TAUSEND GULDEN UND DAS ENDE DER WELT
As sich Ben dem Stadttor von Falcenzca näherte, hatte er sich noch immer nicht beruhigt. Wie hatte Yanko ihn so verraten können? Sie waren Freunde! Und wie viel Wut und Hass steckten in Nica? Wenn diese sich nur gegen den Ketzer richteten, konnte ihm das egal sein, doch immerhin war es Ben gewesen, der ihren Vater mit der Fackel in den Drachenschlund gestoßen hatte. Wenn sie diesem Ketzer die Schuld an den Taten ihres Vaters gab, wenn sie sie so entschuldigte, würde sie dann irgendwann Ben dafür hassen, dass er ihren Vater getötet hatte?
Er hatte es nicht gewollt. In diesem Moment hatte er überhaupt nicht darüber nachgedacht, hatte sich nur dem Kampf gestellt, hatte Nica helfen wollen und verhindern, dass die Ketzer den gigantischen Drachen noch vor seiner Geburt unterwarfen und ihn voller Schmerz auf die Welt hetzten. Nie hatte Nica ihm einen Vorwurf gemacht. Indem er ihren Vater getötet hatte, hatte er sie gerettet, aber dennoch war es ihr Vater gewesen.
Er wollte nicht, dass Nica ihn hasste, auch wenn sie ihn gerade hintergangen hatte. Dabei konnte er ihre Wut verstehen, nur Yanko nicht. Yanko hätte ihn warnen müssen, sich nicht mit ihr zusammen seinen Schwur erschleichen. Verdammter Krötenkotfresser!
»Weg da!«, brüllte jemand direkt vor Ben. Der hatte, tief in Gedanken versunken und den Blick zu Boden gerichtet, seine Umgebung vergessen. Jetzt riss er den Kopf hoch und die Augen auf. Ein Berittener im grün-weißen Wams und Kettenhemd trabte mit hochrotem Kopf auf Ben zu und machte keine Anstalten, sein schwarzes Pferd zu zügeln. An seinem Gürtel hing das große Schwert eines Ritters, ein runder Schild war hinter dem Sattel auf das Pferd geschnallt. Er hatte die Gerte erhoben, stierte Ben mit kleinen verkniffenen Augen an und brüllte wieder: »Aus dem Weg, Rotznase!«
Hastig sprang Ben von der Straße und schlitterte in den Graben hinab, rutschte aus und landete im Dreck auf den Knien.
»Ja, so ist’s recht, Lump! Auf die Knie.« Der Reiter lachte und preschte an Ben vorbei.
Ihm folgten drei weitere Bewaffnete, die in sein Lachen einfielen, und die große, verzierte Kutsche eines reichen Mannes, die von sechs Schimmeln gezogen wurde. Sie bretterten vorbei, als würden sie aus der Stadt fliehen. Durch das milchige Kutschenfenster war niemand im Inneren zu erkennen.
Fluchend stieg Ben aus dem knietiefen Graben und wünschte dem Reiter tausend schmerzende Warzen an den Hintern und eine unablässig tropfende Eiterbeule auf die Nase. Dabei starrte er auf sein verdrecktes Hemd und die abgetragene, hundertfach ausgebesserte und von zahlreichen bunten Flicken übersäte Hose.
Lump hatte ihn der Reiter genannt. Lump. Natürlich. Wie kam Ben nur auf die Idee, dass ein anderer Städter etwas anderes in ihm sehen würde? Jemand wie dieser Ritter oder auch die schöne Anula. Mochte sie auch eine Dienerin sein, sie war es bei einem angesehenen Händler, sie lief nicht in Fetzen herum, und ihre Freunde gewiss auch nicht. Vielleicht war sie ja doch eine Rinnsteinschnepfe und hielt sich für was Besseres. War sie das etwa auch? Sie musste Dutzende Verehrer haben, doch mit Ben wollte niemand mehr zu tun haben. Sagte das nichts aus? Dutzende gut aussehende, gut gekleidete, gut gebildete Verehrer...
Doch keiner von ihnen ist ein Drachenflüsterer, dachte Ben trotzig. Keiner verfügte über eine besondere Gabe. Sollten sie doch von ihm und seiner Hose denken, was sie wollten, er war kein Lump! Außerdem hielt Anula ihn noch immer für einen Bürgermeistersohn mit einem geheimen Auftrag. Diese Rolle konnte sich mit jedem noch so gepflegten Diener messen. Er würde ihr einfach nicht die Wahrheit sagen, dann würde schon alles gut werden.
Ben näherte sich dem turmhohen Tor, das ebenso wie die gesamte Stadtmauer aus blank geschrubbten Steinen in den unterschiedlichsten Farben bestand. Grüne, rote, schwarze, blaue, weiße und andere Vierecke lagen nebeneinander, ohne dass Ben in ihnen ein Muster oder gar ein bestimmtes Bild erkennen konnte. Jede Farbe war in unterschiedlichen Tönen vertreten, hell und dunkel, marmoriert und gefleckt. Unbewusst wurden Bens Schritte schneller, er passte sich der städtischen Hektik und Eile an.
»Hey, Junge?«, rief ihm einer der Torwächter hinterher, als sich Ben mit einer Gruppe viehtreibender Bauern und staubbedeckter fahrender Händler in die Stadt schieben ließ. Obwohl es mehr fragend als befehlend geklungen hatte, tauchte Ben sofort in die nächste Gasse ab, den Kopf eingezogen, bereit loszurennen. Seine Jahre als Sündenbock in Trollfurt hatten ihm diesen Fluchtinstinkt eingeimpft.
Mit einem raschen Blick über die Schulter erkannte er jedoch, dass ihm niemand folgte. Der dicke bärtige Wächter reckte zwar den Hals und schien jemanden in dem Gewühl der Straße zu suchen – ihn -, doch der andere, ein sehniger, hochgewachsener Kerl mit Adlernase, winkte kopfschüttelnd ab und lachte ihn aus. Derweil redete auch noch ein aufgebrachter Bauer auf beide ein und schwenkte eine rot-blau gefiederte Gans, die wild mit den Flügeln schlug, vor ihren Augen hin und her.
Dennoch eilte Ben weiter und bog kurz hintereinander zweimal ab, folgte den schmalen Straßen, die ihn am sicherlich überfüllten Marktplatz in der Stadtmitte vorbeiführten. Die Bauern trieben ihr Vieh auf der breiten Hauptstraße weiter, gefolgt von den Händlern, die ihre Waren noch im Laufen anpriesen.
Ben musste auf die andere Seite von Falcenzca, und er wollte schnell zu Anula, schließlich wusste er nicht, wann sie eine kurze Arbeitspause einlegen durfte. Nach den Wochen im Wald strömten die zahlreichen Gerüche der Stadt umso intensiver auf ihn ein, der Duft von frischen Backwaren vermischte sich mit dem Kotgestank der Tiere, süßliches Parfüm der reichen Damen mit den Ausdünstungen des Rinnsteins. Ben atmete durch den Mund, um die Nase zu schonen, und schlängelte sich an in helle Farben gekleideten Bürgern vorbei, die vor Geschäften herumstanden, an knienden Bettlern mit eingefallenen Gesichtern und Knechten und Kindern auf Botengängen, die jeden Bekannten auf dem Weg freudig begrüßten, weil er eine Ablenkung von den Pflichten versprach. Hie und da schnappte er Gesprächsfetzen auf, mal ging es um den Markt und wichtige Einkäufe, dann wieder um geheime Liebschaften, die lachhaften Erlebnisse eines Trunkenbolds oder schreckliche Ketzer, die irgendwo auf dem Vormarsch waren.
»Sie sind eine wahre Plage«, ereiferte sich ein untersetzter, unrasierter Knecht.
»Möge Hellwah uns schützen«, murmelte eine gebeugte Frau im mittleren Alter.
»Der Orden wird schon für Ordnung sorgen«, behauptete einer.
»Als ob das wichtig wäre. Viel schlimmer ist doch, dass die Preise für Äpfel schon wieder gestiegen sind«, beschwerte sich ein anderer. So trug jeder seine Sorgen laut vor sich her.
Als Ben an einem Gasthof vorbeikam, vor dem eine junge Frau mit leuchtend roten Haaren Amulette gegen Ketzerflüche verkaufte, rief jemand: »Hey! Das ist er doch!«
»Wer?«
»Na, er. Du weißt schon!«
»Er? Unsinn. Der ist viel zu klein und allein.«
»Aber die Hose! Sieh dir die Hose an!«
»Die Hose... Du hast Recht.«
Achtlos eilte Ben auch an diesem Gespräch vorbei. Langsam wurden die beiden Stimmen von anderen übertönt, versickerten zwischen all den weiteren Geräuschen, bis ein lauter Ruf an Bens Ohr drang: »Auf! Den Kerl schnappen wir uns!«
Schwere Schritte schlugen plötzlich auf das Pflaster und näherten sich. Galt das ihm? Er hatte doch gar nichts getan. Hastig blickte er sich um.
Drei Männer rannten auf ihn zu, der groben, aber gepflegten Kleidung nach Handwerksgesellen. Sie waren deutlich größer und kräftiger als Ben, und ihre Blicke galten eindeutig ihm, sie waren hinter ihm her. Einer hatte die Arme so weit nach vorn ausgestreckt, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor. Doch nur beinahe – taumelnd und stolpernd stürzte er auf Ben zu, dicht gefolgt von seinem kahlköpfigen Kameraden, dessen Gesicht von einem gierigen Lächeln verzerrt wurde. Es war ein Wunder, dass ihm kein Schaum aus dem Mund troff.
Drei, vier Schritte hinter ihnen hechelte ein beleibter Mann mit einem dichten Backenbart her, der keuchend zwischen wulstigen Lippen hervorpresste: »Halt! Bleib stehen, Bursche!«
Das war nun wirklich das Letzte, was Ben tun würde. Er wirbelte herum und rannte los, stieß einen kleinen, für den Markttag festlich herausgeputzten Jungen zur Seite, der stürzte und doch vor Überraschung zu weinen vergaß, und bog bei nächster Gelegenheit ab. Nur nicht geradeaus weiter, unberechenbar bleiben wie ein Haken schlagender Hase auf der Flucht. Doch die drei Männer blieben ihm weiter auf den Fersen, oder zumindest die beiden schlanken. Das Keuchen des Dritten fiel immer weiter zurück.
Ben kannte sie nicht, keinen von ihnen, was wollten sie also von ihm? Es musste eine Verwechslung sein, aber sie sahen nicht aus, als würden sie sich auf ein vernünftiges Gespräch einlassen. Sie waren erstaunt gewesen, ihn allein anzutreffen, doch er war stets allein gewesen in Falcenzca. Alles deutete auf eine Verwechslung hin. Wer sollte ihn hier überhaupt kennen? Bei seinen kurzen Besuchen vor Wochen hatte er mit niemandem Händel gehabt, und als er mit Aiphyron im Dunkeln Juri befreit hatte, hatte ihn niemand deutlich gesehen.
Oder etwa doch?
Japsend und mit stechendem Herzen raste Ben durch die verschlungenen Gassen, immer wieder schlug er eine andere Richtung ein und hoffte, nicht in einer Sackgasse zu landen. Schon lange wusste er nicht mehr, wo er sich befand, die Stadt war groß. Schnaufend und mit schweren Schritten blieben ihm seine Verfolger im Nacken. Sie forderten ihn nicht mehr zur Aufgabe auf und schrien nicht nach Unterstützung. Passanten starrten ihnen hinterher, teils verärgert, teils belustigt, doch meist mit Desinteresse, solange er keinen anrempelte. Wahrscheinlich hielten sie ihn für einen kleinen Dieb und wollten sich keinen Ärger einhandeln, nicht für die Börse eines anderen oder gar nur einen geklauten Apfel. Wer wusste schon, wie sich ein Dieb in einem solchen Fall rächte?
»Lauf! Lauf! Lauf!«, feuerte ihn ein lachender Kerl in einer gelben Livree an, der mit einer Weinflasche in der Hand an einer Hausmauer lehnte. Ben jagte unter dicht behangenen Wäscheleinen hindurch, die über dem ersten und zweiten Stock quer über die Straße gespannt waren. Wären sie nur tiefer unten angebracht, könnte er sie mit einem Sprung im Lauf herunterreißen und die viel zu hartnäckigen Verfolger zum Stolpern bringen. Mit wem verwechselten sie ihn, dass sie die Jagd einfach nicht aufgaben?
»Das ist er!«, keuchte plötzlich jemand auf einer Kreuzung, und schon hörte Ben einen weiteren Verfolger, dessen nackte Sohlen im schnellen Rhythmus über das Pflaster patschten. Ben drehte sich nicht um, rannte nur immer weiter und weiter, versuchte verzweifelt, noch einmal das Tempo zu erhöhen.
»Er gehört mir!«, brüllte ein Weiterer mit tiefer, knarrender Stimme und schloss sich den Verfolgern an. Inzwischen schlugen zahlreiche schwere Füße auf den Boden, ein dunkles, bedrohliches Prasseln hinter Ben, das sich nicht abschütteln ließ. Was war hier los? So viele Leute konnten ihn doch nicht mit irgendeinem gesuchten Halunken verwechseln!
Hatte er etwa einen Doppelgänger in der Stadt?
Doch es war seine Hose gewesen, nicht sein Gesicht, das die ersten Verfolger auf ihn aufmerksam gemacht hatte. Was war an seiner alten, tausendfach geflickten Hose denn so besonders?
In Trollfurt war Ben oft durch die Stadt gejagt worden, einfach weil er dort der Sündenbock gewesen war. Hier wusste er nicht, weshalb er gehetzt wurde, doch er wusste, dass er erst rennen und dann nachdenken sollte. Er hatte gelernt, wann man besser floh, und ihm war klar, dass er seine Verfolger möglichst schnell loswerden musste, sonst würden es immer mehr werden. Sein ominöser Doppelgänger musste sich zahlreiche Feinde gemacht haben, und Ben verspürte nicht die geringste Lust, dessen Schandtaten auszubaden.
Mit hämmerndem Herzen raste er auf die nächste Kreuzung zu, da tauchte von links plötzlich ein schwerer, gemächlicher Ochsenkarren auf, der sich ganz langsam in Bens Weg schob und die Straße versperrte. Entweder war das das Ende der Jagd oder seine Chance. Ben rannte einfach weiter, stur auf den hoch beladenen Karren zu. Auf dem Bock saß ein alter hagerer Bauer, der eine Peitsche in der Hand hielt und stur nach vorn starrte und auf seine Ochsen einmurmelte. Mit jedem Schritt erschien Ben seine Idee idiotischer, das Hindernis unüberwindbarer, doch die Schreie in seinem Rücken trieben ihn an. Halsbrecherisch setzte er über die Deichsel hinweg, direkt zwischen Ochsen und Kutschbock.
Der Bauer fluchte und hieb mit der Peitsche nach ihm, doch viel zu spät. Ben gab einem der Tiere im Sprung noch einen festen Klaps mit. Es muhte und tat einen Satz nach vorn, und der erste Verfolger stürzte beim Versuch, Ben zu folgen, in den Bauern und riss ihn vom Kutschbock. Der nächste rannte in das erste Wagenrad.
Wildes Geschrei und Ochsengebrüll erhoben sich hinter Ben, doch er drehte sich nicht um. Er hetzte in die nächste Gasse, noch immer waren ihm Fremde auf den Fersen, wenn auch nicht ganz so dicht. Gleich an der Ecke befand sich ein kleines Wirtshaus mit winzigen Fenstern und einem verschmutzten Schild über der Tür, von dessen goldenem Stier die Farbe abblätterte. Ohne nachzudenken, stürzte Ben hinein.
Noch bevor sich seine Augen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten, stürmte er am Tresen und undeutlichen Gestalten vorbei, die ihm die Köpfe zuwandten. Einer rief: »Vorsicht!«, doch das Serviermädchen wich von selbst aus. Irgendwas zerschellte am Boden, irgendwer fluchte: »Rotznase, eitrige!«
Schwere Schritte und knurrende Verwünschungen folgten Ben den schmalen Gang nach hinten, und er war nicht sicher, ob es die Verfolger waren oder der verärgerte Wirt. Er raste am Kellerabgang vorbei, ohne ihn zu beachten. Solche Keller, in denen üblicherweise Bier, Fleisch und anderes kühl gelagert wurde, verfügten über keinen zweiten Ausgang. In einer solchen Sackgasse hatte sich Ben eine der schlimmsten Abreibungen seines Lebens eingefangen, er wusste nur nicht mehr, weshalb.
Durch eine schwere, zum Glück nicht abgeschlossene Holztür stolperte Ben in den Hinterhof, wie er gehofft hatte, und raste weiter zum sicherlich zwei Schritt hohen Bretterzaun, der den Hof vom nächsten abtrennte. Dort sprang er hoch, klammerte sich an die Kante und zog sich hinauf, schwang das rechte Bein hinüber. Während er sich vollständig über die Kante wälzte, blickte er zurück. Ein kräftiger Mann mit grauem Backenbart und fleckiger Schürze, ein glänzendes, unterarmlanges Messer in der Hand, trampelte in den Hinterhof. Der Wirt, stellte Ben erleichtert fest. Andere Verfolger waren nicht zu sehen.
»Ich hoffe, du brichst dir den Hals!«, rief der Wirt ihm hinterher, doch er gab die Jagd auf. Er hatte Gäste, um die er sich kümmern musste, die Rache für zerstörtes Geschirr musste da zurückstehen.
Ben hangelte sich von Innenhof zu Innenhof und hoffte auf eine unverschlossene Hintertür, den Zugang zu einem Geschäft, durch das er wieder auf die Straße gelangen konnte. Jedoch kontrollierte er nur die Hintertüren der Häuser, die auf eine andere Straße hinausführten als die, in der er verschwunden war. Für seine Verfolger sollte es aussehen, als habe er sich in Luft aufgelöst. Er wusste nicht, wie schnell sie ihn hinter den Häusern suchen würden, doch hier saß er in der Falle – zu wenig Platz, um davonzulaufen. Sobald sie im Gasthof nach ihm fragten, würde der verärgerte Wirt sie mit Vergnügen auf seine Spur setzen.
Als er im dritten oder vierten Hinterhof neben verschlossenen Türen auch auf eine behangene Wäscheleine stieß, fiel ihm wieder ein, dass mindestens einer der Männer ihn anhand seiner Hose identifiziert hatte. Egal, wie seltsam das klang, es blieb eine Tatsache, dass mehrere Männer unabhängig voneinander hinter ihm her waren. Wenn sie ihn nun alle anhand der Hose erkannt hatten, dann hatte er hier die Möglichkeit, sich zu tarnen. Er zog seine Hose aus und betrachtete sie. Sie war ein Sammelsurium bunter Flicken und Nähte, und tatsächlich wollte ihm niemand einfallen, der etwas Ähnliches trug.
Rasch wählte er von der Leine eine dunkle Leinenhose und schlüpfte hinein. Sie war zu groß, also krempelte er die Beine um. Den Bauch polsterte er mit seiner alten Hose aus, die er sich unter das weite Hemd stopfte. So war er nicht nur das auffällige Kleidungsstück losgeworden, sondern wirkte auch dicker. Den Gürtel schnürte er möglichst eng und band sich zu guter Letzt noch ein Tuch um den Kopf, wie es die Seefahrer aus dem Süden taten. Leider gab es kein schwarzes, er musste sich mit einem aus hellem Rot begnügen, das aussah, als wäre es für Mädchen. Er band es sich so eng hinter die Ohren, dass diese abstanden. Alles, was sein Aussehen veränderte, war gut. Dann machte er sich wieder auf den Weg.
Drei Hinterhöfe weiter spielten zwei Mädchen mit kleinen Puppen aus Stroh. Die Puppen trugen kleine Krönchen aus hellen Nussschalen, die Mädchen sorgsam geflickte Kleider aus gefärbtem Leinen. Als er über den Zaun geklettert kam, starrten sie ihn neugierig an, und die Dunkelhaarige fragte misstrauisch: »Bist du ein Pirat?«
»Nein, keine Angst, ich tue euch nichts.« Ben zeigte die leeren Handflächen, um zu beweisen, dass er nicht bewaffnet war. Kreischende kleine Mädchen, die die Aufmerksamkeit auf ihn lenkten, konnte er nun wirklich nicht gebrauchen.
»Bist du dann ein verkleideter Prinz?«, wollte die andere wissen. Sie hatte hellblondes, zu vier Zöpfen geflochtenes Haar und legte den Kopf schief, während sie ihn mit dunklen Augen musterte.
»Vielleicht.« Er zwinkerte ihnen zu und lächelte beruhigend. »Wo wohnt ihr denn?«
Sie deuteten auf ein Haus mit schäbig grauer Wand. Ben ging hinüber und griff nach der Hintertür. Tatsächlich war sie unverschlossen. »Zeigt ihr mir, wie es von hier auf die Straße geht?«
»Da dürfen wir nicht allein hin«, sagte die Dunkelhaarige, doch die Blonde stand auf und nahm ihn bei der Hand. »Suchst du eine Prinzessin?«
»Ja.«
»Aber in Falcenzca gibt es keine.«
»Doch.« Ben zwinkerte ihr verschwörerisch zu und legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Nur wird sie von einem bösen Händler gefangen gehalten. Ich bin hier, um sie zu befreien.«
»Das ist gut«, sagte das Mädchen und sah ihn mit großen dunklen Augen an. »Böse Händler gibt es hier viele.« Sie zögerte einen Moment lang, dann fügte sie hinzu: »Aber nette gibt es auch.«
Sie führte ihn ins Haus und einen schmalen kahlen Flur am Treppenhaus vorbei bis zur Vordertür. Dort zeigte sie ihm einen im Stützbalken verborgenen Haken, an dem ein Schlüssel hing, viel zu hoch für das Mädchen, doch sie wollte, dass Ben sie hochhob, damit sie den Schlüssel nehmen und aufsperren konnte. Als er sie ließ, lächelte sie glücklich. Dann hängte er den Schlüssel zurück, trat auf die Straße hinaus und drehte sich noch einmal um.
»Erzähl niemandem von mir, ja?«, verlangte er. »Sonst ist die Prinzessin in Gefahr.«
Sie nickte ernst und presste die Lippen fest aufeinander. Behutsam schloss Ben die Tür.
Mit einem raschen Blick nach rechts und links vergewisserte er sich, dass kein Passant ihn auffällig musterte. Er schob die Hände in die Hosentaschen und schlenderte möglichst lässig und breitbeinig die Straße hinab, wie ein Schiffsjunge auf Landgang, der viel Zeit und nichts zu befürchten hatte. Dabei lauschte er aufmerksam auf die Gespräche um ihn her, doch niemand schien ihn zu erkennen.
Nach drei Querstraßen erreichte er die Stadtmauer, an der er sich orientieren konnte. Nun wusste er wieder, wo in Falcenzca er sich befand. Pfeifend ging er weiter, bis er auf einen schlanken Baum stieß, an dessen glatten silbrig grauen Stamm ein Pergament genagelt war. Drei Gesichter waren darauf abgebildet, die er nicht erkannte. Es handelte sich um zwei junge Männer und ein Mädchen, die im angefügten Text näher beschrieben wurden.
GEÄCHTETE GESUCHT
Lebend
1000 GULDEN BELOHNUNG
BEN – hager, braunes wildes Haar, verwahrlostes Aussehen,
Hose aus hundert bunten Flicken
YANNKO QUEPAHNInormal gebaut, kurz geschorenes
dunkles Haar, dunkle Augen, scheinheiliges Lächeln,
unzüchtig aufgeknöpftes Hemd
NICA YIRKHENBARGschlank, langens blondes Haar,
schmales Gesicht, dunkelbraune Augen, weißes Kleid
 
Sie sind des Verrats am Großtirdischen Reich und der
Ausübung schlimmster ketzerischer Handlungen überführt.
Trotz ihres jungen Alters von 15 oder 16 Jahren haben sie
mehrere Männer auf dem Gewissen und eine ganze Stadt
terrorisiert.
Vorsicht!
Sie sind mit Samoth im Bunde!
Möglicherweise in Begleitung von
zwei wilden geflügelten Drachen.
Ben starrte das Pergament an, und erkannte sich nicht wieder, nur die Zeichnung von Nica wies eine gewisse Ähnlichkeit mit dem echten Mädchen auf.
»Tausend Gulden«, hauchte er. Das gelbe Drachensiegel in der unteren Ecke der Verlautbarung zeigte, dass es der mächtige Orden der Drachenritter höchstselbst war, der die Belohnung ausgesetzt hatte. Wenigstens stand auf dem Steckbrief lebend, und nicht lebend oder tot.
Für einen kurzen Moment wurden Bens Beine schwach, als ihm bewusst wurde, wer nun alles hinter ihnen her war. Jeder ehrbare Ritter und jeder verlauste Kopfgeldjäger, der etwas auf sich hielt, ja, sogar zahlreiche einfache Bürger witterten das schnelle Geld, wie er eben erlebt hatte. Wenn man das Alter der drei in Betracht zog, war die Belohnung erstaunlich hoch. Leicht verdientes Geld – natürlich nur, sofern man sie ohne die Drachen antraf.
»Ja. Tausend Gulden sind ein Haufen Geld«, brummte ein alter Mann, der sich neben Ben gestellt hatte und sein gehauchtes Erstaunen falsch interpretierte. »Wäre ich noch jünger, würde ich selbst mein Glück versuchen.« Er musterte Ben von oben bis unten. »Aber bist du nicht ein wenig zu jung, um nach Kopfgeld zu jagen?«
»Ja, nein... doch«, stammelte Ben, bis er sicher war, dass der Alte ihn wirklich nicht erkannt hatte. Er atmete tief durch. Die Frage war doch viel eher, ob er nicht zu jung war, um auf diese Weise gejagt zu werden. »Allein würde ich es nicht wagen. Aber ich habe vier ältere Brüder, und mein Vater kann des Geld gut gebrauchen.«
»Wer nicht, wer nicht«, murmelte der Alte und legte Ben die fleckige Hand auf die Schulter. »Du bist ein guter Junge, ein guter Junge. Dein Vater kann stolz auf dich sein. Wirklich stolz. Ich sage es ja immer, nicht alle jungen Leute sind solcher Abschaum.« Er nickte, spuckte nach dem Steckbrief und stapfte langsam davon. »Abschaum. Abschaum. Abschaum.«
Ben starrte auf das Pergament und beobachtete, wie der Speichel des Alten über Nicas hübsches Gesicht lief. Das wollte er nicht sehen, schnell wischte er ihn mit dem Ärmel weg.
Tausend Gulden.
Wer so viel Geld ausgab, hatte nicht vor, sie wirklich am Leben zu lassen, wurde ihm plötzlich klar. Der Orden wollte eine aufsehenerregende öffentliche Hinrichtung mit großen Reden über Hellwahs Macht und Gerechtigkeit. Er wollte dem Volk etwas bieten, und Tote konnte man nicht mehr hängen. Mit Abscheu dachte Ben an die einzige Hinrichtung, die er je erlebt hatte, an den aufgeregten kleinen Jungen, der auf die Schultern seines Vaters geklettert war, um alles gut beobachten zu können. Mühsam schüttelte Ben die Vorstellung ab, wie zahlreiche plappernde Kinder aufs Schafott blickten, wo er, Yanko und Nica auf den Henker warteten.
Tausend verfluchten Gulden.
Sie wurden also gejagt, wirklich gejagt. So oft er über die Jahre in Trollfurt auch vor irgendwem davongelaufen war, nie war es um sein Leben gegangen, stets nur um eine Tracht Prügel und darum, beschimpft und verspottet zu werden. Bis er vor ein paar Wochen fälschlicherweise des Mordes an einem Ritter beschuldigt worden war. Doch Trollfurt lag viele Meilen von hier entfernt, und er hatte gedacht, das alles mit seiner Flucht hinter sich gelassen zu haben. Er hatte gedacht, all das wäre vorbei, seit der wahre Mörder, Nicas Vater, gestorben war. Wie kam er nur darauf? Nur weil Nica, Yanko und er den wahren Schuldigen kannten, änderte sich für alle anderen noch nichts. Sie hielten weiterhin ihn für schuldig, und nicht nur eines einzigen Mordes.
Geächtete gesucht.
Sie waren Geächtete, und kein Gesetz schützte sie mehr, jeder durfte sie gefangen setzen, ja sogar töten. Nun war nicht mehr nur eine kleine heruntergewirtschaftete Stadt am Rande des Landes hinter ihnen her, sondern das ganze Großtirdische Reich. Fluchend riss er das Pergament vom Baum und stopfte es in die Hosentasche. Ihm wurde übel.
Kurz dachte er darüber nach, sofort aus der Stadt zu verschwinden, aber der Alte hatte ihn nicht erkannt, er würde es schon schaffen bis zu Anula. Jetzt musste er erst recht mit ihr reden, musste sie über jene drei Geächteten ausfragen, die überall gesucht wurden. Er sehnte sich nach ihrem Lächeln und danach, sie zu berühren, und sei es nur flüchtig. Ach was, flüchtig, er würde sie küssen. Genau deshalb war er doch in die Stadt gekommen, wenn er ehrlich zu sich selbst war.
Entschlossen ging er los. So oft er sich auch sagte, dass seine Verkleidung ihn vor der Entdeckung schützte, er schielte doch bei jedem Schritt nach rechts und links, hielt sich möglichst unauffällig am Rand der Straße, stets darauf bedacht, einen Fluchtweg im Blick zu haben. Sein Herz schlug schnell, in seinem Bauch rumorte es. Er starrte in zahllose Gesichter, doch niemand schien ihn zu erkennen, die meisten sahen einfach über ihn hinweg.
Schließlich erreichte er eine T-Kreuzung an der Stadtmauer, an der sich eine kleine Menschenansammlung gebildet hatte. Es war Markttag, und Ben erwartete entsprechend, einen tüchtigen Händler oder herumtobenden Gaukler zu entdecken, der diese Ansammlung hervorgerufen hatte, vielleicht auch einen weit gereisten Barden, der Sagen aus fernen Gegenden zum Besten gab. Doch es war ein alter Prediger auf einer grob gezimmerten Holzkiste, dem die gut vier Dutzend Menschen lauschten.
Als sich Ben der Kreuzung näherte, bemerkte er, dass der Prediger noch gar nicht so alt war – nur hatte er sein spärliches langes Haar mit Mehl eingestäubt, und seine Stimme krächzte heiser. Dürr und ausgemergelt war er, als hätte er monatelang gefastet, die Wangen waren nicht vom Alter eingefallen. Die Haut seines nackten Oberkörpers war von der Sonne verbrannt, vom Wetter gegerbt. Seine Augen glänzten wie im Fieber.
»Das Böse ist gekommen, und es kam in harmloser Gestalt, um uns zu täuschen. Denn Samoth ist der große Täuscher!«, rief der Prediger der Menge zu, während sich Ben möglichst unauffällig einen Weg durch die Zuhörer bahnte. Es waren Männer, Frauen und Kinder von unterschiedlichem Stand, die alle mit ängstlichen Blicken an den aufgerissenen Lippen des Mannes hingen. Er sprach mit Inbrunst und hob dabei beschwörend die Hände. »Und der große Täuscher kam aus der schwärzesten Tiefe herauf und fuhr in den Körper eines schmächtigen Jungen. Dessen Vater erkannte seine böse Natur und floh, weil er zu schwach und feige war, sich gegen einen Gott zu stellen. Ja, und ich sage euch, viele Männer wären an seiner Stelle geflohen, denn viele sind schwach und feige. Die Mutter kämpfte mit all ihrer Liebe länger um ihren Sohn, doch schließlich gab auch sie auf und ertränkte sich. Denn wie konnte sie einen Sohn lieben, in den Samoth gefahren war? So blieb der Junge allein zurück, und seine Bosheit konnte ins Grenzenlose wachsen, ohne dass ihr jemand mit strenger Hand Einhalt gebot. Und weil Samoth das Stückwerk liebt, das Chaos und die Unordnung, weil er der Gott der tausend Lügen ist und stets seine dunkle Natur zu verbergen trachtet, trug der Junge eine Hose aus tausend bunten Fetzen, eine Verhöhnung jedes anständigen Beinkleids.«
Ben stutzte und starrte den Prediger an. Vor Überraschung vergaß er sogar, über diesen Unsinn zu lachen. Allerdings lachte auch keiner der Zuhörer. Sprach der Prediger auf der Kiste etwa von ihm? Hatte er ihn gerade wirklich Samoth genannt, das Böse? Vorsichtig tastete er nach seiner Hose unter dem Hemd, überprüfte, dass sie nicht versehentlich irgendwo heraushing, und ging weiter.
»Und er kam auf die Erde und tötete einen aufrechten Ritter!« Der Prediger spuckte die Worte jetzt förmlich aus, seine Rede wurde mit jedem Satz schriller und eindringlicher. »Er stahl den Drachen des aufrechten Ordensmanns und verfluchte das arme Geschöpf, indem er ihm neue Flügel schenkte! Er rief eine weitere geflügelte Bestie herbei, und auf dieser saßen zwei Dämonen, die ebenfalls die Gestalt zweier unschuldiger Kinder angenommen hatten. Ein wunderschönes Mädchen und ein glockenhell lachender Knabe. Mit unheiliger Freude schlachteten sie einen verdienten Drachenreiter und sieben unschuldige Männer ab, vergossen ihr Blut in den tiefsten Höhlen des nördlichen Wolkengebirges und beschworen so den großen Drachen herbei, den fluchbeladenen Boten des Weltenendes. Seine Flügel sind so gigantisch, dass ihr nachtgleicher Schatten eine ganze Stadt bedeckt, wenn der Drache vor der Sonne vorüberfliegt. Und dieser Schatten ist so sehr von Samoths Gift und Dunkelheit erfüllt, dass jeder Zehnte in ihm an der schwarz eiternden Pest erkrankt, jeder Zwanzigste mit Blindheit geschlagen wird, und jedem Dreißigsten faulen beide Füße ab und zerfallen zu leichenfressenden Würmern, auf dass er sich nur noch auf schmerzenden Knien fortbewegen kann. Denn so will der große Täuscher Samoth die Menschheit sehen: krank und blind und kriechend!«
Die Menge knurrte und fluchte, jammerte über Samoths Macht und das Ende der Welt und erflehte murmelnd Hellwahs Hilfe. Ein paar wenige wandten sich kopfschüttelnd ab, doch die meisten starrten weiter zum Prediger hinauf, damit er ihnen von weiteren Ereignissen und kommenden Gefahren berichtete. Manch einer hob den Kopf und suchte den Himmel ab, als fürchte er jeden Moment die Ankunft des unheilbringenden Drachen.
Stinkender Trollbollen noch mal, dem Spinner hat Hellwah wirklich das Hirn auf die Größe einer runzligen Kiebelnuss verbrannt, dachte Ben. Jetzt also das Ende der Welt. Was würde ihnen demnächst noch alles in die Schuhe geschoben werden?
Kopfschüttelnd ließ er den Prediger und seine furchtsame Gemeinde hinter sich und eilte weiter, ohne sich noch einmal umzudrehen.