Folklore

Hecate’s Haven war eine winzige Buchhandlung in der Yonge Street, eingekeilt zwischen einem Süßwarenladen und einem koreanischen Schnellrestaurant. Als wir eintrafen, war eine rundliche Frau mit einem langen silbergrauen Zopf gerade dabei, das OPEN-Schild umzudrehen, woraufhin dort CLOSED stand.

Sie sah zu uns hinaus; die verblassten blauen Augen glitten mit einem fragenden Ausdruck über unsere Gesichter, als sähen wir nicht aus wie ihre übliche Kundschaft. Dann fiel ihr Blick auf meinen Bauch, und ihre Lippen öffneten sich zu einem stummen »Ah«. Sie öffnete uns die Tür.

»Lasst mich raten«, sagte sie. »Ihr sucht etwas, das euch vor dem verdorbenen Wasser schützt.«

Bevor ich antworten konnte, beugte sie sich vor, legte mir die Hand auf den Arm und fuhr fort: »In Zeiten der Prüfung haben viele Menschen das Bedürfnis, Zuflucht im Mystischen zu suchen. Aber um ehrlich zu sein, Liebes, es gibt keinen Zauber, der dich so gut schützt wie gesunder Menschenverstand. Halt dich an das, was sie in den Nachrichten raten, und meide Leitungswasser; das wird nützlicher sein als jedes Amulett und jede Formel.«

»Anita Barrington?«, fragte Jeremy.

Sie sah zu ihm auf. »Ja?«

»Sie sind uns von Robert Vasic empfohlen worden.«

Eine Falte erschien zwischen ihren Augenbrauen; dann stieß sie ein kleines Lachen aus. »Ah. Na, das ist etwas anderes, oder? Kommt rein, kommt rein.«

Sie winkte uns in das Geschäft hinein und schloss die Ladentür ab; dann zog sie einen Perlenvorhang vor das Schaufenster.

»Ihr müsst mich für eine tatterige alte Dame halten, wenn ich schon so anfange, aber ihr könnt euch nicht vorstellen, was für einen Tag ich hinter mir habe.«

Sie winkte mich zu einem Hocker neben einem mit antiquarischen Büchern beladenen Tresen hinüber.

»Ist der zu hoch?«

Ich sprang hinauf.

»Fantastisch«, sagte sie. »Und da drüben ist noch einer, um den die Herren sich prügeln dürfen.«

Sie schob sich hinter den Tresen. »Was für ein Tag. Andererseits, wenn man eine Buchhandlung betreibt, die das Wort ›Hecate‹ im Namen trägt, braucht man sich nicht zu wundern, wenn die Leute nach Amuletten und Schutzsprüchen und anderem New-Age-Unfug fragen.«

Sie kletterte auf einen weiteren Hocker hinter ihrem Tresen, während sie weiterredete. »Aber heute hat das Telefon gar nicht mehr aufgehört zu klingeln. Und die Glocke an der Tür auch nicht. Wir halten uns für eine aufgeklärte Gesellschaft, aber woran klammern wir uns, wenn unsere grundlegenden Ängste geweckt werden? Magie und Aberglaube.«

Sie zog die Folie von einem Teller mit Keksen und schob ihn mir hin.

»Iss auf«, sagte sie mit einem Zwinkern. »Solange du noch eine Entschuldigung dafür hast.«

Ich nahm zwei.

Sie fuhr fort: »Wenn Robert Vasic euch hierhergeschickt hat, dann weiß ich, dass es nicht um Amulette gegen verseuchtes Wasser geht. Während sich die Menschen um paranormale Gegenmittel reißen, mieten die Paranormalen Ferienhäuser und legen Mineralwasservorräte an. Was kann ich also für euch tun?«

Ich begann damit, dass ich sie nach paranormalen Geschichten über Jack the Ripper fragte.

»Ah, unsere Folklore«, sagte sie, während ihre Augen aufleuchteten. »Mein Spezialgebiet. Ich liebe Geschichten – sie erzählen uns so viel über uns und unsere Welt, und gerade unsere Welt hat ein paar der faszinierendsten Geschichten, die es gibt. Allerdings fürchte ich, in diesem Fall werdet ihr enttäuscht sein. Was die Einbildungskraft von Menschen beflügelt, beflügelt nicht notwendigerweise auch unsere.«

»Weil wir viel Schlimmeres gesehen haben als Jack the Ripper?«

»Genau das. Wenn ihr nach von Menschen geschaffenen Überlieferungen und Geschichten sucht, denen zufolge Jack the Ripper ein Paranormaler war, dann werdet ihr geradezu von Anekdoten überflutet werden. Es gibt da eine wunderbare Geschichte von Robert Bloch …« Sie lachte. »Aber deshalb seid ihr nicht hier, oder? Bleiben wir bei der Folklore. Also …«

»Nana?«

Wir drehten uns um und sahen ein Mädchen mit einem hellbraunen Pferdeschwanz durch den Perlenvorhang spähen, der in die hinteren Räume führte. Sie war etwa zwölf.

»Erin«, sagte Anita. »Meine Enkelin.« Sie lächelte dem Mädchen zu. »Fertig mit den Hausaufgaben, und jetzt findest du, dass das hier interessanter klingt? Komm, nimm dir einen Keks.«

Das Mädchen nahm sich einen, und dann teilte Anita ihr im Flüsterton mit, dass sie aus dem Nebenraum zuhören durfte, wenn sie uns nicht unterbrach.

Von den vier Geschichten, die Anita uns erzählte, wurde in zweien die Annahme vertreten, Jack the Ripper sei ein Magier gewesen und die ermordeten Frauen Opfer seiner Rituale. Die offensichtlichste Interpretation mit anderen Worten, aber, wie Anita sagte, sehr unwahrscheinlich. Brutalität war bei einem Opfer nicht notwendig, und selbst wenn ein Magier es so mochte, würde er den Mord und das Ritual kaum an einem öffentlichen Ort durchführen.

Die dritte Geschichte besagte, dass die Morde von einem Werwolf im Zuge eines Streits um Territorium verübt worden seien. Der Werwolf habe versucht, einen anderen aus London zu vertreiben, und gehofft, die Morde würden dies bewirken. Keine üble Theorie – solange man sie sich nicht zu genau ansah. Wenn man ein Werwolf ist und versucht, einem anderen Werwolf mit der Enttarnung zu drohen, warum sollte man seine Morde dann nicht eindeutig werwolfartig gestalten? Warum sich nicht wandeln und die Sache wirklich stilgemäß erledigen? Wer diese Geschichte auch immer in Umlauf gebracht hatte, ihm war wohl wenig über Werwölfe bekannt, außer ihrem Ruf, die Schläger der paranormalen Welt zu sein – gewalttätig, aber nicht allzu intelligent. Typisch.

Die letzte Geschichte war offenbar auch die populärste; es gab viele verschiedene Versionen, die teilweise schon aus der Zeit des Rippers selbst stammten. Dieser Geschichte zufolge war Jack ein Halbdämon gewesen, der Kontakt zu seinem Vater aufgenommen hatte. Was so einfach nicht ist, wenn Dad in einer Höllendimension lebt, aber ich nehme an, ein entschlossener Sohn kann Mittel und Wege finden.

Die Legende besagte, dass der Halbdämon einen Pakt mit seinem Vater geschlossen habe, ihm im Austausch gegen ein Geschenk Opfer zu bringen. Worin die Gabe bestanden hatte, darüber gingen die Meinungen auseinander – Unverwundbarkeit, Unsterblichkeit, unermesslicher Reichtum, es kam so ziemlich jeder der einschlägig bekannten Wünsche vor. Der dämonische Aspekt, so die Geschichte, erkläre die Brutalität der Morde und warum Jack mit den Medien korrespondiert hatte, statt seine Verbrechen im Geheimen zu begehen. Dämonen nähren sich vom Chaos. Bei einem Dämonenopfer geht es nicht so sehr um das Blutvergießen, sondern um das durch den Tod verursachte Chaos. Das wäre dementsprechend das Opfer gewesen, das Jack seinem Vater gebracht hatte – weniger die fünf Leben selbst als die Furcht und Panik, die die Morde ausgelöst hatten.

»Die Geschichte ergibt den meisten Sinn«, sagte Anita. »Obwohl sie mit großer Wahrscheinlichkeit natürlich auch nur eine Geschichte ist.«

»Und nicht … wirklich das, wonach wir suchen«, sagte ich.

»Na ja, wenn du mir vielleicht den Zusammenhang erklären könntest …«

Ich sah zu Jeremy hinüber. Er nickte, und ich erzählte ihr, was passiert war.

Einen Moment lang saß Anita einfach nur da und starrte mich an.

»Jack the Rippers From-Hell-Brief?«, fragte sie schließlich. »Als Auslöser für ein Dimensionsportal?«

»Ich weiß, es hört sich absolut absurd an …«

»Nein, es ist vollkommen einleuchtend.«

Sie rutschte von ihrem Hocker, kam hinter der Theke hervor und begann kopfschüttelnd zwischen den Regalwänden auf und ab zu gehen.

»Mrs. Barrington …«, begann Jeremy.

»Anita, bitte. Es tut mir leid. Ich bin einfach … aufgebracht. Ich habe gewusst, dass es eine paranormale Geschichte in Verbindung mit diesem Brief gibt. Warum hätte Shanahan ihn sonst stehlen lassen? Ich bin noch nicht sehr lang in Toronto. Ich bin vor fünf Jahren hierhergezogen, als meine Tochter gestorben ist und ihr Mann jemanden gebraucht hat, der ihm mit Erin hilft. Aber mein Ruf als Volkskundlerin ist untadelig. Als ich dann erfahren habe, dass der berüchtigte From-Hell-Brief hier ist – in der Sammlung eines Mannes, der dafür bekannt ist, dass er paranormale Kuriositäten sammelt –, habe ich mich also bei Mr. Shanahan vorgestellt und ihn gebeten, den Brief sehen zu dürfen und die dazugehörige Geschichte zu hören. Er …«

Rote Flecken erschienen auf ihren Wangen, und sie warf einen Blick zu dem Nebenraum hin, als sei ihr eingefallen, dass ihre Enkelin zuhörte.

»Er war … nicht gerade entgegenkommend.« Wieder eine Runde durch den Raum, zum gegenüberliegenden Regal und zurück. »Es ist so frustrierend. Ich weiß nicht, welcher Spezies ihr jungen Leute angehört, und ich werde auch nicht fragen, aber ich hoffe, ihr habt nicht mit dieser Sorte Vorurteilen zu kämpfen. Sie können das Leben manchmal wirklich ziemlich unerträglich machen. Magier und Hexen …« Ein heftiges Kopfschütteln. »Eine lächerliche Fehde aufgrund von Ereignissen, die inzwischen so weit zurückliegen, dass …« Ein weiteres, noch heftigeres Kopfschütteln. »Es tut mir leid. Ihr seid nicht hergekommen, um mich jammern zu hören. Aber, ja, ich habe absolut keinen Zweifel daran, dass es einen paranormalen Hintergrund zu diesem From-Hell-Brief gibt und dass Patrick Shanahan sehr gut darüber Bescheid weiß.«

»Wenn das so ist, holen wir die Geschichte aus ihm raus, und dann erzählen wir sie dir.«

Sie lächelte und nickte. »Danke, Liebes.« Sie drehte sich langsam zu mir um. »Ich nehme nicht an … ich sollte das nicht fragen, aber … na ja, in meinem Alter habe ich gelernt, die Gelegenheiten zu nutzen, wenn sie sich bieten. Gibt es eine Möglichkeit, dass ich mir den Brief ansehen könnte? Immer vorausgesetzt, ihr habt ihn noch?«

»Wir haben ihn«, sagte Jeremy. »Und wenn die Sache erledigt ist, werden wir ihn dir gern zeigen. Bis dahin – dürfen wir uns bei dir melden, wenn wir Fragen haben?«

»Aber natürlich. Und nachdem ich jetzt die paranormale Verbindung kenne – ein Portal und dimensionale Zombies –, finde ich vielleicht auch noch ein paar zusätzliche Informationen für euch.«

 

Das erste Restaurant, an dem wir vorbeikamen, hatte ein Schild in der Tür hängen, demzufolge der Laden wegen des Auftretens von E. coli im Trinkwasser der Stadt geschlossen war.

»E. coli?«, sagte ich. »Sie wissen also, was es ist? Oder ist das einfach geraten? Vielleicht sollte ich meine Bekannten bei der Presse anrufen und …«

»Was fragen? Rauskriegen, dass die Situation übler ist, als wir gedacht haben? Damit du noch was hast, worüber du dir Sorgen machen kannst? Davon schließt sich das Portal auch nicht schneller.«

»Clay hat recht«, sagte Jeremy. »Wir müssen die Scheuklappen aufbehalten und nach vorn schauen, so verlockend es auch sein mag, in andere Richtungen zu sehen.«

 

Wir besorgten Sandwiches und nahmen sie mit in einen Park im Stadtzentrum, wo wir sicher sein konnten, dass wir ungestört waren. Und abgesehen von ein paar Leuten, die auf dem Weg in ihre Büros spät dran waren und die Abkürzung durch den Park nahmen, waren wir auch ungestört – bis sich plötzlich der Wind drehte und einen mittlerweile vertrauten Gestank zu uns herübertrug.

»Himmeldonnerwetter«, murmelte Clay.

»Dann hatte Rose wohl recht«, sagte ich. »Die können uns wirklich finden. Spart uns die Mühe, nach diesem hier suchen zu müssen.« Ich sog den Geruch ein und musste beinahe würgen. »Ich kann unter dem Gestank kaum einen Eigengeruch ausmachen, aber ich glaube, er ist männlich.«

»Ist er«, sagte Clay.

Er stieß mein Bein sachte nach links. Unter dem Vorwand, eine Serviette aus der Tüte zu nehmen, sah ich in diese Richtung und entdeckte eine hinter einer Metallskulptur fast gänzlich verborgene Gestalt.

»Sollen wir versuchen, einen geeigneten Durchgang zu finden?«, murmelte Jeremy hinter seinem Sandwich.

»Ich weiß etwas Besseres.« Ich wischte mir den nicht wirklich vorhandenen Schweiß von der Stirn und hob die Stimme. »Herrgott, ich muss aus dieser Hitze raus. Können wir anderswo essen? Irgendwo, wo es eine Klimaanlage und Tische gibt?«

Clay nickte, und wir suchten unser Zeug zusammen. Ich führte die beiden zur nächsten Straßenecke und über die Straße auf einen hoch aufragenden Büroturm zu. Wir gingen hinein. Ich lächelte dem Wachmann zu und zeigte auf eine dreißig Meter entfernte Rolltreppe nach unten. Er nickte und wandte sich wieder seinem Buch zu.

Clay blieb stehen, als ihm aufging, wohin ich uns führen wollte. »Ist das …?«

»Das Tor zur Hölle. Sorry.« Ich griff nach seinem Arm und ging weiter; dann sah ich zu Jeremy hinüber. »Das hier ist ein Teil von PATH, dem unterirdischen Fußwegesystem von Toronto. Clay hat letzten Winter mal eine schlechte Erfahrung damit gemacht.«

»Traumatisch«, murmelte Clay. »Hab mich immer noch nicht ganz davon erholt.«

»Clay hatte gleich am Vormittag ein Fakultätstreffen anstehen, und ich musste ihm ein neues Hemd kaufen«, erklärte ich Jeremy. »Er hatte wieder eins zerrissen.«

»Ich hatte …?«

»Also hab ich gesagt, wir würden uns beim Second-Cup-Café in der Nähe von dem Klamottenladen treffen. Bloß dass er nicht durch den Eingang dort reingekommen ist.«

»Wahrscheinlich weil es da draußen kalt genug war, um sich den Arsch …«

»Es war kalt«, fuhr ich fort, während wir die Rolltreppe betraten. »Also hat er den nächsten Eingang genommen, den er gefunden hat, ohne zu wissen, dass diese Unterführungen insgesamt über sechs Meilen lang sind. Beim ersten Second Cup, das er gesehen hat, hat er sich gedacht, das müsste es sein, und sich hingesetzt, um zu warten. Als ich nicht aufgetaucht bin, ist er auf den Gedanken gekommen, dass es da unten vielleicht noch ein zweites geben könnte.«

»Oder zwanzig«, knurrte Clay.

»Sei froh, dass ich nicht Starbucks gesagt habe. Worauf es rausläuft – wenn man sich nicht auskennt, sieht hier unten alles gleich aus. Die logische Vorgehensweise wäre natürlich, jemanden anzuhalten und nach dem Weg zu fragen.«

Clay schnaubte.

»Was als Nächstes passiert ist, war also ganz allein seine Schuld.«

»Will ich’s wissen?«, fragte Jeremy, als wir die Rolltreppe verließen.

»Mittagspause. Für Tausende von Büroangestellten. Während draußen Temperaturen weit unter null geherrscht haben.«

»In einem Moment bin ich einfach rumgelaufen, kaum ein Mensch unterwegs, und im nächsten Moment …« Clay schauderte.

»Traumatisch, ich weiß«, sagte ich, während ich ihm auf den Rücken klopfte. »Aber« – ich schwenkte den Arm – »jetzt ist ja alles anders.«

Wir standen am Ende einer Passage, die sich etwa hundert Meter weit vor uns erstreckte, gesäumt von Coffeeshops, Buchhandlungen, Drogerien und allem anderen, das der Büromensch zwischen neun und fünf Uhr unter Umständen brauchen konnte. Aber es war Sommer, und kein Mensch arbeitete länger als unbedingt nötig. Die Läden waren seit Stunden geschlossen. Das Tunnelsystem war nur als Zugeständnis an die Fußgänger noch offen.

»Nicht schlecht«, sagte Clay, während er sich umsah.

»Wenn unser Zombiefreund etwas unternehmen will, hat er hier jede Menge Gelegenheiten. Wir müssen nur auf Wachmänner und Überwachungskameras achten. Einen Block weiter ist ein noch ruhigerer Abschnitt. Gehen wir dahin.«

Wir waren noch keine drei Schaufenster weit gekommen, als wir hinter uns zögernde Schritte hörten. Köder geschluckt.

 

Wir sorgten dafür, dass wir um reichlich Ecken bogen und lange gerade Abschnitte mieden, damit unser Verfolger dicht hinter uns bleiben konnte, ohne gesehen zu werden, uns von jeder Ecke aus beobachten konnte, bis wir hinter der nächsten verschwanden. Im Gehen zählte ich die Gelegenheiten zum Angriff, die wir ihm lieferten. Als ich bei fünf angekommen war, blieb ich vor einem Geschäft stehen und zeigte auf die ausgestellten Sommerkleider für Kleinkinder.

»Worauf wartet er?«, flüsterte ich.

»Auf das Gleiche, auf das sein bowlertragender Kollege gewartet hat«, sagte Jeremy. »Dass das Weibchen sich vom Rest der Herde trennt.«

Er hatte recht. Im Gegensatz zu den hirntoten, hirnmampfenden Hollywood-Zombies waren diese Typen nicht dumm.

Bevor ich den Mund aufmachen konnte, sagte Clay: »Nein.«

»Ich …«

»Erinnerst du dich an die Abmachung? Direkt neben mir. Immer.«

»Ich schlage ja nicht vor, ihn wegzulocken und irgendwo anders zu erledigen. Bloß das mit dem Weglocken.«

»Elena hat recht«, sagte Jeremy. »Wir werden ganz in der Nähe sein. Es ist nicht weiter gefährlich.«

»Gut«, sagte ich. »Dann werde ich jetzt aufs Klo gehen.« Ich hob die Stimme. »Um die nächste Ecke ist ein Imbiss mit Tischen. Ihr könnt euch hinsetzen und essen, ich suche inzwischen eine Damentoilette.«

 

Als wir die Tische erreicht hatten, stellte ich meine Sandwichtüte auf einem davon ab und sah mich um.

»Oh, da drüben ist sie ja«, sagte ich laut. »Wir sind genau dran vorbeigelaufen.«

Ich trank noch einen Schluck Schokoladenmilch, um dem Zombie Gelegenheit zum Verstecken zu geben.

Die Toiletten lagen am Ende eines Nebengangs. Im Gehen horchte ich auf die fernen Schritte, die mir folgten, bereit, mich umzudrehen, wenn sie mir zu nahe kommen sollten, bevor Clay auftauchte.

Ich erreichte das Ende des Gangs, nur um feststellen zu müssen, dass er im rechten Winkel abbog. Immerhin würde dies Clay Gelegenheit geben, den Zombie außer Sichtweite jedes Menschen anzugreifen, der etwa die Passage entlangging.

As ich um die Ecke bog, sah ich mich nach Überwachungskameras um. Keine da. Gut. Die Schritte hinter mir wurden schneller … und dann hörte ich, wie Clays Schritte sich ihnen anschlossen. Ich lächelte. Kinderleicht …

Ein Schatten sprang aus einer Türnische hervor. Ich fuhr herum, aber zu langsam, und ein Körper prallte gegen meine Schulter und schleuderte mich gegen die gegenüberliegende Wand. Ich trat zu. Als mein Fuß hochfuhr, hätte ich mich ohrfeigen können. Auch dieses Mal kostete die plötzliche Bewegung mich das Gleichgewicht. Als ich stolperte, warf sich die Gestalt auf mich, die Hände nach meiner Kehle ausgestreckt. Ich holte aus und erwischte den Angreifer am Kinn, und er torkelte mit einem Schrei zurück – einem sehr unmännlich klingenden Schrei.

Ich stürzte mich auf die fallende Gestalt. Ein Gesicht wandte sich mir zu – das Gesicht einer Frau, rot und narbig. Rose.

»Dachtest dir wohl, du wärst fertig mit Rose, ja?«, gackerte sie.

Meine Überraschung brachte mich aus dem Tritt. Sie ging auf mich los, die Finger zu Klauen gekrümmt; sie zielte auf die Augen. Ein Aufwärtshaken brachte sie zum Stehen, bevor ihre Finger näher als einen halben Meter an mein Gesicht herangekommen waren, und als sie nach hinten fiel, packte ich sie an der Kehle und schleuderte sie gegen die Wand. Ihr Gesicht verzerrte sich und wurde dann schlaff, und als ich losließ, glitt ihr Körper zu Boden und begann zu zerfallen.

»Leicht umzubringen«, murmelte ich. »Das Problem ist, es bleibt nicht dabei.«

Bei einem Geräusch von der Ecke her fuhr ich herum, die Hände erhoben. Clay kam herangestürmt.

»Ich hab gehört …«

»Hab sie erwischt«, sagte ich. »Wieder mal. Es war Rose. Ich hätte schwören können, es war ein Mann.«

»War’s auch.« Er packte mich am Arm und zerrte mich zurück in Richtung Ladenpassage. »Derselbe Typ, den ich an dieser Raststätte umgebracht habe.«

»Und hast du ihn …«

»Ich wollte es zumindest«, sagte er; er hatte sich in Trab gesetzt und zog mich mit sich. »Dann hab ich dich gehört, und meiner ist abgehauen. Jeremy ist hinter ihm her.«

»Gehen wir«, sagte ich, und wir rannten los.

 

Der Bowlermann hatte den ersten Ausgang genommen, den er gesehen hatte. Wir erreichten das obere Ende der Rolltreppe, als Jeremy gerade den Fuß auf die abwärts führende Gegentreppe setzte; er trat zurück und führte uns ins Freie, bevor er etwas sagte.

»Er ist über die Straße gelaufen, und ich habe die Fährte verloren«, sagte er. »Alles in Ordnung mit euch beiden?«

»Einfach nur eine weitere Begegnung mit einer nicht sehr süß duftenden Rose«, sagte ich.

Jeremy verspannte sich sichtlich. »Rose?«

»Der Zombie, den wir …«

»Ja, ich weiß. Du hast sie nicht … Hast du sie berührt?«

»Natürlich«, sagte ich. »Musste ich ja. Sie hat mich angegriffen. Aber wenn du dir Sorgen wegen der Syphilis machst, ich schwöre dir, Sex hatte ich nicht mit ihr.«

Jeremy lächelte nicht. »Hast du ihre Lippen berührt oder die wunden Stellen rings um den Mund?«

»Ich glaube nicht, aber –«

Seine Finger schlossen sich um meinen Ellenbogen. »Auf der anderen Straßenseite ist ein Café. Du musst dort auf die Toilette gehen und dir die Arme und Hände abschrubben.«

Er wartete nicht einmal, bis die Ampel umsprang; er führte mich einfach zwischen den Autos hindurch.

»Jer?«, sagte Clay, während er hinter uns hergetrabt kam. »Ich dachte, du hast gesagt, Syphilis wäre ohne weiteres zu behandeln.«

»Ist sie auch. Aber sie ist besonders gefährlich für schwangere Frauen.«

Er fing meinen Blick auf und wurde langsamer; der Griff um meinen Arm lockerte sich. »Alles in Ordnung.« Ein kleines Lächeln. »Leichte Überreaktion, wie üblich. Gefährlich wäre es nur, wenn du mit diesen offenen Stellen in Kontakt gekommen wärst und die Bakterien irgendwie aufgenommen hättest, über den Mund oder über kleine Verletzungen. Ein gründliches Händewaschen müsste genügen. Ich hätte schon gestern Abend etwas sagen sollen, aber …«

»Rose war da schon tot – dachten wir jedenfalls. Was ist da also …«

»Geh dir erst die Hände waschen«, sagte er, als er vor dem Café zum Stehen kam. »Dann können wir drüber reden.«

 

Ich schrubbte mir Hände und Arme, bis die Haut rot war; dann wusch ich mir Gesicht und Hals, jeden Flecken sichtbarer Haut, auch an Stellen, von denen ich genau wusste, dass Rose sie nicht berührt hatte.

Danach kehrten wir zu der Rolltreppe zurück, die in das PATH-System hinunterführte, und ich nahm die Fährte des Bowlermannes dort auf, verlor sie auf der Straße aber wieder. In dem Smog und den Auspuffgasen und den Ausdünstungen Tausender Leute, die jeden Tag hier vorbeikamen, war sie ganz einfach verschwunden.

Ich sah zu dem stetig vorbeiströmenden Verkehr hinüber. »Wenn wir noch ein paar Stunden warten und ich mich dann wandle, müsste es gehen.«

Jeremy schüttelte den Kopf. »Es ist das Risiko nicht wert. Sie umzubringen scheint nicht zu helfen.«

»Entweder haben wir also eine Armee von Zombieklonen, oder die Untoten bleiben nicht tot. Wisst ihr noch, wie Robert gestern über den Unterschied zwischen kontrollierten Zombies geredet hat, die von einem Nekromanten beschworen wurden, und denen, die aus dem Portal eines Magiers stammen? Er hat gesagt, beide Typen sind schwierig umzubringen. Die von einem Nekromanten sterben einfach nicht, und die aus dem Dimensionsportal …« Ich runzelte die Stirn. »Hat er gesagt, was mit denen los ist?«

»Nein«, sagte Jeremy. »Weil das eigentlich nicht relevant sein sollte. Dieses Portal wurde vor über hundert Jahren geschaffen, was bedeutet, sein Meister müsste tot sein.«

»Müsste«, murmelte Clay. »Aber irgendeinen Pferdefuß gibt es doch immer.«

Jeremy nickte. »Es wird also Zeit, sich noch mal mit Jaime und Robert zu unterhalten. Und sehen wir mal, ob wir heute Abend noch Kontakt zu dieser Vampirdiebin aufnehmen können. Ich gehe zurück ins Hotel und erledige die Anrufe, und ihr beide versucht, Zoe Takano aufzuspüren.«

Clay öffnete den Mund, aber Jeremy schnitt ihm das Wort ab. »Ja, ich weiß schon, dass dir die Idee nicht gefällt, aber so können wir unsere beschränkten Ressourcen am besten einsetzen. Selbst wenn dieser Zombie wirklich zurückkommen und mich finden sollte, in der Annahme, dass auch ich weiß, wo der Brief ist – bisher waren sie ja nicht gerade schwer umzubringen.«

»Rose hatte nicht mal eine Waffe«, sagte ich. »Und wenn meine Nase mich nicht im Stich lässt, kommen sie jedes Mal in etwas üblerem Zustand zurück als vorher.«

Clay zögerte.

»Du kannst mit mir zum Hotel gehen und mich einschließen, wenn du dich dann besser fühlst«, sagte Jeremy. »Ab morgen werden wir dieses Problem nicht mehr haben. Ich rufe Antonio an und sage ihm, er soll mit Nick herkommen. Er hat mir immer noch nicht verziehen, dass ich sie nicht aus Europa zurückgeholt habe, als damals Elena entführt worden ist. Dieses Mal habe ich keine Entschuldigung, sie nicht dazuzuholen.«

Clay nickte, und wir begleiteten Jeremy zurück zum Hotel.