Zoe
Von außen betrachtet war das Miller’s nicht die Sorte Lokal, in die ich mich verirrt hätte, um etwas zu trinken. Die Bar war ein finsteres Loch, dessen einzige Tür auf einen engen Durchgang zwischen zwei Häusern hinausführte. Das flackernde Werbeschild für Miller’s Ale ließ mich vermuten, dass die Bar anders heißen würde, wenn ihr Besitzer im Sperrmüll stattdessen ein Labatt’s-Schild gefunden hätte. Neben der Tür befand sich ein einziges Fenster. Als ich näher trat, stellte ich fest, dass die Fensteröffnung von innen mit Putz zugestrichen war.
Ein Schauer von Kies regnete auf mich herunter. Clay hatte den Absatz der Feuertreppe im ersten Stock erreicht. Das Fenster dort war vergittert, was ganz sicher jeden Menschen gefreut hätte, der sich bei einem Brand im Gebäude eingesperrt fand. Aber die Gitterstäbe waren alt, und Clay brach sie mit einer kurzen Drehung heraus. Dann zog er das T-Shirt aus und wickelte es sich um die Hand, um das Geräusch zu dämpfen, als er die Fensterscheibe einschlug. Kein Sirenengeheul – bei diesem Laden gab es nur die verrosteten Stangen als Einbruchsschutz.
Clay sah durch das Gitter der Feuerleiter zu mir herunter.
»Du kommst zurecht?«, fragte er.
»Ich glaube, mit einem Vampir werde ich noch fertig.«
Ich wartete, während Clay im Inneren verschwand. Einen Moment später streckte er den Kopf wieder ins Freie und hob den Daumen. Er hatte einen Ort gefunden, von dem aus er über mich wachen konnte.
Im Film werden Vampire und Werwölfe oft als Todfeinde dargestellt. Stimmt nicht. Es gibt keine instinktive Abneigung, keine jahrhundertealte Fehde. Ich bin einfach nicht besonders scharf auf Vampire. Schieben Sie’s auf eine schlechte Erfahrung.
Die erste Vampirin, die ich je kennengelernt hatte, versuchte Freundschaft mit mir zu schließen. Nichts dagegen einzuwenden, oder? Ich war geschmeichelt – wer wäre das nicht gewesen? Dann wurde ich von menschlichen Psychopathen entführt, die Paranormale sammelten. Die Reaktion der Vampirin darauf? Welch eine Tragödie … aber solange Elena nicht da ist, kann ich mir ja genauso gut ihren Freund unter den Nagel reißen. Clay hatte sie natürlich abblitzen lassen, und als ich entkam, glaubte sie, wir könnten einfach da weitermachen, wo wir aufgehört hatten. Die Lektion, die ich aus alldem gelernt habe? Verglichen mit einem Vampir ist Clay geradezu einfühlsam.
Ich sollte meine Erfahrungen mit Cassandra nicht auf alle Vampire übertragen, aber spätere Begegnungen hatten mich gelehrt, dass Vampire mit wenigen Ausnahmen selbstverliebte Egoisten sind. Paige sagt, es ist purer Selbsterhaltungstrieb, weil sie so lange leben, dass sie alle anderen ringsum alt werden und sterben sehen. Sie lernen, keine Bindungen einzugehen. Ich kann das nachvollziehen. Aber es ist ein großer Unterschied, ob man einen bestimmten Typ von Person versteht oder ob man seine Zeit mit ihm verbringen will. Als ich also diese Bar betrat und mich nach Zoe Takano umsah, war mir klar, dass dies ein gewisses Maß an schauspielerischem Talent erfordern würde.
Eine Welle von Zigarettenrauch rollte über mich hin, sobald ich die Tür geöffnet hatte. Irgendjemand hier hielt nicht viel von dem Rauchverbot der Stadt. Ein Blick in die Runde, und mir war klar, dass der Wirt keinerlei Gefahr lief, gemeldet zu werden. Die Leute, die sich Gedanken übers Passivrauchen machten, kamen sicher nicht hierher.
Ein Dutzend Gäste, die meisten von ihnen allein, schien darauf aus zu sein, sich mit Bier und drittklassigem Whiskey um den Verstand zu trinken. Ein paar saßen an der Bar; sie redeten nicht, tranken einfach, als sei die Nähe von einem halben Meter zu einer anderen Person das Äußerste an Geselligkeit, was sie ertragen konnten.
Xavier hatte gesagt, der Barmann sei ein Paranormaler. Er hatte nicht gesagt, welcher Spezies er angehörte, und es kam auch nicht drauf an. Aber es erklärte, warum der Barmann und wahrscheinlich auch einige der Stammgäste eine Frau jahrzehntelang hierherkommen sahen, ohne dass sie alterte, und sich keine weiteren Gedanken darüber machten. Die nicht paranormalen Stammgäste hätten wahrscheinlich sehen können, wie ein Vampir sich über den Typ neben ihnen hermachte, und wären lediglich zu dem Schluss gekommen, dass sie für heute Abend wohl ihr Limit erreicht hatten.
Zoe Takano war nicht schwer zu finden. Zum einen war sie die einzige Frau. Zum anderen war sie sauber – gleißendes schwarzes Haar, enges weißes T-Shirt, schwarze Jeans und Motorradstiefel. Und sie sah lebendiger aus als irgendjemand sonst in der Bar, was, wenn man es sich einen Moment lang überlegte, etwas traurig war.
Sie saß an einem Tisch in der Ecke und las die Toronto Sun, die Hand um eine eiskalte Bierflasche geschlossen. Als ich hereinkam, war sie die Erste, die aufsah – die Einzige, die aufsah. Sie musterte mich ein Mal langsam von oben bis unten und dann ein zweites Mal; ihr Zeigefinger klopfte sacht gegen den Hals der Bierflasche. Schätzte sie meine Qualitäten als einen möglicherweise noch befriedigenderen Durstlöscher ab? Wenn ich das richtig anstellte, konnten wir die Smalltalk-Phase dieser Unterredung vielleicht überspringen und gleich zu dem Teil kommen, in dem ich in einen verlassenen dunklen Durchgang eingeladen wurde.
Vielleicht war dies gar nicht Zoe. Xavier hatte gesagt, dass die Bar paranormale Kriminelle anzog, die einen sicheren Ort brauchten, um ihre Geschäfte abzuwickeln. Aber Zoe war der einzige Vampir in Toronto – ein kurzer Anruf beim zweiten Vampirdelegierten des Rates, Aaron, hatte dies bestätigt. Er hatte mir außerdem eine kurze Beschreibung geliefert. Aaron hatte Zoe seit Jahren nicht mehr gesehen, aber bei Vampiren ändert sich das Äußere nicht alle zwei Jahre. Oder Jahrzehnte.
Aarons Beschreibung passte auf sie, aber beim Näherkommen machte ich trotzdem einen Witterungstest. Der Geruch eines Vampirs ist vollkommen künstlicher Natur. Ich konnte Cassandra oder Aaron anhand ihrer charakteristischen Kombination von Seife, Shampoo, Kosmetik und Waschmittel identifizieren, aber darunter war nichts. Wenn man keine Körperfunktionen hat, hat man auch keinen Eigengeruch.
Diese Frau hatte fast gar keinen Geruch, nur ein ganz schwaches chemisches Aroma, als verwendete sie ausschließlich unparfümierte Produkte. Um Wachhunde zu verwirren wahrscheinlich.
»Zoe Takano?«, fragte ich.
Ihr Blick glitt an mir hinauf und musterte mich. Als sie bis zu meinen Augen gekommen war, erwartete ich, ein raubtierhaftes Glänzen zu sehen. Hier stand eine gesunde Frau, allein und durch eine Schwangerschaft behindert. Mutter Natur servierte ihre Version eines Fertigmenüs, ein Abendessen, das zu dumm war, um sich aus der Gefahrenzone zu halten. Aber der Gesichtsausdruck verriet nichts als Neugier.
Am anderen Ende des Raums hörte der Barmann auf, seine Theke abzuwischen, und sah mit schmalen Augen zu uns herüber. Sie musste ihm irgendein Zeichen gegeben haben, denn er nickte und wischte weiter.
»Zoe Takano?«, wiederholte ich; inzwischen war ich mir fast sicher, dass sie nicht die Frau war, für die ich sie zunächst gehalten hatte.
»Zu Ihren Diensten, Ma’am.« Jetzt glitzerten ihre Augen – Vorfreude, aber es war immer noch kein Hunger darin, nur Interesse. »Und ich gehe davon aus, dass es eine Dienstleistung ist, um die es hier geht – eine, die ich liefern kann?«
»Ich hätte ein Angebot …«
Sie lachte leise. »Genau das, worauf ich gehofft habe.«
»Es ist ein Job …«
»Ach so, es ist beruflich. Wie schade.«
Ich zögerte. »Du nimmst zurzeit keine Aufträge …«
Ein klingelndes Lachen, wie ein Glockenspiel. »Oh, ich nehme immer Aufträge an. Nimm mich nicht so ernst. Es war eine öde Woche, und wenn es nichts gibt, das mich unterhält, dann fange ich an, mir die Unterhaltung selbst zu liefern. Setz dich doch. Gönn deinen Füßen eine Pause. Das da« – ein Nicken zu meinem Bauch hin – »kann nicht sonderlich bequem sein. Nicht bei dieser Hitze.«
»Äh, ja. Ich meine, nein, ist es auch nicht.« Ich zog mir einen Stuhl heran und setzte mich. »Danke.«
»Etwas Kaltes?«, fragte sie. »Alkoholfrei, nehme ich an?«
»Äh, nein. Schon okay. Man hat mir gesagt …«
»Erst das Wichtigste«, sagte sie, während sie sich auf ihrem Stuhl zurücklehnte. »Referenzen. Ich nehme an, du bist auf eine Empfehlung hin hier. Darf ich fragen, von wem?«
Ich warf einen nervösen Blick in die Runde. »Ich, also, ich hatte gehofft, wir könnten das irgendwo erledigen, wo es weniger … öffentlich zugeht.«
Wieder ein klingelndes Lachen. Sie beugte sich vor. »Sieht irgendwer hier drin aus, als hätte er auch nur die Energie zum Lauschen, von der Absicht ganz zu schweigen?«
»Äh, nein, aber …« Ich versuchte nervös auszusehen. »Ich mache das zum ersten Mal, und …«
»Und du hättest gern, dass ich mit dir rausgehe, wo irgendwer auf mich warten könnte.« Ihr Lächeln war jetzt kälter. »Ich weiß nicht, wer du bist und wer dich geschickt hat …«
»Er heißt Xavier Reese. Er hat gesagt, du kennst ihn zwar nicht persönlich, aber …« Ihrem Gesichtsausdruck merkte ich an, dass Xaviers Name, selbst wenn er ihr etwas sagen sollte, nicht ausreichen würde, um sie ins Freie zu locken. »Und ich habe außerdem mit Aaron Darnell geredet, um eine Empfehlung zu bekommen.«
Ein Funken von Interesse unter der Wachsamkeit, aber sie blieb immer noch kühl. »So, hast du das? Und was hat er gesagt?«
»Dass du vertrauenswürdig bist … für eine Diebin.«
Ihre dunklen Augen begannen fröhlich zu funkeln; sie grinste. »Ach ja, Aaron. Er versucht Verständnis zu haben, kann seine Missbilligung aber nicht ganz überwinden.«
Sie nahm einen Schluck Bier und sah nachdenklich aus, als sei selbst diese Quelle noch nicht gut genug. Oh, komm schon. Du bist ein Vampir, fast unverwundbar. Wovor fürchtete sie sich eigentlich – vor einer hochschwangeren Blondine?
Sie ließ die Fingernägel gegen den Flaschenhals klicken; dann sah ich ein winziges »Ach, was soll’s«-Lächeln erscheinen, und sie stieß ihren Stuhl zurück.
»In Ordnung«, sagte sie. »Gehen wir raus, und du kannst mir erzählen, worum es eigentlich geht.« Ich verließ die Bar als Erste. Zoe blieb in der Tür stehen, sah sich um, lauschte und folgte mir ins Freie.
Ich tat zwei Schritte in den Durchgang, drehte mich um, um zu fragen: »Ist das hier gut genug?«, und Zoe stürzte sich bereits auf mich. Ihre Reißzähne trafen auf meine Faust, und sie krachte mit einem Quieken gegen die Backsteinmauer. Sie machte wieder einen Satz auf mich zu, aber ein Kinnhaken ließ sie den Durchgang entlangsegeln.
Nicht ganz die Art, wie ich normalerweise mit potenziellen Quellen umgehe, aber wenn ich ihr nicht gerade ein Körperteil abhackte, konnte ich einem Vampir keine bleibenden Schäden zufügen. Und es ist bei ihnen wie bei jedem Beutegreifer – wenn man Dominanz etablieren will, muss man es schnell tun. Bevor sie sich also von dem Kinnhaken erholen konnte, warf ich mich auf sie, schleuderte sie zu Boden und hielt sie dort fest.
»Ich hoffe bloß, du warst nicht allzu hungrig«, sagte ich.
»Hungrig?« Sie lachte und streckte sich unter mir auf dem Boden aus, als wollte sie sich ausruhen. »Ganz und gar nicht, aber ich dachte, es ist die schnellste Methode, diesen ganzen ›Ich will irgendwo ungestört mit dir reden‹-Unfug hinter uns zu bringen und rauszufinden, was du wirklich willst … und was du bist.« Sie ließ die Zunge über ihre aufgeplatzte Lippe gleiten, und die Wunde heilte sofort. »Halbdämonin, nehme ich an?«
»Gut geraten.«
»Ich glaube nicht, dass ich schon mal einer begegnet bin, die so … handfest gewesen wäre. Interessant.«
Ich sah mich über die Schulter nach Clay um und entdeckte ihn am Ende des Durchgangs, wo er wartete. Als ich mich umdrehte, bewegte sich Zoe. Ich spürte einen scharfen Ruck an meinem Haar und packte ihre Hand, nur um mein durchgerissenes Haargummi dort zu finden. Die Haare glitten mir über die Schulter, und ich stieß ein Fauchen aus, während ich versuchte, sie wieder nach hinten zu schleudern.
»Sorry, ich musste das einfach machen«, sagte Zoe. »Silberblond. Umwerfend. Dein Naturton, oder? Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass eine Frau, die sich die Haare mit einem Gummiband zusammenbindet, es mit Tönungen hat.«
Wirklich unfassbar. Da wird sie von einer unbekannten Angreiferin am Boden festgehalten … und will Schönheitstipps austauschen. Ich nehme an, für einen Vampir hat der Ausdruck »Lebensgefahr« einfach nicht den gleichen bedrohlichen Klang.
»Ich muss mit dir über etwas reden, das du vor langer Zeit gestohlen hast.«
»Sind wir jetzt schon beim Geschäftlichen?«
»Entweder das, oder ich wälze dich noch ein bisschen in der Gegend herum.«
Sie zögerte, als würde sie ernsthaft überlegen.
»Geschäftlich«, sagte ich.
Ein leiser Seufzer. »Oh, in Ordnung dann also. Etwas, das ich vor langer Zeit gestohlen habe, ja? Ich habe eine Menge Dinge gestohlen, die meisten davon vor langer Zeit.«
»Ich glaube, dieser Gegenstand würde in die Kategorie ›einzigartig und denkwürdig‹ fallen. Jack the Rippers From-Hell-Brief.«
Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht.
»Vor achtzig Jahren aus dem Archiv der London Metropolitan Police gestohlen?«, fragte ich. »Und an eine hier ansässige Magierfamilie verkauft?«
»Du bist auch von hier, oder? Ich hör’s am Akzent.« Sie lachte. »Beziehungsweise dem Fehlen eines solchen. Warum sind wir uns noch nie begegnet? Du warst mit Sicherheit nie im Miller’s. Daran würde ich mich erinnern.«
»Was ist mit dem Brief? Erinnerst du dich an den?«
»Entfernt.« Sie schob sich unter mir zurecht und legte sich eine Hand unter den Kopf, um es sich bequemer zu machen. »Ich würde lieber über dich reden.«
Ich sah über die Schulter. Clay nickte und verschwand um die Ecke, wo er den Fluchtweg bewachen konnte, ohne dass Zoe seine Anwesenheit bemerkte. Er hielt sich weit genug entfernt, dass sie ihn nicht spüren konnte.
Ich glitt von ihr herunter. Sie blieb noch einen Moment lang am Boden liegen, seufzte fast bedauernd und setzte sich dann auf.
»Was hast du doch gleich gesagt, wie du heißt?«, erkundigte sie sich.
»Habe ich nicht.«
»Ich weiß, ich wollte dir einfach eine Gelegenheit geben, das zu korrigieren.« Sie lächelte; ihre Zähne schimmerten in dem trüben Licht. »Aber wenn du nicht willst, dann haben wir immerhin ein Thema fürs nächste Mal.«
Sie sprang auf und jagte den Durchgang entlang – in die andere Richtung, auf eine zweieinhalb Meter hohe Mauer zu; sie bewegte sich so schnell, dass sie über die Mauer war, bevor ich es auf die Beine geschafft hatte.
Clay stürmte an mir vorbei. Er erreichte die Mauer und sprang, packte die Kante und schwang sich hoch; oben sah er sich um und stellte fest, dass ich ihn noch nicht einmal eingeholt hatte. Er blieb in der Hocke oben auf der Mauer und wartete.
»Nein, geh schon!«, sagte ich. »Rennen und springen, das kann ich nicht. Nicht so.«
»Dann folgen wir eben der Fährte.«
Ich schüttelte den Kopf, noch während ich nach seinen Händen griff. »Ihre Witterung ist sehr schwach.«
»Es macht nichts.« Er schloss die Finger um meine Handgelenke und zerrte mich hoch. »Ich lasse dich nicht allein, weißt du noch?«
Er half mir über die Mauer. Wir rannten zum Ende des Durchgangs auf der anderen Seite.
»Da«, sagte Clay.
Wir erwischten einen Blick über die Straße auf Zoe, die gerade in einer Nebenstraße verschwand. Clay griff nach meinem Arm, und wir rannten hinüber. Noch ein paar weitere Straßen und Durchgänge, und wir erreichten ein Stück offenes Land, das sich bis zum Fuß eines bewaldeten Hügels erstreckte.
Clay lachte leise. »Kommt dir das hier bekannt vor, Darling?«
Ich grinste. »High Park.«
Hier war ich joggen gegangen, als ich noch an der University of Toronto studiert hatte. Eine ganz schöne Strecke vom Universitätsgelände, aber ich war willens gewesen, sie zu gehen – oder die U-Bahn zu bezahlen –, um an einem Ort ohne Straßen laufen zu können. Als Clay und ich uns kennengelernt hatten, war dies mehr als jeder andere »unser« Ort gewesen.
Ich beobachtete, wie Zoes weißes T-Shirt zwischen den Bäumen verschwand. Es gab nur eine sichere Methode, sie einzuholen – eine, bei der mein Bauch sich nicht auf meinen Gleichgewichtssinn auswirken würde.
Ich hob die Schnauze und sog einen tiefen Atemzug ein; meine Beine zitterten vor Aufregung. High Park. Selbst in meinen späteren Jahren in Toronto war ich nie in Wolfsgestalt hier rennen gegangen. Zu viele Erinnerungen, alle untrennbar verwoben mit dem einen Umstand, den ich hatte vergessen wollen. Aber jetzt waren wir hier, wie damals in unseren frühen Zeiten, vor dem Biss, bevor mein Leben komplett auseinandergefallen war. Clay war hier, bei mir, und die Einzelteile waren neu zusammengefügt, und das neue Ganze war besser als das Alte.
Ich stieß einen zitternden Seufzer aus und schloss die Augen. Ich spürte das Gewicht in meinem Bauch, schwer und warm und lebendig. Lebendig. In dieser Gestalt hatte ich keinerlei Zweifel – keine Befürchtungen. Alles war einfach – mein Gefährte, mein Welpe, beide in Sicherheit, alles, wie es sein sollte, und die Nacht und der Wald lagen ausgebreitet vor uns, bereit, von uns genossen, erkundet, in Besitz genommen zu werden –
Ein fragendes Winseln dicht an meinem Ohr. Clay sah mich an, den Kopf zur Seite gelegt, ein »Noch da?« in den Augen.
Ja, richtig. Bevor wir uns im Wald vergnügen konnten, gab es da ja noch das kleine Detail eines flüchtenden Vampirs abzuhaken.
Es war neun Tage her, seit ich zum letzten Mal gerannt war, und nun bekam ich die Quittung dafür, als ich Zoes Fährte aufzunehmen versuchte. Jeder andere Geruch, jedes andere Geräusch, jeder Anblick, sogar das Gefühl des schlammigen Bodens, der unter meinen Pfoten schmatzend nachgab – alles war ungleich verlockender als eine Vampirfährte. Der schwache Geruch von Holzrauch sagte: Komm her. Das Klopfen von Kaninchenpfoten: Abendessen – fang mich doch. Ein Lichtschimmer zwischen den Bäumen: Sieh nach, was das sein mag. Komm her, flüsterten sie, vergiss den Vampir …
Dann witterte ich die Fährte, und die anderen Stimmen verstummten, übertönt von der überwältigenden Botschaft: Beute. Eine intelligente, menschenähnliche Beute, nicht die albernen kleinen Karnickel, die ich jederzeit bekommen konnte. Und ich hatte nicht nur die Erlaubnis, sie zu jagen – ich musste sogar.
Ich stürmte den Pfad entlang, Clay dicht hinter mir. Es war nicht nötig, in Deckung zu gehen. Es würde hier keine weiteren Beutegreifer geben, und wenn wir einem Menschen begegneten, würde der höchstens ein Aufblitzen von Pelz sehen, bevor wir ins Unterholz abtauchten.
So schwach Zoes Fährte war, mein Wolfshirn folgte ihr mit einer Konzentration, die ich als Mensch niemals zustande gebracht hätte. Sie lief in Richtung Schlucht. Hinter mir stieß Clay ein leises Knurren aus. Ich sah auf. Wir hatten bereits den höchsten Punkt der Klippe erreicht, und dort unter uns sah ich Zoes weißes T-Shirt den Pfad entlangwippen. Sie rannte nicht mehr, ging nur noch rasch, in der Gewissheit, dass sie die watschelnde Schwangere in dem Durchgang zurückgelassen hatte.
Ich blieb oben am Pfad stehen und grub die Klauen in die Erde, um ein Gespür für den Boden zu bekommen. Weich, aber trocken. Gut. Mit der Schnauze voran den Hang hinunterzuschlittern war nicht der Auftritt, den ich mir vorgestellt hatte. Ein Schlag mit dem Schwanz, und ich jagte den steilen Hang hinunter, wurde mit jedem Schritt schneller.
Ich war noch etwa drei Meter von Zoe entfernt, als sie mich schließlich hörte. Sie drehte sich um. Und ich bekam meine Belohnung in dem Sekundenbruchteil ihrer »O mein Gott«-Überraschung und, ja, Furcht. Erwischt man sie unvorbereitet, kann man offenbar sogar Vampiren Angst machen. Nicht schlecht.
Zoe tat das, was jeder getan hätte, der einen siebzig Kilo schweren Wolf auf sich zustürmen sieht – sie versuchte wegzurennen. Aber bevor sie sich bewegen konnte, sprang ich und erwischte sie an der Schulter. Sie fiel, brachte es aber fertig, sich im Fallen noch abzurollen.
Ich hätte ihren Arm packen können. Hätte es gekonnt … aber ich tat es nicht, weil das alles bisher zu einfach gewesen war. Normalerweise jage ich keine Menschen. An irgendeinem Punkt könnte mein adrenalinberauschtes Hirn vom Spielmodus in den Jagdmodus rutschen, und das konnte ich nicht riskieren. Aber Zoe Takano konnte ich nicht umbringen, nicht durch Zufall und ganz sicher nicht so ohne weiteres.
Mein Biss würde sie nicht einmal zu einem Werwolf machen – Clay und ich hatten das festgestellt, als wir Aaron vor einer Weile geholfen hatten, einen vampirischen Unruhestifter zu finden. Also konnte ich gefahrlos mit ihr spielen. Selbst Jeremy hätte die Vorteile eingesehen, die es hatte, ihr als Verhandlungsargument für die Zukunft eine Kostprobe meiner Kräfte zu geben.
Ich ließ Zoe ausweichen. Dann griff ich fauchend nach ihrem Arm, ohne mehr zu tun, als ihr die Haut aufzuritzen, aber es war eine gute schauspielerische Leistung. Eine kleine Erinnerung daran, dass sie nicht vollständig immun gegen Verletzungen war – ein wirkliches Zubeißen um Handgelenk oder Unterarm, und der Schaden wäre bleibend. Vampire können sich regenerieren, aber wenn sie ein Körperteil verlieren, wächst es nicht nach.
Als ich wieder auf sie losging, täuschte sie nach der Seite. Und dann, halleluja, rannte sie endlich los.