bewaffnet war. Kreischende kleine Mädchen, die die Aufmerksamkeit
auf ihn lenkten, konnte er nun wirklich nicht gebrauchen.
»Bist du dann ein verkleideter Prinz?«, wollte die
andere wissen. Sie hatte hellblondes, zu vier Zöpfen geflochtenes
Haar und legte den Kopf schief, während sie ihn mit dunklen Augen
musterte.
»Vielleicht.« Er zwinkerte ihnen zu und lächelte
beruhigend. »Wo wohnt ihr denn?«
Sie deuteten auf ein Haus mit schäbig grauer Wand.
Ben ging hinüber und griff nach der Hintertür. Tatsächlich war sie
unverschlossen. »Zeigt ihr mir, wie es von hier auf die Straße
geht?«
»Da dürfen wir nicht allein hin«, sagte die
Dunkelhaarige, doch die Blonde stand auf und nahm ihn bei der Hand.
»Suchst du eine Prinzessin?«
»Ja.«
»Aber in Falcenzca gibt es keine.«
»Doch.« Ben zwinkerte ihr verschwörerisch zu und
legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Nur wird sie von einem bösen
Händler gefangen gehalten. Ich bin hier, um sie zu befreien.«
»Das ist gut«, sagte das Mädchen und sah ihn mit
großen dunklen Augen an. »Böse Händler gibt es hier viele.« Sie
zögerte einen Moment lang, dann fügte sie hinzu: »Aber nette gibt
es auch.«
Sie führte ihn ins Haus und einen schmalen kahlen
Flur am Treppenhaus vorbei bis zur Vordertür. Dort zeigte sie ihm
einen im Stützbalken verborgenen Haken, an dem ein Schlüssel hing,
viel zu hoch für das Mädchen, doch sie wollte, dass Ben sie
hochhob, damit sie den Schlüssel nehmen und aufsperren konnte. Als
er sie ließ, lächelte sie glücklich. Dann hängte er den Schlüssel
zurück, trat auf die Straße hinaus und drehte sich noch einmal
um.
»Erzähl niemandem von mir, ja?«, verlangte er.
»Sonst ist die Prinzessin in Gefahr.«
Sie nickte ernst und presste die Lippen fest
aufeinander. Behutsam schloss Ben die Tür.
Mit einem raschen Blick nach rechts und links
vergewisserte er sich, dass kein Passant ihn auffällig musterte. Er
schob die Hände in die Hosentaschen und schlenderte möglichst
lässig und breitbeinig die Straße hinab, wie ein Schiffsjunge auf
Landgang, der viel Zeit und nichts zu befürchten hatte. Dabei
lauschte er aufmerksam auf die Gespräche um ihn her, doch niemand
schien ihn zu erkennen.
Nach drei Querstraßen erreichte er die Stadtmauer,
an der er sich orientieren konnte. Nun wusste er wieder, wo in
Falcenzca
er sich befand. Pfeifend ging er weiter, bis er auf einen
schlanken Baum stieß, an dessen glatten silbrig grauen Stamm ein
Pergament genagelt war. Drei Gesichter waren darauf abgebildet, die
er nicht erkannte. Es handelte sich um zwei junge Männer und ein
Mädchen, die im angefügten Text näher beschrieben wurden.
GEÄCHTETE GESUCHT
Lebend
1000 GULDEN BELOHNUNG
BEN – hager, braunes wildes Haar,
verwahrlostes Aussehen,
Hose aus hundert bunten Flicken
YANNKO QUEPAHNI – normal gebaut, kurz geschorenes
dunkles Haar, dunkle Augen, scheinheiliges Lächeln,
unzüchtig aufgeknöpftes Hemd
NICA YIRKHENBARG – schlank, langens blondes Haar,
schmales Gesicht, dunkelbraune Augen, weißes Kleid
Hose aus hundert bunten Flicken
YANNKO QUEPAHNI – normal gebaut, kurz geschorenes
dunkles Haar, dunkle Augen, scheinheiliges Lächeln,
unzüchtig aufgeknöpftes Hemd
NICA YIRKHENBARG – schlank, langens blondes Haar,
schmales Gesicht, dunkelbraune Augen, weißes Kleid
Sie sind des Verrats am Großtirdischen Reich
und der
Ausübung schlimmster ketzerischer Handlungen überführt.
Trotz ihres jungen Alters von 15 oder 16 Jahren haben sie
mehrere Männer auf dem Gewissen und eine ganze Stadt
terrorisiert.
Vorsicht!
Sie sind mit Samoth im Bunde!
Möglicherweise in Begleitung von
zwei wilden geflügelten Drachen.
Ausübung schlimmster ketzerischer Handlungen überführt.
Trotz ihres jungen Alters von 15 oder 16 Jahren haben sie
mehrere Männer auf dem Gewissen und eine ganze Stadt
terrorisiert.
Vorsicht!
Sie sind mit Samoth im Bunde!
Möglicherweise in Begleitung von
zwei wilden geflügelten Drachen.
Ben starrte das Pergament an, und erkannte sich
nicht wieder, nur die Zeichnung von Nica wies eine gewisse
Ähnlichkeit mit dem echten Mädchen auf.
»Tausend Gulden«, hauchte er. Das gelbe
Drachensiegel in der unteren Ecke der Verlautbarung zeigte, dass es
der mächtige Orden der Drachenritter höchstselbst war, der die
Belohnung ausgesetzt hatte. Wenigstens stand auf dem Steckbrief
lebend, und nicht lebend oder tot.
Für einen kurzen Moment wurden Bens Beine schwach,
als ihm bewusst wurde, wer nun alles hinter ihnen her war. Jeder
ehrbare Ritter und jeder verlauste Kopfgeldjäger, der etwas auf
sich hielt, ja, sogar zahlreiche einfache Bürger witterten das
schnelle Geld, wie er eben erlebt hatte. Wenn man das Alter der
drei in Betracht zog, war die Belohnung erstaunlich hoch. Leicht
verdientes Geld – natürlich nur, sofern man sie ohne die Drachen
antraf.
»Ja. Tausend Gulden sind ein Haufen Geld«, brummte
ein alter Mann, der sich neben Ben gestellt hatte und sein
gehauchtes Erstaunen falsch interpretierte. »Wäre ich noch jünger,
würde ich selbst mein Glück versuchen.« Er musterte Ben von oben
bis unten. »Aber bist du nicht ein wenig zu jung, um nach Kopfgeld
zu jagen?«
»Ja, nein... doch«, stammelte Ben, bis er sicher
war, dass der Alte ihn wirklich nicht erkannt hatte. Er atmete tief
durch. Die Frage war doch viel eher, ob er nicht zu jung war, um
auf diese Weise gejagt zu werden. »Allein würde ich es nicht wagen.
Aber ich habe vier ältere Brüder, und mein Vater kann des Geld gut
gebrauchen.«
»Wer nicht, wer nicht«, murmelte der Alte und legte
Ben die fleckige Hand auf die Schulter. »Du bist ein guter Junge,
ein guter Junge. Dein Vater kann stolz auf dich sein. Wirklich
stolz. Ich sage es ja immer, nicht alle jungen Leute sind solcher
Abschaum.« Er nickte, spuckte nach dem Steckbrief und stapfte
langsam davon. »Abschaum. Abschaum. Abschaum.«
Ben starrte auf das Pergament und beobachtete, wie
der Speichel des Alten über Nicas hübsches Gesicht lief. Das wollte
er nicht sehen, schnell wischte er ihn mit dem Ärmel weg.
Tausend Gulden.
Wer so viel Geld ausgab, hatte nicht vor, sie
wirklich am Leben zu lassen, wurde ihm plötzlich klar. Der Orden
wollte eine aufsehenerregende öffentliche Hinrichtung mit großen
Reden über Hellwahs Macht und Gerechtigkeit. Er wollte dem Volk
etwas bieten, und Tote konnte man nicht mehr hängen. Mit Abscheu
dachte Ben an die einzige Hinrichtung, die er je erlebt hatte, an
den aufgeregten kleinen Jungen, der auf die Schultern seines Vaters
geklettert war, um alles gut beobachten zu können. Mühsam
schüttelte Ben die Vorstellung ab, wie zahlreiche plappernde Kinder
aufs Schafott blickten, wo er, Yanko und Nica auf den Henker
warteten.
Tausend verfluchten Gulden.
Sie wurden also gejagt, wirklich gejagt. So oft er
über die Jahre in Trollfurt auch vor irgendwem davongelaufen war,
nie war es um sein Leben gegangen, stets nur um eine Tracht Prügel
und darum, beschimpft und verspottet zu werden. Bis er vor ein paar
Wochen fälschlicherweise des Mordes an einem Ritter beschuldigt
worden war. Doch Trollfurt lag viele Meilen von hier entfernt, und
er hatte gedacht, das alles mit seiner Flucht hinter sich gelassen
zu haben. Er hatte gedacht, all das wäre vorbei, seit der wahre
Mörder, Nicas Vater, gestorben war. Wie kam er nur darauf? Nur weil
Nica, Yanko und er den wahren Schuldigen kannten, änderte sich für
alle
anderen noch nichts. Sie hielten weiterhin ihn für schuldig, und
nicht nur eines einzigen Mordes.
Geächtete gesucht.
Sie waren Geächtete, und kein Gesetz schützte sie
mehr, jeder durfte sie gefangen setzen, ja sogar töten. Nun war
nicht mehr nur eine kleine heruntergewirtschaftete Stadt am Rande
des Landes hinter ihnen her, sondern das ganze Großtirdische Reich.
Fluchend riss er das Pergament vom Baum und stopfte es in die
Hosentasche. Ihm wurde übel.
Kurz dachte er darüber nach, sofort aus der Stadt
zu verschwinden, aber der Alte hatte ihn nicht erkannt, er würde es
schon schaffen bis zu Anula. Jetzt musste er erst recht mit ihr
reden, musste sie über jene drei Geächteten ausfragen, die überall
gesucht wurden. Er sehnte sich nach ihrem Lächeln und danach, sie
zu berühren, und sei es nur flüchtig. Ach was, flüchtig, er würde
sie küssen. Genau deshalb war er doch in die Stadt gekommen, wenn
er ehrlich zu sich selbst war.
Entschlossen ging er los. So oft er sich auch
sagte, dass seine Verkleidung ihn vor der Entdeckung schützte, er
schielte doch bei jedem Schritt nach rechts und links, hielt sich
möglichst unauffällig am Rand der Straße, stets darauf bedacht,
einen Fluchtweg im Blick zu haben. Sein Herz schlug schnell, in
seinem Bauch rumorte es. Er starrte in zahllose Gesichter, doch
niemand schien ihn zu erkennen, die meisten sahen einfach über ihn
hinweg.
Schließlich erreichte er eine T-Kreuzung an der
Stadtmauer, an der sich eine kleine Menschenansammlung gebildet
hatte. Es war Markttag, und Ben erwartete entsprechend, einen
tüchtigen Händler oder herumtobenden Gaukler zu entdecken, der
diese Ansammlung hervorgerufen hatte, vielleicht auch einen weit
gereisten Barden, der Sagen aus fernen
Gegenden zum Besten gab. Doch es war ein alter Prediger auf einer
grob gezimmerten Holzkiste, dem die gut vier Dutzend Menschen
lauschten.
Als sich Ben der Kreuzung näherte, bemerkte er,
dass der Prediger noch gar nicht so alt war – nur hatte er sein
spärliches langes Haar mit Mehl eingestäubt, und seine Stimme
krächzte heiser. Dürr und ausgemergelt war er, als hätte er
monatelang gefastet, die Wangen waren nicht vom Alter eingefallen.
Die Haut seines nackten Oberkörpers war von der Sonne verbrannt,
vom Wetter gegerbt. Seine Augen glänzten wie im Fieber.
»Das Böse ist gekommen, und es kam in harmloser
Gestalt, um uns zu täuschen. Denn Samoth ist der große Täuscher!«,
rief der Prediger der Menge zu, während sich Ben möglichst
unauffällig einen Weg durch die Zuhörer bahnte. Es waren Männer,
Frauen und Kinder von unterschiedlichem Stand, die alle mit
ängstlichen Blicken an den aufgerissenen Lippen des Mannes hingen.
Er sprach mit Inbrunst und hob dabei beschwörend die Hände. »Und
der große Täuscher kam aus der schwärzesten Tiefe herauf und fuhr
in den Körper eines schmächtigen Jungen. Dessen Vater erkannte
seine böse Natur und floh, weil er zu schwach und feige war, sich
gegen einen Gott zu stellen. Ja, und ich sage euch, viele Männer
wären an seiner Stelle geflohen, denn viele sind schwach und feige.
Die Mutter kämpfte mit all ihrer Liebe länger um ihren Sohn, doch
schließlich gab auch sie auf und ertränkte sich. Denn wie konnte
sie einen Sohn lieben, in den Samoth gefahren war? So blieb der
Junge allein zurück, und seine Bosheit konnte ins Grenzenlose
wachsen, ohne dass ihr jemand mit strenger Hand Einhalt gebot. Und
weil Samoth das Stückwerk liebt, das Chaos und die Unordnung, weil
er der
Gott der tausend Lügen ist und stets seine dunkle Natur zu
verbergen trachtet, trug der Junge eine Hose aus tausend bunten
Fetzen, eine Verhöhnung jedes anständigen Beinkleids.«
Ben stutzte und starrte den Prediger an. Vor
Überraschung vergaß er sogar, über diesen Unsinn zu lachen.
Allerdings lachte auch keiner der Zuhörer. Sprach der Prediger auf
der Kiste etwa von ihm? Hatte er ihn gerade wirklich Samoth
genannt, das Böse? Vorsichtig tastete er nach seiner Hose unter dem
Hemd, überprüfte, dass sie nicht versehentlich irgendwo heraushing,
und ging weiter.
»Und er kam auf die Erde und tötete einen
aufrechten Ritter!« Der Prediger spuckte die Worte jetzt förmlich
aus, seine Rede wurde mit jedem Satz schriller und eindringlicher.
»Er stahl den Drachen des aufrechten Ordensmanns und verfluchte das
arme Geschöpf, indem er ihm neue Flügel schenkte! Er rief eine
weitere geflügelte Bestie herbei, und auf dieser saßen zwei
Dämonen, die ebenfalls die Gestalt zweier unschuldiger Kinder
angenommen hatten. Ein wunderschönes Mädchen und ein glockenhell
lachender Knabe. Mit unheiliger Freude schlachteten sie einen
verdienten Drachenreiter und sieben unschuldige Männer ab,
vergossen ihr Blut in den tiefsten Höhlen des nördlichen
Wolkengebirges und beschworen so den großen Drachen herbei, den
fluchbeladenen Boten des Weltenendes. Seine Flügel sind so
gigantisch, dass ihr nachtgleicher Schatten eine ganze Stadt
bedeckt, wenn der Drache vor der Sonne vorüberfliegt. Und dieser
Schatten ist so sehr von Samoths Gift und Dunkelheit erfüllt, dass
jeder Zehnte in ihm an der schwarz eiternden Pest erkrankt, jeder
Zwanzigste mit Blindheit geschlagen wird, und jedem Dreißigsten
faulen beide Füße ab und zerfallen zu leichenfressenden Würmern,
auf dass er sich nur noch auf schmerzenden
Knien fortbewegen kann. Denn so will der große Täuscher Samoth die
Menschheit sehen: krank und blind und kriechend!«
Die Menge knurrte und fluchte, jammerte über
Samoths Macht und das Ende der Welt und erflehte murmelnd Hellwahs
Hilfe. Ein paar wenige wandten sich kopfschüttelnd ab, doch die
meisten starrten weiter zum Prediger hinauf, damit er ihnen von
weiteren Ereignissen und kommenden Gefahren berichtete. Manch einer
hob den Kopf und suchte den Himmel ab, als fürchte er jeden Moment
die Ankunft des unheilbringenden Drachen.
Stinkender Trollbollen noch mal, dem Spinner hat
Hellwah wirklich das Hirn auf die Größe einer runzligen Kiebelnuss
verbrannt, dachte Ben. Jetzt also das Ende der Welt. Was würde
ihnen demnächst noch alles in die Schuhe geschoben werden?
Kopfschüttelnd ließ er den Prediger und seine
furchtsame Gemeinde hinter sich und eilte weiter, ohne sich noch
einmal umzudrehen.