Heimwärts

Als wir am nächsten Morgen aufwachten, hatte Jeremy die Zeitungen bereits nach jedem Hinweis auf die Ereignisse der vergangenen Nacht abgesucht. Er hatte nichts gefunden. Ein Lokalradiosender berichtete, dass man noch dabei war, die Ursachen eines Stromausfalls in Cabbabgetown zu beseitigen, aber der Sprecher hatte noch nicht einmal ausgeredet, als die Meldung kam, dass das Problem behoben war. Und das war alles – ein Kurzschluss in einem bereits reparierten Transformator. Kein Wort über einen backenbärtigen Mann mit einem Bowler auf dem Kopf.

»Wir gehen also?«, fragte ich, während Jeremy ein Hemd zusammenlegte und in seiner Tasche verstaute. »Wir haben möglicherweise Jack the Ripper beschworen, und jetzt gehen wir?«

Er antwortete nicht, also ging ich zum Fußende des Bettes hinüber, von wo aus ich sein Gesicht sehen konnte. »Du glaubst doch, dass wir das getan haben, oder? Jack the Ripper beschworen?«

»Weil wir eine tote Mücke auf einen Brief haben fallen lassen, den der Mann möglicherweise vor über hundert Jahren geschrieben hat?«

Ich ließ mich aufs Bett plumpsen. »Meine Hormone gehen wieder mit mir durch, stimmt’s?«

Ich konnte mir vorstellen, was Clay zu meinem wilden logischen Bocksprung gesagt hätte, aber glücklicherweise war er noch in unserem Zimmer und mit Duschen und Rasieren beschäftigt.

Jeremy antwortete nur mit einem schiefen Lächeln, während er seine Hose von einem Stuhl nahm. Dann sagte er: »In Anbetracht vieler Dinge, die wir schon gesehen haben, ist das nicht so verrückt, wie es sich anhört. Irgendwas ist passiert gestern Abend, irgendwas … Ungewöhnliches.«

Ich erinnerte mich an seine Reaktion, den seltsamen Ausdruck in seinem Gesicht, als er den Rauch gesehen hatte; wie er zu dem Transformator hinaufgesehen und Clay und mich aus dem Weg gestoßen hatte, bevor er explodierte. Ich brannte darauf, ihn danach zu fragen, aber wie bei allem anderen in Jeremys Leben galt auch hier: Wenn er nicht freiwillig davon anfing, traute ich mich nicht, weiter nachzufragen.

»Dieser Typ ist nicht aus einer Laientheatervorführung gekommen«, sagte ich.

»Ich weiß.«

»Was glaubst du also, was da passiert ist?«

»Ich weiß es nicht.«

Er ging zum Bad hinüber, um sein Waschzeug zusammenzupacken.

»Willst du, dass ich den Mund halte und verschwinde?«, fragte ich.

»Natürlich nicht.«

»Dann willst du, dass ich einfach aufhöre, darüber zu reden.«

»Nein.«

Ich stieß ein leises frustriertes Knurren aus.

»Kann ich den Brief mal sehen?«

»Der ist schon eingepackt.«

Er sagte es ohne zu zögern, ohne einen Tonfall, einen Gesichtsausdruck oder irgendwas sonst, das mir den Eindruck hätte vermitteln können, dass er mir den Brief nicht zeigen wollte. Aber wenn man so lang mit jemandem zusammenlebt, wie ich mit Jeremy zusammenlebte, dann weiß man manches einfach.

Ich trat in die Badezimmertür. »Was ist los mit diesem Brief?«

»Nichts. Ich muss einfach den Schaden beheben, bevor wir ihn abliefern. Und ich bin nicht drauf aus, ihn abzuliefern, bevor ich das getan habe, was ich gleich am Anfang hätte tun sollen – mehr über ihn herauszufinden.«

»Wir haben genau recherchiert. Ich habe alles rausgesucht, was ich über seine Geschichte …« Ich sah ihn an. »Du meinst seine paranormale Geschichte, stimmt’s? Ob der Brief irgendeinen paranormalen Hintergrund hat. Er war immerhin im Besitz eines Magiers. Vielleicht steht eine unsichtbare Formel drauf. Oder das Papier ist magisch. Vielleicht ist es …«

»Aus der Haut von tausend Mördern gemacht?«, fragte eine schleppende Stimme hinter mir. »Zusammengeklebt mit den Tränen ihrer Opfer? Im Feuer der Hölle getrocknet? Es steht immerhin drauf, dass er aus der Hölle stammt. Könnte ein Hinweis sein.«

Ich starrte ihn an, und Clay grinste, packte mich, zog mich an sich und küsste mich seitlich auf den Hals.

»Ich habe bloß …«, begann ich.

»Mögliche Theorien aufgestellt. Und ich habe dabei geholfen.«

»Von allen ›möglichen Theorien‹ abgesehen«, sagte Jeremy, »ich bin mir zwar nicht sicher, dass das, was da gestern Abend passiert ist, irgendwas mit dem Brief zu tun hat …«

»Ein Opfer!« Clay hievte mich auf die Platte neben dem Waschbecken. »Wir haben eine Mücke geopfert. Ich wette, das war der Auslöser. Wahrscheinlich war sie außerdem noch Jungfrau.«

»Ich habe Robert Vasic angerufen, um der Sache nachzugehen«, fuhr Jeremy fort.

»Der Sache mit der Mücke?«, fragte Clay. »Sie ist ziemlich zerquetscht, aber sicher, klar.«

Jeremy verschränkte die Arme und wartete.

Clay seufzte und griff nach seinem Waschbeutel. »Ich bringe das Zeug zum Auto.«

Jeremys Gesichtsausdruck wurde weicher, als er ihm nachsah. Ich wusste, was er dachte – es war das Gleiche, was auch ich dachte: dass es gut war, Clay glücklich zu sehen. Nachdem Clay mich gebissen hatte, hatte es Monate und sogar Jahre gegeben, in denen keiner von uns diese Seite an ihm zu sehen bekommen hatte. Aber jetzt hatte er alles, was ihm wichtig war – sein Zuhause, sein Rudel, seinen Alpha und seine Gefährtin. Und bald auch ein Kind. Lauter Gründe, glücklich zu sein. Im Moment jedenfalls.

Ich legte die Hände auf meinen Bauch und versuchte nach Leibeskräften, einen Tritt, einen Stoß, irgendein Lebenszeichen zu spüren.

Nichts.

»Du kannst das Stethoskop nehmen, wenn wir wieder zu Hause sind«, sagte Jeremy leise. »Der Herzschlag ist ein bisschen unregelmäßig, aber in den Büchern steht, das wäre nicht ungewöhnlich.«

»Du hast Robert schon angerufen? Was hat er gesagt?« Ein leiser Seufzer bei meinem Themenwechsel. Jeremy zog die gebrauchten Handtücher von der Stange und warf sie in den Korb, bevor er antwortete. »Er war nicht zu Hause, aber Talia hat gesagt, sie würde ihm ausrichten, er sollte mich heute noch zurückrufen.«

 

Wir aßen ein spätes Frühstück, bevor wir aufbrachen. Unser Hotel hatte ein Restaurant, das erst am Mittag öffnete, also gingen wir ein paar Häuser weiter und aßen dort.

Wir waren auf dem Rückweg – zu Fuß, für die kurze Strecke das Auto zu nehmen wäre die Mühe nicht wert gewesen –, als ich einen flüchtigen Geruch auffing, der mich abrupt stehen bleiben ließ. Jeremy und Clay waren schon ein paar Schritte weiter, als sie merkten, dass ich nicht mehr zwischen ihnen war. Jeremy blieb, wo er war, Clay kam zurück.

»Was gibt’s?«

Ich legte den Kopf zur Seite und sog Luft ein, rieb mir dann die Nase und verzog das Gesicht. »Ich hasse das. Man fängt einen schwachen Geruch auf, das Hirn sagt ›Hey, den kenne ich doch‹, und dann ist es weg.«

Clay sah sich um. Wir standen auf einem Rasenstreifen zwischen der Straße und unserem Hotelparkplatz. Autos schossen vorbei, aber es war kein Mensch zu sehen. Eine vielbefahrene Straße ohne Gehwege ermutigte einen nicht gerade, hier zu Fuß zu gehen.

»Vielleicht ist jemand, den du kennst, mit offenem Fenster vorbeigefahren.« Er warf einen Blick zu der Reihe von Läden auf der anderen Straßenseite hinüber. »Oder dort ausgestiegen.«

Ich nickte. »Wahrscheinlich. Wer es auch war, jetzt ist es weg.«

Wir holten Jeremy ein und gingen zu unserem Geländewagen.

 

Ich wechselte bis Buffalo ständig die Radiosender, hörte mir am Anfang und Ende jeder Stunde die Nachrichten der Privatsender an und kehrte zu CBC zurück, wenn sie zu Musik übergingen. Als wir Buffalo hinter uns hatten und die kanadischen Sender allmählich zu Störgeräusch zerflossen, war ich überzeugt, dass Jeremy recht gehabt hatte. Was da auch passiert war in der vergangenen Nacht, wir konnten ungefährdet nach Hause fahren.

Wir nahmen die Ausfahrt Darien Lake, um zu tanken – sowohl Benzin als auch Essbares. Fürs Mittagessen hatten wir ein Lieblingsrestaurant bei Rochester vorgesehen, aber das Frühstück lag jetzt zwei Stunden zurück, und unsere Mägen meldeten sich. Na ja, Clays und meiner meldeten sich; bei Jeremy wusste man das nie.

Im Laden griff ich mir einen Donut und eine Schokoladenmilch – abgepacktes Zeug, aber was anderes hatten sie dort nicht.

Es herrschte viel Betrieb in dem Geschäft; es gab nur zwei Kassen, und an einer davon hantierte die Kassiererin mit ihrer Schublade, so dass die Schlange inzwischen bis zu den Kühlfächern reichte. Ständig streiften mich Leute, die zum Getränkeschrank wollten. Ich habe es noch nie sehr gemocht, wenn meine Privatsphäre verletzt wird, aber in letzter Zeit führte die übergroße Nähe von Fremden dazu, dass ich entweder um mich schlagen oder einfach nur wegrennen wollte.

Als ich nun in dieser Schlange feststeckte, in einem geschlossenen Raum und von zu vielen Leuten umgeben, glitt mein Blick immer wieder zur Tür hinüber, hinter der Freiheit und frische Luft lagen. Vor allem frische Luft. Die Mischung aus menschlichen Ausdünstungen, billigem Parfum und Frittierfett vom Restaurant her ließ meinen Magen rebellieren, und ich begann mich zu fragen, ob ich überhaupt etwas essen konnte.

Ein Lastwagenfahrer rempelte mich im Vorbeigehen so hart an, dass ich rückwärts gegen das Regal torkelte. Er streckte den Arm aus, um mich abzufangen, und blies mir Kaffeedunst und Mundgeruch ins Gesicht. Eine andere Hand stützte mich von hinten ab. Clay warf dem Trucker einen wütenden Blick zu, woraufhin der etwas Entschuldigendes murmelte und sich an uns vorbeischob.

Clay nahm mir die Milchtüte und den Donut ab und stapelte beides noch auf die Dinge, die er für sich und Jeremy ausgesucht hatte.

»Hey«, murrte der Mann hinter uns. »Das ist eine Schlange, wissen Sie? Sie können sich nicht einfach hier …«

Clay drehte sich um und sah ihn an, woraufhin der Mann hastig den Mund zumachte. Ich beugte mich zur Seite, um herauszufinden, warum es nicht vorwärts ging.

»Alles okay?«, flüsterte Clay.

Ich sah rasch in die Runde. »Bloß ein bisschen klaustrophobisch.«

Er nickte, sagte aber nichts dazu. Es war auch gar nicht nötig. Clay hasste Menschenmengen, hatte sie schon immer gehasst, und ich hatte ihm deshalb immer Vorwürfe gemacht und es auf seine Abneigung gegen Menschen im Allgemeinen geschoben. Aber jetzt sah ich ihm in die Augen und entdeckte das Spiegelbild meiner eigenen Reaktionen dort – Unbehagen, nicht Abneigung –, und ich wusste, dass ich nie wieder Bemerkungen machen würde, weil er einen Bogen um belebte Einkaufszentren oder volle Kinos machte.

Er schob sich neben mich; seine Hüfte streifte meine. »Geh schon mal raus. An die frische Luft.«

»Ich …«

Er stieß mich erneut mit der Hüfte an, was seinen Stapel von abgepacktem Zeug ins Schwanken brachte. »Geh schon, streck die Beine. Da draußen ist eine Wiese, oder? Hinter dem Gebäude?«

»Ich glaube ja.«

»Dann such eine Stelle zum Picknicken. Treib Jeremy auf, ich komme dazu.«

»Danke.«

 

Jeremy war draußen und beäugte einen von diesen neuen Hybrid-Geländewagen.

»Überlegst du dir, den Explorer auszutauschen?«, fragte ich.

»Ich habe an dich gedacht.«

»Ich habe ein Auto.«

»Halb tot, keine Airbags, keine Kindergurte und ganz entschieden nicht familienfreundlich.« Er winkte zu dem Möchtegern-Geländewagen hinüber. »Das da ist nett.«

»Nett? Es sieht aus wie ein Leichenwagen im Kleinformat. Ja, ich weiß, ich werde etwas Neues brauchen. Aber nicht das da. Und wenn du jetzt etwas von Minivan sagst …«

»Das würde ich nicht wagen.«

Ich erzählte ihm von Clays Picknickplänen.

»In Ordnung«, sagte er. »Ich gehe aufs Klo. Du kannst auf mich warten, oder wenn Clay als Erster rauskommt, komme ich nach.«

Jeremy ging los, blieb dann aber stehen, um ein Auto zu beobachten, das in eine Parklücke einbog. Ein Mercedes-Geländewagen.

»Vielleicht so was wie dieses«, sagte er. »Es ist ein Oberklassewagen, bei dem man jeglichen Komfort hat und außerdem die Sicherheit bei schlechten Straßenverhältnissen, aber er ist nicht so groß und schwerfällig wie der Explorer. Ich bin sicher, du würdest ihn ganz peppig finden.«

»Peppig? Das ist fast genauso schlimm wie ›süß‹.«

»Es wäre das perfekte Auto für eine …«

»Fußballmutti aus einem Vorort.«

Ein leises Hochziehen der Augenbrauen.

»Vergiss es. Es ist bloß …« Ich machte eine Handbewegung in Richtung des Mercedes. »Nicht ich. Nicht jetzt. Niemals. Ich werde was anderes finden. Aber nicht …« Ich sah zu dem Mercedes und schüttelte mich. »Das da.«

Er schüttelte den Kopf und verschwand durch die Tür.

 

Ich ging an der Nordseite des Gebäudes entlang, bis ich sehen konnte, was dahinter lag. Ein Pfad führte zum Lastwagenparkplatz hinüber. Das Surren der riesigen Klimaanlage und das ferne Rumpeln der Lastwagenmotoren übertönten das Dröhnen des Highway weiter nördlich. Rechts von mir sah ich ein weißes Lagergebäude. Dahinter lag ein Sumpf.

Ich glaubte zunächst, es sei der Sumpf, den ich roch – etwas Muffiges, Überreifes. Aber der Geruch wurde vom Südwind herangetragen, auf den Sumpf zu und nicht von ihm fort. Und es waren noch andere Nuancen dabei, die alle menschlich waren, der Geruch eines ungewaschenen Körpers und ungewaschener Kleidung, männlich, scheinbar gesund, aber alles überlagert von diesem schwachen Geruch nach Überreife. Nach … Verwesung.

Es war der gleiche Geruch, den ich gestern bei dem Mann mit dem Bowler aufgefangen hatte. Nicht Krankheit, sondern Verwesung, so schwach, dass ich eine ganze Nase voll davon einatmen musste, um mir sicher sein zu können. Mir wurde klar, dass es genau das gewesen war, was ich auch nach dem Frühstück auf dem Rückweg zum Auto gerochen hatte.

Ich tat es ab. Niemand – und nichts – konnte unsere Spur so verfolgt haben. Wir waren hundertfünfundachtzig Meilen von Cabbagetown entfernt. Selbst ich hätte die Spur in dem Moment verloren, als wir gestern Abend weggefahren waren. Wenn der Mann aus dem Ort stammte, den ich vermutete – dem London des neunzehnten Jahrhunderts –, na ja, sagen wir einfach, er hätte sich nicht gut in ein Auto setzen und uns verfolgen können.

Somit war es unmöglich. Selbst als ich eine Gestalt entdeckte, die südwestlich von mir über den Parkplatz huschte, und wieder etwas von dem Geruch auffing, wusste ich noch, dass er es nicht sein konnte. Aber wenn man sich allzu sehr auf seinen Verstand verlässt, kann man sich auch zum Narren machen, richtig?

Jeremy hatte gesagt, ich sollte auf ihn oder auf Clay warten, und ich hatte nicht vorgehabt, etwas anderes zu tun. Aber nach fünfzehn Jahren, in denen ich ohne eine Spur von Angst über verlassene Parkplätze hatte gehen können, war ich einfach nicht mehr daran gewöhnt, einen Begleiter zu brauchen.

Jemand folgte mir, möglicherweise in der Hoffnung, mich allein zu erwischen, wenn ich mich weit genug vom Tankstellengebäude und meinen männlichen Begleitern entfernte. Ich sollte wirklich auf Clay oder Jeremy warten.

Andererseits – sobald sie auftauchten, würde mein Verfolger verschwinden. Also ging ich langsam weiter und versuchte Clays Gegenwart in der Nähe zu spüren, ohne Erfolg. Ich blieb stehen, um mir den Schuh zuzubinden und dabei die Umgebung in Augenschein zu nehmen.

Sumpf zu meiner Rechten. Ein guter Ort, um den Verfolger zu verwirren, aber der Gestank und das Wasser würden es schwierig machen, einer Fährte zu folgen. Die Wiese vor mir war zu offen. Auf der anderen Seite lag ein Waldstück, das mich geradezu anzubetteln schien: »Nimm mich, nimm mich.« Meine idealen Jagdgründe. Aber es war zu weit entfernt, und wenn ich über die offene Wiese lief, riskierte ich, ihn zu verlieren. Der Parkplatz bot viele Verstecke, und dort war er gerade. Aber der Lärm, der Dieselgestank und die Tatsache, dass es hier Zeugen gab, würden die Sache komplizieren. Meine beste Möglichkeit war auch die nächstgelegene – der zehn Meter breite Lagercontainer rechts von mir.