Entscheidung

Als wir am nächsten Morgen aufwachten, war es nicht Morgen, sondern früher Nachmittag. Das kommt davon, wenn man zwei Nächte hintereinander fast bis zur Morgendämmerung aufbleibt. Während ich noch gähnte, mich streckte und versuchte aufzuwachen, zog Clay sich an, ging hinunter und besorgte Frühstück. Jeremy war nicht in seinem Zimmer, hatte aber einen Zettel hinterlassen, damit Clay sich keine Sorgen machte. Jawohl, siebenundfünfzig Jahre alt, und er konnte immer noch nicht zur Tür hinausgehen, ohne jemandem Bescheid zu sagen, wo er sein würde. Das ist das Leben eines Rudelalpha.

Wir aßen und redeten, während wir zusammenpackten. Duschen und Rasieren konnte bis Stonehaven warten.

»Es wird schön sein, wieder im eigenen Bett zu liegen«, sagte ich, während ich den Rücken streckte. »Und apropos, ich möchte mit dem Kinderzimmer anfangen. Sollen wir mein Zimmer nehmen? Ich schlafe sowieso nie dort.«

Clay schüttelte den Kopf und schob sich ein halbes Croissant in den Mund; er redete im Kauen weiter. »Behalt’s. Das ist dein Zimmer. Du brauchst es.«

Vor fünf Jahren wären diese Worte niemals aus seinem Mund gekommen. Zum Teufel, er hätte vorgeschlagen, aus meinem Zimmer das Kinderzimmer zu machen, sobald wir auch nur beschlossen hatten, es mit einem Baby zu versuchen.

Ich riss ein Stück von meinem Heidelbeermuffin ab und gab es ihm, dann machte ich mich ans Anziehen. »Dann nehmen wir das Gästezimmer. Das ist zwar am anderen Ende vom Gang, aber …«

»Jeremy hat vorgeschlagen, Malcolms Zimmer zu nehmen. Klingt vernünftig, direkt neben meinem, dichter an deinem als das Gästezimmer.«

Ich schnupperte prüfend an dem T-Shirt von gestern und zog es dann an. »Ist das Jeremy wirklich recht? Das Zimmer seines Vaters zu benutzen?«

»Ich glaube, er möchte es so.« Er kämmte sich die Locken mit den Fingern durch und überprüfte das Ergebnis mit einem flüchtigen Blick in den Spiegel. »Das Zimmer ist seit zwanzig Jahren abgeschlossen. Wird Zeit, dass es genutzt wird. Schließen wir’s auf, räumen Malcolms Zeug raus, vertreiben …« Er zuckte die Achseln.

»Vertreiben die Dämonen?«

Ein leichtes Klopfen an der Tür. Clay öffnete.

»Guten Morgen. Ich sehe schon, ihr …« Jeremy riss mir den Kaffeebecher aus der Hand. »Das Wasser ist nicht abgekocht, richtig?«

»Abgekocht?«

»Es gibt ein Problem mit dem Trinkwasser. Die städtische Wasserversorgung wahrscheinlich.« Er streckte mir eine Zeitung hin. »Erinnert ihr euch an diese Krankenschwestern gestern Abend? Die über diese Welle von Magen-Darm-Grippe geredet haben?«

Ich warf einen Blick auf die Schlagzeile und hatte plötzlich ein kaltes Gefühl in den Eingeweiden. »Verseuchtes Trinkwasser? Das kann doch gar nicht sein. Nach Walkerton haben sie Torontos Trinkwasserversorgung komplett überholt.«

Ich hatte damals mehrere Artikel über Walkerton geschrieben. Eine Kleinstadt in Ontario, deren Trinkwasser vor ein paar Jahren durch die Nachlässigkeit der zuständigen Stellen verseucht worden war. Es hatte sieben Tote und immer wieder gesundheitliche Probleme gegeben, und seither war die Trinkwasserqualität in der ganzen Provinz ein gefährliches Thema.

»Wenn sie der Sache nachgehen, werden sie feststellen, dass es abgepacktes Wasser war«, sagte ich. »Die meisten Leute in Toronto trinken das sowieso.«

»Vielleicht«, sagte Jeremy. »Aber bis auf weiteres …«

»Trinken wir kein Wasser, weder aus der Leitung noch aus der Flasche. Hab’s kapiert. Kommt nicht drauf an, wir fahren ja sowieso gleich.«

»Bald, aber jetzt noch nicht«, sagte Jeremy. »Die Frau, die in Cabbagetown verschwunden ist, wird immer noch vermisst.«

»Na und?«, fragte Clay. »Vielleicht war sie desorientiert, nachdem sie zurückgekommen ist, und hat sich verlaufen. Oder sie ist überhaupt nie in das Portal geraten.«

»Möglich, aber es wird jetzt in der gleichen Gegend ein weiterer Nachbar vermisst. Ein Mann Mitte dreißig, der wohl joggen gegangen ist, womit senilitätsbedingtes Herumirren ausgeschlossen sein dürfte.«

»Er ist heute Morgen verschwunden? Nachdem wir das Portal geschlossen haben?«

»Trotzdem, das …«, begann Clay.

»… muss nicht heißen, dass er in das Portal geraten ist«, unterbrach Jeremy. »Oder dass es nicht geschlossen ist. Stimmt. Aber wenn nicht durch puren Zufall in dem Viertel, in dem wir dieses Portal geöffnet haben, gleichzeitig ein Serienmörder herumstreicht, halte ich es für wahrscheinlicher, dass uns noch einer entgangen ist.«

»Ein Zombie, meinst du?«, sagte ich.

Er nickte. »Ich weiß, ihr wollt beide nach Hause gehen, und jetzt, nachdem wir wissen, dass Elena ihnen als Orientierung dient, ist das vielleicht die beste Lösung. Ich kann hierbleiben und mich heute etwas umsehen, und bis zum Abend kann Antonio hier sein und mir bei der Suche helfen.«

Clay schleuderte seinen halb gegessenen Apfel in Richtung Frühstückstablett. Er prallte vom Rand ab. Wir sahen zu, wie er über den Fußboden rollte.

»Bleib du hier«, sagte ich zu Clay. »Wenn wir Nick gleich jetzt anrufen, schafft er’s wahrscheinlich nach Stonehaven, bevor ich dort ankomme.«

Clay hob den Apfel auf und legte ihn wieder auf das Tablett; seine Kiefermuskeln waren angespannt.

»Oder ich könnte bleiben«, begann ich.

»Nein.«

»Ich wüsste nicht, warum nicht. Vielleicht habe ich ein Merkmal, weil mein Blut das Portal geöffnet hat, aber macht mich das wirklich zu einer Zielscheibe? Was können die schon von mir wollen? Wahrscheinlich einfach, dass ich ihnen sage, wo der Brief ist, oder?«

Jeremy nickte. »Das ist Roberts Theorie. Ich habe ihn heute Vormittag angerufen. Er glaubt, die Zombies müssen den Brief zurückholen – oder glauben jedenfalls, dass sie es müssen –, und weil dein Blut das Portal geöffnet hat, gehen sie davon aus, dass du ihn hast. Was dieses ›Merkmal‹ angeht, so war er überrascht, dass sie dir mit seiner Hilfe bis in den Staat New York folgen konnten, aber ganz offensichtlich konnten sie es ja.«

»Was, wenn wir den Brief loswerden?«, fragte Clay. »Ihn an Xavier schicken? Damit würde es zu seinem Problem.«

»Das Portal zu Xaviers Problem machen?«, sagte ich. »Ich bin sicher, er wird augenblicklich angestürzt kommen, um es in Ordnung zu bringen.«

Jeremy schüttelte den Kopf. »Wir haben das Problem verursacht, wir werden es auch beheben. Selbst wenn wir den Brief nicht mehr hätten, würde Elena wissen, wo er jetzt ist, also würden sie immer noch nach ihr suchen. Und wir sollten etwas, das wir möglicherweise brauchen werden, um dieses Ding zu schließen, lieber noch nicht weggeben.«

»Zurück zur ursprünglichen Frage«, sagte ich. »Soll ich bleiben oder gehen?«

Jeremy sah von Clay zu mir; dann murmelte er: »Ich gehe solang raus.«

»Ich will keinen Streit in dieser Sache«, sagte ich, sobald er verschwunden war. »Mir liegt bloß daran, dass wir den Schaden wiedergutmachen, was bedeutet, das Portal zu schließen. Es ist mir gleich, wer von uns das tut.«

»Wenn du in Gefahr bist, bleibe ich bei dir, hier oder in Stonehaven. Mein Bauchgefühl sagt Stonehaven – selbst wenn wir einen Zombie übersehen haben und er dir wirklich so weit folgen könnte, was ich bezweifle.« Er holte tief Atem und schüttelte den Kopf. »Aber das würde bedeuten, Jeremy hierzulassen, mit irgendeinem Zombie, der uns gefolgt sein könnte und weiß, dass Jeremy etwas mit dem Brief zu tun hat.«

Er verstummte ein paar Sekunden lang, und als er weitersprach, klang seine Stimme weich. »Ich versuche, nicht auszurasten, Elena. Als der Typ an dieser Raststätte hinter dir her war, weißt du, was ich da tun wollte?«

»Mich zurück nach Stonehaven zerren?«

»Yeah.« Ein kurzes humorloses Lachen. »Ganz große Überraschung, was?«

Sein Blick traf auf meinen. Hinter dem Ärger sah ich Frustration, Furcht und sogar eine Spur von Panik.

»Jeremy hatte recht«, sagte er. »Wir mussten zurückkommen und sicherstellen, dass das hier vorbei ist. Bloß dass es nicht vorbei ist, stimmt’s? Jetzt haben wir diese … Zombies …« Er zerrte die Hände aus den Taschen. »Was zum Teufel weiß ich schon über Zombies? Wie kann ich …« Er brach mit einem Fauchen ab.

»Mich schützen?«

»Yeah, ich weiß schon, du kannst auf dich aufpassen. Zu jedem anderen Zeitpunkt würde ich zustimmen.«

»Aber im Moment bin ich schwanger. Sehr schwanger. Plump, ungeschickt, langsam …«

Er hielt meinen Blick fest; seine Augen waren wachsam, aber entschlossen, als wüsste er, dass er sich auf gefährliches Terrain begab, weigerte sich aber zurückzuweichen.

»Und du hast recht«, sagte ich. »Ich bin aus dem Spiel. Ich weiß das. Ich weiß außerdem, dass ich jedes Risiko, das ich eingehe, nicht nur für mich selbst eingehe, sondern für unser Kind. Unser Kind. Wenn du glaubst, es ist sicherer für mich, wenn ich mit Antonio und Nick in Deckung gehe, dann gehe ich.«

»Aber das ist nicht das, was du willst, oder?«

»Du weißt genau, dass es das nicht ist. Ich will bei dir bleiben und euch den Rücken decken. Dir und Jeremy, denn ich glaube, ganz gleich, wer von uns dieses ›Merkmal‹ trägt, wir sind alle in der Schusslinie. Ich will das hier zu Ende bringen und dann in dem Wissen nach Hause fahren, dass alles in Ordnung ist … dass wir alle in Sicherheit sind.« Ich berührte mit den Fingerspitzen meinen Bauch. »Wir alle.«

Er nickte und sah fort; sein Blick ging ins Leere. Eine Sekunde später kam er zu mir zurück. »Ich möchte dich hier bei mir haben … mehr als ich möchte, dass du gehst. Aber es gibt da etwas, von dem ich will, dass du es tust.«

»Nämlich was?«

»Du bleibst bei mir. Genau da, wo ich bin. An meiner Seite. Immer. Keine Diskussionen über Freiräume und Privatsphäre. Ich muss bei dir sein, wissen, dass du in Sicherheit bist.«

»Das ist okay.« Ich brachte ein kleines Lächeln zustande. »Aber dieses Recht, allein aufs Klo zu gehen, das habe ich immer noch, oder?«

»Je nachdem, ob es da ein Fenster gibt, durch das jemand reinklettern könnte.«

»In Ordnung.«

»Und nur dann, wenn nur wir allein Zugang dazu haben.«

Ich lachte. »Du willst mit in öffentliche Damentoiletten kommen? Das will ich sehen.«

»Könnte durchaus passieren. Jetzt gehen wir Jeremy Bescheid sagen. Dann bringen wir das hier zu Ende und fahren nach Hause.«

 

Zurück nach Cabbagetown also. Vier Mal ums Viertel herum und zwei Mal die Straße mit dem Portal entlang, und alles, was ich an Verwesungsgeruch fand, waren die beiden bekannten Fährten – die von Rose und die des Bowlermannes.

Wir wussten, es gab noch eine weitere Möglichkeit, warum wir keine weitere Fährte fanden, nämlich dass es keine gab – dass wir gar keinen Zombie übersehen hatten. Unsere Portalschließtheorie war auf einen einzigen, zweihundert Jahre zurückliegenden Fall gegründet. Aber im Augenblick war das alles, was wir hatten.

Wenn wir etwas übersehen hatten, konnten wir uns nicht darauf verlassen, dass Robert es finden würde. Nachdem wir Shanahan verloren hatten, war unsere beste Informationsquelle die Person, die uns das Ganze eingebrockt hatte. Also tätigte ich den Anruf, vor dem mir graute.

Ich telefonierte von unserem Hotel aus. Clay stand neben mir.

»Elena!«, sagte Xavier. »Was zum Teufel ist passiert? Wo bleibt mein Päckchen?«

Ich erzählte es ihm. Schweigen kam summend über die Leitung. Dann: »Na, okay, das ist komisch, aber weißt du, so was passiert eben. Ich bin mir sicher, es hat mit dem Brief nichts zu tun, als schick ihn doch einfach. Oder noch besser, nachdem wir sowieso schon spät dran sind, schick ihn …«

»Direkt an den Kunden?«

»Äh, ja. Weißt du, einfach nur für den Fall …«

»Dass er wirklich einen Dämonenfluch enthält?«

»Hey, ich bin einfach gern vorsichtig. Schick den Brief, geh nach Hause und erhol dich.«

»Nachdem ich die Hölle auf Toronto losgelassen habe?«

»Nach dem, was ich so gesehen habe, könnte Toronto ein, zwei Höllenportale ganz gut brauchen. Außerdem, du wohnst da doch gar nicht mehr. Was geht’s dich an?«

Ich teilte ihm mit, was es mich anging.

»Äh … das ist nicht gut. Und der … dein Freund. Wie hat er das aufgenommen?«

»Die Tatsache, dass seine Gefährtin offenbar gezeichnet ist und auf einer Zombie-Abschussliste steht? Warum fragst du ihn nicht selbst?«

Ich nahm den Hörer vom Ohr. Als Clay die Hand danach ausstreckte, konnte ich Xaviers Stimme durch die Leitung hören.

»Nein, nein, schon okay! Sag ihm, ich habe keine Ahnung, was da los ist, aber wenn ich irgendwas tun kann, um zu helfen, sagt einfach Bescheid.«

»Wie wär’s damit, herzukommen und die Zombies selbst zu erledigen?«

»Das nicht. Aber bei allem anderen bin ich euer Mann. Oh, und mach dir keine Gedanken wegen dem Brief. Du kannst ihn erst mal behalten.«

»Zu gütig. Jetzt erzähl uns für den Anfang alles, was du über ihn weißt.«

Viel war das nicht. Der Käufer war ein Mensch ohne jede Verbindung zum Paranormalen, und er wollte den Brief zu genau dem Zweck, den Xavier mir schon genannt hatte: um eine DNA-Analyse machen zu lassen und dann einen Buch- oder Filmvertrag zu unterschreiben. Außerdem war es Xavier gewesen, der an ihn herangetreten war – Xavier hatte über seine Schwarzmarktkontakte erfahren, dass der Mann auf der Suche nach Ripper-Briefen war und gut zahlen würde.

»Ich könnte dich mit der ursprünglichen Diebin zusammenbringen, Zoe Takano«, sagte Xavier. »Vielleicht weiß sie mehr.«

»Die ihn vor achtzig Jahren gestohlen hat? Wo ist sie? Altersheim Abendfrieden für Paranormale? Sie muss doch mindestens hundert … halt, warte. Sie ist ein Vampir, stimmt’s? Irgendeine Idee, wo ich sie finden kann?«

»Gleich an Ort und Stelle. Geboren und aufgewachsen in Toronto. Die Shanahans sind Kunden von ihr – schon seit Jahrzehnten.«

Die Diebin kannte Patrick Shanahan? Dann wollten wir ganz entschieden mit ihr reden.

»Kennst du sie?«

»Zoe und ich verkehren nicht in denselben Kreisen. Aber ich kann dir sagen, wo du sie vielleicht finden kannst. Sie verwendet als Firmensitz seit Ewigkeiten die gleiche Bar. Gewohnheitstier – Vamps sind eben so.«

Er versprach mir, mich mit der Adresse und allen Details, die er zusammenkratzen konnte, zurückzurufen.

 

Zwei Minuten nachdem ich aufgelegt hatte, klingelte das Telefon wieder.

»Schnelle Arbeit, Dämon«, sagte ich, als ich abnahm. »Mach so weiter, und du schaffst es doch noch, bei mir wieder einen Stein ins Brett zu kriegen.«

Schweigen.

Ich warf einen Blick auf das Display. Ich hatte eine mir vage bekannte Nummer gesehen, bevor ich abnahm, und jetzt wurde mir klar, dass es nicht die Nummer war, die ich erwartet hatte.

»Äh, Robert«, sagte ich. »Entschuldige. Ich habe mit …«

Ein leises Lachen. »Einem anderen Dämon gerechnet?«

»Genau, und einem mit einer Kontaktperson und einer Adresse, und da bin ich wohl etwas übereifrig geworden.«

»Zweifellos. Falscher Dämon vielleicht, aber ich rufe aus dem gleichen Grund an. Wegen einer Kontaktperson.«

»Oh?«

»Ich habe selbst ein paar Anrufe erledigt, habe nach Legenden um Jack the Ripper und paranormale Querverbindungen gefragt, und jemand hat mich an Anita Barrington verwiesen. Sie ist eine Hexe, leitet eine Buchhandlung in Toronto und gilt als Expertin in solchen Dingen. Ich kenne sie nur dem Ruf nach, aber ich dachte mir, wenn ihr auf diese Art meine eigenen Recherchen abkürzen könnt …«

»Dann machen wir’s.«