Victoriana
Jeremy hatte vorgehabt, schnurstracks zum Hotel zurückzufahren, aber ich überzeugte ihn davon, dass mir noch nicht nach Schlafengehen war. Ihm die Erlaubnis für einen Stadtlauf abzuringen war nichts, das ich einfach so im Vorbeigehen erledigen konnte.
Also erzählte ich ihm etwas von Ruhelosigkeit und einer ausgetrockneten Kehle, Umstände, die mir die erholsame Nachtruhe verwehren würden, die ich brauchte. Das Gegenmittel? Ein Heißgetränk und ein langer Spaziergang. Weil wir hofften, aus diesem Spaziergang einen Stadtlauf machen zu können, fragte ich, ob ich mir dieses Heißgetränk auch in einer beliebten, bis spätabends offenen Bar in der Nähe des Stadtzentrums besorgen könnte. Danach machten wir uns auf in Richtung Cabbagetown, ein ruhiges Wohnviertel, das sich für einen Spaziergang anbot.
Ich schlenderte die schmale Wohnstraße entlang und hörte mir an, was Clay über einen Artikel über Bärenkulte zu erzählen hatte, den er in der vergangenen Woche gelesen hatte. Jeremy und ich nickten an den passenden Stellen und tranken unseren Kaffee. Meiner war selbstverständlich ein Milchkaffee – mit richtiger Vollmilch. Es klingt vielleicht merkwürdig, ausdrücklich Vollmilch zu bestellen, aber Jeremy hatte darauf bestanden. Er bestand auch auf reichlich Eis und Käse und anderen Milchprodukten. Er behauptete, das sei wichtig wegen des Calciums, aber ich hatte den Verdacht, dass er mich für mein Mutterdasein mästen wollte.
Von meinem Bauch abgesehen waren meine Brüste das Einzige an mir, das sich gerundet hatte. Jawohl, zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich einen richtigen Busen – sogar unter einem lockeren T-Shirt konnte man ihn noch erkennen. Nicht, dass es drauf angekommen wäre. Mein Bauch ragte noch weiter vor.
Als Mitternacht vorbei war, wurde es weniger drückend, und ein kühler Luftzug fand seinen Weg durch den Panzer aus Wolkenkratzern in die Straßen des Wohnviertels. Ich mochte Cabbagetown. Ich würde mich inzwischen nicht mehr als Stadtmensch bezeichnen, aber dies ist die Sorte von Gegend, die ich mir aussuchen würde, ein ruhiges, schon älteres Viertel wenige Minuten vom geschäftigen Stadtzentrum entfernt.
Die schmale Straße war von kleinen einstöckigen Häusern in allen denkbaren Farben gesäumt, ihre winzigen Vorgärten eifersüchtig bewacht von ebenso vielfältigen Einfassungen, von Steinmauern über Schmiedeeisen bis hin zu weiß gestrichenen Lattenzäunen. Das Viertel war in der viktorianischen Zeit entstanden, was an der Architektur der Gebäude deutlich zu sehen war – Schnitzereien, Giebel, Veranden, Balkons, Kuppeln, Türmchen, farbiges Glas. Obwohl wir das Dröhnen der Yonge Street wenige Häuserblocks entfernt noch hören konnten, war es in dieser Straße still – als lieferten die Bäume, die die Fahrbahn überwölbten, eine Isolierdecke, unter der die Bewohner im Chaos des Stadtzentrums schlafen konnten. Wir gingen in der Mitte der Straße; unsere Schritte hallten leise, und wir sprachen beinahe im Flüsterton.
Rechts von uns stand eine Reihe geparkter Autos. Die Häuser stammten aus einer Zeit, in der es noch keine Garageneinfahrten gab, und zwischen ihnen war nicht genug Platz gewesen, um nachträglich welche anzulegen. Die Autos waren meist Importwagen der mittleren Preisklasse, und es gab kaum Vierradantriebe und Minivans. Dies war eine Wohngegend für Paare und Pensionäre, weniger für Familien.
Jeremy trank den letzten Schluck Kaffee und sah sich nach einem Mülleimer um, aber natürlich gab es hier keinen.
»Hier«, sagte ich und öffnete meine Tasche.
Ich bin keine Freundin von Handtaschen, ganz sicher nicht von großen Handtaschen, aber heute Abend hatte ich für den From-Hell-Brief einen kleinen Rucksack mitgebracht. Jeremy war zu dem Schluss gekommen, dass dies die sicherste Transportmethode war. Wir hatten den Brief nicht im Hotel oder im Auto lassen wollen, und so hatte ich ihn mitgebracht.
Jeremy holte ein Papiertuch aus der Tasche und wischte die Innenseite des Kaffeebechers trocken, bevor er ihn zusammenknüllte und in meinen Rucksack schob. Der Brief steckte zwar noch in seinem Plastikbeutel, aber ich nehme an, er wollte nicht das Risiko eingehen, Kaffeeflecken auf ihm zu hinterlassen. Ich war schon dabei, den Reißverschluss wieder zuzuziehen, hielt dann aber inne und holte den Brief heraus.
»Sollen wir …? Ich meine, kann ich ihn mir mal ansehen? Bevor wir ihn abliefern?«
Jeremy zögerte.
»Ich werde vorsichtig sein«, sagte ich. »Ich habe die hier.« Ich zog die Latexhandschuhe aus der Tasche.
Er zögerte immer noch, aber ich merkte ihm an, dass er ebenso neugierig war wie ich, und einen Moment später nickte er.
Wir gingen an den Straßenrand und stellten uns unter eine Laterne. Ich stellte meinen Milchkaffee auf dem Bordstein ab, zog die Handschuhe an, öffnete den Plastikbeutel, griff hinein und zog den Brief heraus. Ich hatte erwartet, dass er sich spröde anfühlen würde, aber er war seltsam weich, fast stoffartig, als sei er mit den Jahren weicher geworden.
Ich rollte ihn auf. Das Papier war bräunlich, die Farbe ungleichmäßig. Ich bezweifelte, dass ein, zwei Tropfen von Jeremys Kaffee noch allzu viel ausgemacht hätten. Der Brief war schon jetzt mit Tinte und anderen Substanzen gesprenkelt. Ich erinnerte mich plötzlich, gelesen zu haben, dass er in einer Pappschachtel zusammen mit Teilen einer in Wein konservierten Niere eingetroffen war; ich hoffte wirklich, dass die rötlichen Spritzer Wein gewesen waren.
Die Schrift war ein kaum zu entzifferndes Gekrakel, und knapp ein Viertel der Wörter waren fehlerhaft geschrieben. Hätte ich nicht gewusst, was da angeblich stand, hätte ich nicht die Hälfte davon verstanden.
»Sieht aus, als wäre das absichtlich falsch geschrieben worden«, sagte ich.
»In dieser Hinsicht ist man sich auch über die anderen Ripper-Briefe einig«, sagte Jeremy. »Die Rechtschreibung ist vollkommen wild – manche Wörter sind einmal korrekt und dann wieder falsch geschrieben.«
Clays Hand klatschte auf meinen Oberarm. Ich fuhr so rasch herum, dass ich fast das Gleichgewicht verlor.
»Moskito«, sagte er.
Ich stierte ihn wütend an.
»Die haben das West-Nil-Virus hier, oder nicht?«, fragte er.
»Genau wie bei uns zu Hause«, antwortete ich mit zusammengebissenen Zähnen.
»Aber zu Hause hast du dieses Zeug aufgetragen, das Jeremy dir besorgt hat. Du hast es nicht mitgebracht, oder?«
»Clayton hat recht«, sagte Jeremy leise. »Ich weiß, die Gefahr ist sehr gering, aber wenn du das Abwehrmittel vergessen hast, solltest du im Dunkeln wirklich lange Ärmel tragen. Wenn du dir das Virus zuziehst, kann es …«
»Auf das Baby übertragen werden, ich weiß. Aber wenn man bedenkt, was ich schon alles auf mein Baby übertrage, ist das West-Nil-Virus wahrscheinlich das geringste Problem.« Ich schüttelte den Kopf und lehnte mich zu Clay hin. »Schlag mich noch mal, und ich schlage zurück. Vielleicht kannst du härter schlagen, aber ich möchte dich es wagen sehen, härter zuzuschlagen.«
Ein kleines Lächeln. »Bist du dir da sicher?«
»Willst du’s probieren?«
»Halt«, sagte Jeremy. »Keine Klatschwettbewerbe. Zumindest nicht, solange du den Brief noch in der Hand hast. Da, pack ihn lieber weg. Es sieht aus, als hätte er schon einen Knick.«
»Scheiße!« Ich glättete hastig das Papier. »Da. Kein Schaden entst …«
Die Mücke war noch auf dem Papier, ein plattgequetschter dunkler Fleck. Sie musste auf das Blatt gefallen sein, bevor ich es versehentlich zusammengedrückt hatte.
Jeremy schüttelte den Kopf. »Es macht nichts, er hat schon genügend Flecken. Ich sehe ihn mir noch genauer an, bevor wir ihn abliefern. Roll ihn jetzt zusammen. Schnell.«
»Bevor ich ihn aus Versehen in den Rinnstein fallen lasse und dann drauftrete«, murmelte ich. »Ich glaub’s nicht, dass ich das getan habe.«
»War nicht deine Schuld«, sagte Clay.
»Stimmt, war es auch nicht.« Ich warf einen finsteren Blick in seine Richtung. »Mückenkiller.«
»Yeah, aber ich hab sie nur umgebracht. Zerquetscht hast du sie.«
»Du glaubst, du hättest sie nicht zerquetscht, als du sie umgebracht hast?«
Jeremy seufzte.
Ich sah zu ihm hinüber. »Und du dachtest, wir wären reif genug für Kinder?«
»Nein, ich dachte, eins mehr würde auch keinen Unterschied mehr machen. Kann ich jetzt den Brief haben, bitte?«
Ich schob die Tüte in den Rucksack und reichte ihn ihm hin. Er betrachtete ihn genauer – er war giftgrün mit einer Margeritenblüte vorn drauf.
»Hey, ich hab den nicht ausgesucht«, sagte ich. »Du hast ihn gekauft, du kannst ihn auch tragen.«
Er nahm den Rucksack mit einem langsamen Kopfschütteln entgegen. »Bringen wir das hier ins Hotel, sehen es uns auf Schäden an und schicken es an Xavier.«
Clay und ich wechselten einen Blick und sahen unsere Aussichten auf einen Stadtlauf schwinden.
»Äh, Jer«, sagte Clay. »Elena und ich hatten uns überlegt …«
Er brach ab; seine Augen wurden schmal, als sein Blick sich auf etwas hinter meiner Schulter richtete. Ich sah in die gleiche Richtung und entdeckte einen Vorhang aus Rauch, der von der Straße aufstieg. Es sah aus wie Dampf aus einem Gully … nur dass kein Gully und auch kein Kanaldeckel in Sicht war. Ich ging hin und entdeckte einen haarfeinen Riss im Asphalt. Dann packte Clay mich am Arm und riss mich zurück.
»Du brauchst mich nicht so anzusehen«, sagte er, als ich mein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. »Du weißt nicht, was das da ist.«
»Ein unterirdischer Vulkan, der uns alle unter einem Berg heißer Lava begraben wird?«
Der Rauch stieg auf, eine dünne, langsam nach oben treibende Linie, die sich auf Taillenhöhe auflöste. Jeremy ging in die Hocke, um besser zu sehen.
»Wahrscheinlich Wasserdampf, der sich irgendwo gesammelt hat«, sagte er.
Clay wippte auf den Fußballen und kämpfte gegen den Wunsch an, auch Jeremy aus dem Weg zu zerren.
»Ich glaube nicht, dass das West-Nil-Virus-Trägerdampf ist«, sagte ich.
Als Clay sich nicht rührte, legte ich ihm die Finger auf den Arm. Er nickte, aber ich spürte die Anspannung, die von ihm ausging. Er beobachtete immer noch Jeremy.
»Jer?«, sagte ich. »Wir sollten vielleicht gehen.«
»Mhm.«
Jeremy strich mit den Fingerspitzen durch den Rauch. Clay machte ein halb ersticktes Geräusch.
Ich tippte Jeremy auf die Schulter. »Wir sollten wirklich gehen. Bevor irgendein Anwohner den Rauch sieht. Und uns.«
»Ja, in Ordnung.«
Er stand auf. Aber weiter bewegte er sich nicht, starrte einfach nur den Rauch an, eine Falte zwischen den Brauen. Dann hob er ruckartig den Kopf; sein Körper wurde starr. Ich folgte seiner Blickrichtung und sah nichts, nur die Bäume, raschelndes Laub …
»Clay!«, schrie Jeremy.
Hände packten mich an den Armen, und ich flog nach hinten, stolperte, wurde hochgehoben; meine Füße lösten sich vom Asphalt, die Finger waren fest um meine Oberarme geschlossen, zerrten mich halb aus dem Weg, und halb trugen sie mich. Mein Rücken rammte eine niedrige Gartenmauer. Ein Blitz erhellte den Nachthimmel, als über uns in einem Schauer von Funken ein Transformator explodierte. Dann wurde alles dunkel, weil der Körper meines Retters mich von der Funkenkaskade abschirmte.
»Clay!« Die Stimme kam von irgendwo über mir, und als mein Kopf klarer wurde, ging mir auf, dass es Jeremy gewesen war und nicht Clay, der mich beschützt hatte, der mich von dem Transformator fortgerissen hatte … bevor der explodiert war.
»Clay!«
»Hier«, sagte eine Stimme neben uns. »Wo ist Elena?«
»Sie ist hier.« Jeremy sah mich an. »Alles in Ordnung?«
»Ich sehe immer noch Sterne.«
Ich zwinkerte und stellte fest, dass ich Sterne sah, weil wirklich welche da waren – Funken auf dem Boden von der Leitung, die von dem explodierenden Transformator heruntergefallen und genau dort gelandet war, wo wir gestanden hatten.
Die Leitung prasselte und wurde dann dunkel – und mit ihr alles um uns herum. Ich wartete darauf, dass meine Nachtsicht sich einschaltete, aber der Mond war hinter einer Wolkendecke verschwunden, und ich erkannte nur Umrisse.
»Was immer das auch war, ich war’s nicht«, sagte Clay, während er aufstand.
Jeremy teilte ihm mit einem Zischen und einer Handbewegung mit, er solle den Mund halten. Wieder folgte ich seiner Blickrichtung. Wieder sah ich zunächst nichts. Dann bewegte sich in sechs oder sieben Meter Entfernung ein Schatten. Ich kniff die Augen zusammen und erkannte eine undeutliche Gestalt, die mitten auf der Straße zu kauern schien.
Ich versuchte einen Schritt vorwärts zu machen, aber Jeremys Hand schloss sich um meinen Arm. Ich fing einen flüchtigen Geruch auf – der Wind trug ihn zwar von mir weg, aber er war kräftig genug, um bis zu mir zu reichen. Es war der Gestank eines ungewaschenen Körpers gemischt mit etwas, das irgendwie nach Krankheit roch. Mein Hirn griff augenblicklich nach der nächstliegenden Assoziation – ein Obdachloser.
Als ich zu Jeremy hinsah, war sein Blick auf die Gestalt gerichtet, die Augen zusammengekniffen, die gleiche Falte zwischen den Brauen. Etwas an seinem Gesichtsausdruck jagte mir einen Schauer über den Rücken. Ohne auch nur in meine Richtung zu sehen, tätschelte er mir die Hand, teilte mir dadurch mit, ich solle bleiben, wo ich war. Dann begann er, sich halb gebückt vorwärtszuschleichen.
Ich sah zu Clay hinüber. Er bewegte sich bereits auf Jeremy zu, aber Jeremy schüttelte den Kopf. Als Clay zögerte, hob Jeremy die Hand und winkte ihn entschieden zurück. Ein leises Knurren drang zu mir herüber und brach ab, als Clay seinen Protest hinunterschluckte. Jeremy schlug einen Bogen nach links, um windabwärts zu gelangen. Ich beobachtete ihn; mein Blick zuckte zwischen ihm und der dunklen Gestalt hin und her. Es sah aus wie ein Mann mit einem seltsam geformten Kopf, der auf der Straße kauerte. Dann bewegte er den Kopf, und mir ging auf, dass er einen Hut aufhatte – einen schwarzen Bowler.
Der Mann grunzte. Dann richtete er sich auf. Ein scharfes kratzendes Geräusch, dann das Aufflammen eines Streichholzes. Die Flamme beleuchtete die untere Hälfte eines dunklen Gesichts. Dicke Lippen, schwarzer Backenbart, ein fehlender Vorderzahn. Das Streichholz flackerte und erlosch. Ein Weiteres wurde angerissen, brach knackend ab, dann folgte das helle Klicken, als das abgebrochene Ende auf dem Asphalt landete. Wieder ein Grunzen. Dann Hände, die leise über Stoff glitten. Er durchsuchte seine Taschen nach weiteren Streichhölzern.
»Bloody ’ell«, murmelte er mit einem unverkennbaren britischen Akzent. Ich konnte das bleiche Rund seines Gesichts erkennen, als er sich umsah.
Dann klappte irgendwo eine Tür, und ein Lichtstrahl zuckte um uns herum. Ich duckte mich. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie der Mann auf der Straße erstarrte.
»Sie da!«, schrie eine Stimme.
Der Mann fuhr herum und stürzte davon.
»Jeremy?«, zischte Clay.
»Geh«, sagte Jeremy.
Ich richtete mich auf und rannte hinter Clay her. Jeremy rief mir etwas nach, so laut, wie er es wagte. Ich wusste genau, dass die Anweisung nicht mir gegolten hatte, aber wenn ich nicht hörte, wie er mir ausdrücklich sagte, ich solle stehen bleiben, dann brauchte ich ja auch nicht zu gehorchen. So lautete die Regel. Jedenfalls war das meine Interpretation der Regel.
Als ich Clay eingeholt hatte, warf er mir nur einen Blick zu und nickte, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder der Beute zuwandte. Der Mann bewegte sich mit dem Tempo eines langsamen Joggers nach Norden. Dann bog er ab, um die Straße zu überqueren … und rannte geradewegs in die Seitenwand eines dort parkenden Minivans hinein.
Der Mann stolperte und fluchte; die Worte klangen laut auf der leeren Straße. Dann drehte er sich rasch nach allen Seiten um, um sich zu vergewissern, ob ihn jemand gehört hatte. Clay und ich blieben reglos stehen. Wir trugen beide Jeans und dunkle Oberteile, und der Blick des Mannes glitt über uns hinweg.
Dann drehte er sich wieder zu dem Minivan um und streckte beide Handflächen aus. Er berührte die Seitenwand des Autos und fuhr mit einem Grunzlaut zurück, als hätte er erwartet, eine Fläche aus Holz oder Stein zu berühren, nicht aus Metall. Er sah die Straße hinauf und hinab, die Haltung angespannt, als würde er am liebsten verschwinden, und trotzdem …
Er streckte die Hand wieder aus und drückte die Fingerspitzen gegen die Tür des Autos. Dann strich er mit beiden Händen über die Fläche hin, stieß auf den Türgriff und hielt inne. Seine Finger zeichneten die Form des Griffs nach, und er beugte sich vor, um besser sehen zu können, stieß dann aber nur einen weiteren Grunzlaut aus und versuchte nicht, die Tür zu öffnen. Dann richtete er sich wieder auf und fuhr mit seiner Untersuchung der Autotür fort. Als er beim Fenster angekommen war, spähte er ins Innere, fuhr zurück und stieß den nächsten zu lauten Fluch aus.
Ich spürte einen Atemzug, der mich am Scheitel kitzelte, und als ich herumfuhr, sah ich Jeremy hinter mir stehen.
»Was machen wir jetzt?«, flüsterte ich.
Er zögerte, den Blick auf den etwa sieben Meter von uns entfernten Mann gerichtet.
»Clay? Hol ihn dir. Vorsichtig und bevor er die Hauptstraße erreicht hat. Elena?« Nach einer Pause sagte er: »Hilf ihm. Aber halt dich im Hintergrund.«
Das Kreischen von Reifen unterbrach ihn, als ein Auto um die Ecke gejagt kam. Scheinwerferlicht flutete in die dunkle Straße. Der Mann stieß ein Heulen des Entsetzens aus und warf sich auf den Boden – mitten auf der Straße. Im letzten Moment wich das Auto zur Seite aus. Jemand brüllte im Vorbeifahren aus dem offenen Beifahrerfenster.
»Los jetzt«, zischte Jeremy. »Schnell.«
Clay rannte auf den Mann zu; ich trabte hinterher. Der Mann lag immer noch auf der Straße, das Gesicht an die Asphaltdecke gedrückt. Wir hatten die Strecke zur Hälfte hinter uns gebracht, als ein zweites Auto voller Teenager um die Ecke jagte. Dieses Mal blieb der Mann nicht liegen, um darauf zu warten, überfahren zu werden. Er sprang auf und stürzte zur anderen Straßenseite hinüber.
Von dort gab es zwei mögliche Richtungen. In der einen würde er uns geradewegs in die Arme rennen.
Doch er nahm die andere, sobald er den Gehweg erreicht hatte – wieder nach Norden.
Im Laufen warf ich einen Blick über die Schulter zu Jeremy zurück. Er zögerte, fing meinen Blick auf, und ich war sicher, er würde mich zurückrufen. Aber einen Moment später gab er uns zu verstehen, wir sollten weiterlaufen, den Mann verfolgen und ihn an irgendeinem ungefährlichen Ort stellen.