Magie

Siehst du?«, sagte ich, als Jeremy unser Hotelzimmer verließ. »Diagnose – einfach bloß müde.«

»Erschöpft«, sagte Clay, während er mir eine Flasche Wasser hinreichte. »Und dehydriert.«

Ich nahm das Wasser und verzog das Gesicht. »Oh, das ist einfach Jeremy.«

»Aber mit heute Abend hat er recht. Du musst dich ausruhen, nicht in ein paar Minuten wieder losrennen.«

»Hast du gemerkt, wie er diesen ›Vorschlag‹ hat einfließen lassen und dann abgehauen ist, damit du dich mit den Reaktionen befassen darfst?« Ich schlüpfte aus dem T-Shirt, das trotz der morgendlichen Dusche und großzügig aufgetragenem Deodorant eine Spur nach Körperschweiß roch. »Kannst du mir das andere da rübergeben?«

»Wir haben noch nicht mal drüber geredet, und du ziehst dich schon um, um wieder wegzugehen. Du musst dich ausruhen, Elena.«

»Werde ich auch. Gleich nachdem das Portal zu ist. Wenn Hull mit Shanahan zusammenarbeitet, könnte die Sache mit diesem Treffen …«

»Erledigt sein? Wie oft haben wir das in den letzten paar Tagen schon gesagt? Einfach nur den Brief stehlen, und die Sache ist erledigt. Einfach den zweiten Zombie umbringen, und die Sache ist erledigt. Einfach den Zombie zu Shanahan zurückverfolgen, und die Sache ist erledigt.« Er legte die Hand um meinen Unterarm und sah mir ins Gesicht. »Vergiss dieses Treffen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Hull gar nicht vorhat aufzutauchen. Und selbst wenn – er hat uns heute gefunden, also kann er uns auch noch mal finden. Im Moment ist es das da, worum ich mir Sorgen mache. Du und das Baby. Du musst …«

Er zog die Hand ruckartig zurück und zwinkerte verblüfft.

»Was ist los?«

»Dein Bauch. Er …«

»O bitte. Jeremy hat gesagt, es ist alles in Ordnung, also versuch mir jetzt bitte nicht einzureden, dass was nicht stimmt.«

Sein Mund wurde schmal. »Du glaubst, das würde ich tun? Ich wollte gerade sagen, ich habe gespürt …« Er brach ab; der Ärger verschwand in einem raschen Grinsen. »Da. Gib mir die …«

Er griff nach meiner Hand und legte sie mir seitlich auf den Bauch.

»Ich spüre nichts.« Ich spürte einen Stoß gegen meine Handfläche. »O mein Gott. Ein Tritt! Das war ein Tritt!«

»Oder ein Schlag«, sagte Clay immer noch grinsend. »Wenn das unser Baby ist, war’s wahrscheinlich ein Schlag. Er oder sie versucht jetzt schon, da rauszukommen.« Er manövrierte mich quer durchs Zimmer. »Da, schau in den Spiegel. Man kann es sehen.«

Nach einer Minute der Spannung sah ich eine Beule rechts unten an meinem Bauch erscheinen und wieder verschwinden.

»Kannst du’s spüren?«, fragte Clay.

Ich nickte, und dabei ging mir auf, dass Jeremy recht gehabt hatte. Ich hatte wirklich schon seit Wochen gespürt, wie das Baby sich bewegte, wenn es auch noch nie so unverkennbar gewesen war. Selbst dies fühlte sich weniger wie ein Tritt als wie ein Gurgeln im Magen an. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte – ich nehme an, wenn jemand von einem »Tritt« redet, denkt man eher an etwas, das hart genug ist, um weh zu tun.

Ein Klopfen an der Tür. Clay beugte sich vor und öffnete sie.

»Ich habe kein Gebrüll gehört«, sagte Jeremy im Hereinkommen. »Habt ihr euch etwa schon geeinigt?«

»Das Baby strampelt«, sagte Clay. »Man kann es spüren.«

»Und sehen«, sagte ich, wobei ich grinste wie ein Idiot.

Und so war ein paar Minuten lang jeder Gedanke an das Treffen mit Hull vergessen über der schlichten Sensation eines strampelnden Babys. Als er oder sie aufhörte, herumzutoben, und sich beruhigt hatte, war die Frage allerdings immer noch nicht geklärt. Aber jetzt war Clay nicht mehr zum Streiten aufgelegt, und selbst Jeremy musste zugeben, dass ich nach der kleinen Pause viel besser aussah.

 

Wir beschlossen, zu Fuß zu gehen. Es würde ein längerer Spaziergang werden, aber wenn dies eine Falle war, würden die Zombies uns vielleicht schon vom Hotel aus verfolgen. Je früher wir sie rochen, desto früher konnten wir sie erwischen.

Aber ich roch keine Spur von Verwesung, und als wir den Park erreichten, war Hull bereits da. Antonio und Nick blieben außer Sichtweite, um Wache zu stehen und die Umgebung abzusichern.

Hull stand unter einem Baum und blickte in die zunehmende Dunkelheit. Er fuhr zusammen, als er Schritte hörte, und wirkte auch dieses Mal wieder erleichtert, als er sah, dass wir es waren.

»Haben Sie mit jemand anderem gerechnet?«, fragte Clay im Näherkommen.

Ein mattes Lächeln. »Jemand anderen gefürchtet sollte man wohl sagen. Obwohl ich annehme, ich bin die geringere Gefahr. Im Augenblick sind sie sehr viel interessierter an …« Er fing meinen Blick auf und sah dann weg, als wäre es unhöflich, die Zielperson beim Namen zu nennen.

»Wir wissen, hinter wem sie her sind«, sagte ich. »Die Frage ist warum.«

»Eine Frage, von der wir hoffen, dass Sie sie beantworten können«, sagte Jeremy.

Hull sah sich um, als er die unbekannte Stimme hörte. »Oh, Sie sind nicht … ich dachte, es wäre …« – ein Nicken zu Clay und mir hin – »ihr Freund von vorhin.«

»Er hat etwas anderes zu erledigen«, sagte ich.

Hull warf einen weiteren Blick über den Park hin, als hätte er eine recht klare Vorstellung, was es gerade anderes zu erledigen gab.

»Sie haben gesagt, Sie hätten Informationen für uns«, sagte Jeremy. »Ein Bericht aus erster Hand – das war, glaube ich, der Ausdruck, den Sie verwendet haben.«

»Ja, natürlich.« Er zögerte. »Ich bin nicht sicher, wo ich anfangen soll …«

»Versuchen Sie’s mal am Anfang«, sagte Clay.

Hull nickte. »Vor all dem, damals, als ich noch …« Der Satz verklang.

»Am Leben war?«, fragte ich.

Ein entsetzter Ausdruck flackerte über sein Gesicht. »Oh, nein, ich bin noch am Leben. Das heißt, ich glaube es zumindest. Ich bin nicht gestorben, dessen bin ich mir sicher.«

»Gehen wir doch zu der Bank dort rüber.« Jeremy nickte zu mir hin. »Sie sollte sich lieber setzen.«

»Ja, natürlich«, sagte Hull. »Ich hätte es selbst vorschlagen sollen. Entschuldigen Sie bitte.«

Er schien sich etwas zu entspannen, als wir zu der Bank hinübergingen.

»Also«, sagte Jeremy, »Sie wollten gerade sagen …«

Hull nickte. »Ja, natürlich. Ich war als Buchhalter angestellt, wie ich es auch zuvor seit vielen Jahren gewesen war. Zu dieser Zeit allerdings hatte ich nur einen einzigen Auftraggeber.« Er lachte leise auf. »Das hört sich nicht gut an, nicht wahr? Als hätte ich nicht genug Arbeit finden können, aber tatsächlich hatte der betreffende Herr mehr als genug davon, und die Entlohnung war sehr gut, deshalb hatte ich die Bücher meiner übrigen Kunden zeitweise meinem Geschäftspartner übergeben. Dieser Mann – mein Kunde, nicht mein Partner – war erst vor kurzem aus Irland gekommen und hatte beträchtliche Vermögenswerte zu übertragen und zu investieren, die meine ungeteilte Aufmerksamkeit erforderten. Sein Name war Edwin Shanahan.«

Er sah uns an und wartete auf eine Reaktion. Als keine erfolgte, fuhr er fort: »Ja, nun, ich nehme an, Sie haben bereits erraten, dass diese Vorrichtung ihren Ursprung in der Familie Shanahan hatte, wo sie offenbar auch verblieben ist. Wie gesagt, Mr. Shanahan war mein einziger Kunde, und da er verwitwet war und somit auf niemanden Rücksicht nehmen musste, betrieb er den größten Teil seiner Geschäfte von zu Hause aus. Ich verbrachte einen großen Teil meiner Zeit dort, wobei meine Anwesenheit vergessen wurde, wie es bei Anwesenheit von Angestellten häufig der Fall ist. Ich stellte bald fest, dass ein Teil von Mr. Shanahans Geschäften …«

Er errötete. »Es war nicht an mir, ein Urteil abzugeben. Mein Vater sagte immer, Aufgabe eines Buchhalters sei es, das Vermögen seines Auftraggebers zu schützen, nicht den Ursprung dieses Vermögens zu hinterfragen. Bei Mr. Shanahan aber war es nicht nur die Herkunft seines Geldes. Manche seiner Bekannten waren wenig erfreuliche Gestalten. Einer mehr als alle anderen. Er behauptete, er sei Chirurg, aber er selbst und Mr. Shanahan pflegten zu lachen, wenn er es sagte. Als diese Vorfälle in Whitechapel begannen …«

Hull schluckte. »Ich … hörte Dinge im Gespräch zwischen Mr. Shanahan und seinem Freund. Ich versuchte mir einzureden, ich hätte mich geirrt. Dann brachte der Freund eines Abends eine Frau mit. Eine … nun ja, bezahlte Gesellschaft, aber nicht von der Sorte, bei der man erwartet hätte, dass Mr. Shanahan oder sein Freund mit ihr verkehren würden. Ich hätte am Abend noch in meinem Büro im Südflügel arbeiten sollen, war aber neugierig und schlich mich in den Hauptflügel hinüber. Es schien mir nichts weiter Ungewöhnliches vorzugehen. Im Speisezimmer wurde gesprochen und gelacht.

Ich war im Begriff zu gehen, als ich einen Schrei hörte. Einen entsetzlichen Schrei. Ich blieb wie erstarrt in meiner Ecke stehen. Kurz darauf kamen Mr. Shanahan und sein Freund heraus. Sie sprachen darüber, einen weiteren ›beschaffen‹ zu müssen. Als Mr. Shanahan seinen Freund an die Haustür brachte, konnte ich einen Blick ins Speisezimmer werfen. Ich hatte halb damit gerechnet, die arme Frau tot auf dem Fußboden liegen zu sehen, aber sie war nicht da.

Der Tisch war zur Seite geschoben worden, und auf dem Fußboden war ein merkwürdiges Muster zu sehen, das sie mit einem feinen Pulver gezeichnet hatten, wie Salz oder Sand. Und es waren noch andere Dinge da, Requisiten der … Teufelsanbetung. Es erinnerte mich an etwas, das ich gehört hatte, bevor all das in Whitechapel begann. Sie hatten über den Vater des Freundes gesprochen, darüber, ihn um einen Gefallen zu bitten, und wenn sie über ihn sprachen, nannten sie ihn einen Dämon. Ich hatte zunächst einfach angenommen, es sei Respektlosigkeit dem alten Mann gegenüber. Aber nachdem ich dieses Zimmer gesehen hatte, hatte ich Grund zum Zweifel.

Einige Wochen später wirkte Mr. Shanahan sehr aufgeregt. Er gab dem Personal den Abend frei und ermutigte sie alle, früh aufzuhören. Ich gab vor zu gehen und kam dann zurück. Nach Einbruch der Dunkelheit kam Mr. Shanahans Freund. Auch diesmal zogen sie sich ins Speisezimmer zurück. Ich konnte einen Teil der Unterhaltung verstehen, vor allem Mr. Shanahans Versicherungen seinem Freund gegenüber, dass ›es‹ bereit sei und er dort in Sicherheit sein würde. Zum rechten Zeitpunkt würde er die Diener schicken, die alles für die Rückkehr seines Freundes vorbereiten würden; danach würden sie den letzten Abschnitt ihres Plans in Angriff nehmen.

Als Nächstes hörte ich Mr. Shanahan Worte in einer fremden Sprache sprechen. Ich nahm meinen Mut zusammen und stieß die Tür einen Spalt weit auf. Ich spähte in eben dem Augenblick in das Zimmer, als Mr. Shanahans Freund verschwand. In dem einen Augenblick war er noch dort. Dann tat er einen Schritt … und verschwand. Ich war so überrascht, dass ich nach hinten stolperte. Mr. Shanahan hörte mich. Ich versuchte zu flüchten, aber er verwendete irgendeine Art von Zauberei auf mich, zerrte mich ins Speisezimmer und schleuderte mich an die gleiche Stelle, an der sein Freund verschwunden war. Das Letzte, woran ich mich erinnere, war seine Stimme, die sagte: ›Wir können einen Dritten brauchen.‹ Dann wurde alles schwarz. Als ich aufwachte, trat ich auf eine Straße in einer anderen Zeit hinaus. In Ihrer Zeit.«

Wir sahen einander an.

»Und«, sagte Clay, »was wollen Sie also von uns?«

Hull starrte ihn an. Er hatte uns gerade von seiner Begegnung mit Dämonen, Zauberern, schwarzer Magie, Serienmördern und über einem Jahrhundert im Scheintod erzählt. Warum also waren wir nicht sprachlos vor Staunen und Entsetzen?

»Sie haben vorhin gesagt, Sie wollen etwas von uns«, sagte Clay. »Was ist es?«

Jeremy schüttelte zu Clay hin den Kopf, um ihn zur Geduld zu mahnen.

»Sie sind also der Ansicht, Sie wurden in dieses Portal gestoßen, als Sie noch am Leben waren, was erklärt, weshalb Sie kein Zombie sind«, sagte er.

»Ein Zom … oh, ja, ich verstehe. Ich nehme an, das ist es, was sie sind.« Hull schauderte. »Nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich keiner von ihnen bin. Aber ebenso wenig ist er es, und er sollte unsere Hauptsorge sein.«

»Er wie Jack the Ripper«, sagte ich.

»Jack the …? Ja, er hat sich tatsächlich einmal so bezeichnet, nicht wahr? Ist das der Name, unter dem man ihn jetzt kennt? Angemessen makaber, nehme ich an.«

»Und Sie glauben, dieser Freund von Edwin Shanahan, der wirkliche Jack, ist mit Ihnen zusammen aus dem Portal gekommen?«

»Nein, das ist er nicht.« Hull kam auf die Füße; er zitterte vor Aufregung. »Das ist es, was sie vorhaben. Das Ritual, für das sie den Brief brauchen.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte Jeremy.

»Es ist doch offenkundig, oder nicht? Ich weiß, dass sie diesen Brief wollen. Als ich mich gestern vor ihnen versteckt habe, habe ich gehört, wie der Mann etwas zu der Frau gesagt hat, etwas darüber, ihn zurückzubekommen.«

»Um diesen Killer zu befreien? Das haben sie gesagt?«

Hulls Stirn legte sich in Falten, als er Jeremy ansah. »Nein, aber das muss der Grund sein, oder nicht? Das ist ihr Zweck – als seine Diener zu handeln. Der Mörder kann noch nicht durchgekommen sein, sonst würden sie ihm dienen, nicht Mr. Shanahans Enkel.«

»Urenkel wahrscheinlich«, murmelte Jeremy.

Hull nickte. »Ja, es ist wohl wirklich so lang her.« Er senkte den Blick und verfiel in Schweigen.

»Wenn er noch nicht hier ist, müssen wir dieses Portal wirklich schließen«, sagte ich. »So schnell wie möglich. Wie machen wir das also?«

Hull sah mich an, als hätte ich ihn soeben aufgefordert, den Mond auszuschalten. »Ich … ich habe keine Ahnung. Ich dachte, Sie wüssten, wie man es schließt. Deshalb sind Sie doch noch hier, oder nicht? Weil Sie versuchen wollen, es zu schließen?«

Clay machte tief in der Kehle ein Geräusch. »Mit anderen Worten, Sie sind hier, um uns zu warnen, dass die nächste Katastrophe bevorsteht, wenn wir das verdammte Ding nicht in Ordnung bringen?«

»Vielleicht kann ich mehr tun als das. Wenn ich einen Zombie in Ihre Nähe locke – würde das helfen?«

»Sie haben uns immer noch nicht gesagt, was Sie dafür wollen«, sagte Clay.

»Ich hatte auf Ihre Hilfe gehofft.«

»Bei was?«

Hull breitete die Hände aus und lachte nervös auf. »Bei was auch immer. Vor wenigen Tagen war ich ein Londoner Buchhalter, und Königin Victoria saß auf dem Thron. Heute bin ich hier, und ich bin mir nicht einmal sicher, wo hier ist. Das wenige Geld, das ich bei mir habe, ist nutzlos. Seit ich hier bin, musste ich …« Er errötete. »Stehlen, um zu essen, um mich kleiden zu können …«

Jeremy nahm einige Scheine aus der Brieftasche. »Dies hier reicht, um Ihnen für heute Nacht eine Bleibe zu beschaffen und etwas zu essen. Wir werden uns morgen wieder treffen und weitere Fragen besprechen.«

 

»Hatte noch jemand den Eindruck, dass er gehofft hat, wir würden ihn mitkommen lassen?«, fragte ich, als wir den Park verließen.

Clay schnaubte.

»Es wäre das Menschlichste gewesen«, sagte Jeremy. »Wenn seine Geschichte wahr ist. Aber wenn sie es nicht ist …«

Ich nickte. »Wenn er mit Shanahan zusammenarbeitet, wäre ihm nichts lieber gewesen, als uns ins Hotel zu begleiten.«

»Du glaubst also, er lügt wie gedruckt?«, fragte Clay.

Jeremy schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung.«

 

»Wir können die Lagebesprechung schwänzen«, sagte Clay, als er mir die Hotelzimmertür offen hielt. »Soll Jeremy den anderen alles erzählen, und wir gehen früh schlafen.«

»Nein, ich möchte …« Ich unterbrach mich, als ich das Bett sah, wie es da so unendlich einladend am anderen Ende des Zimmers stand, und spürte plötzlich, wie meine Glieder zu Blei wurden bei dem Gedanken daran, das Zimmer noch einmal zu verlassen. »Ja, ich möchte dabei sein, aber … klar, erklären wir den Tag für beendet. Sie brauchen uns nicht.«

Clay war bis zur Mitte des Raums gegangen und drehte sich langsam im Kreis, die Nasenflügel gebläht. »Jemand war hier drin.« Er ging mit langen Schritten zum Schreibtisch hinüber. »Ich habe diese Schublade offen gelassen, als ich die Chipkarte für die Tür rausgeholt habe.«

Er ging in die Hocke und atmete tief ein. Eine Pause und ein Stirnrunzeln, dann ein weiteres Schnüffeln; sein Kopf war fast bis auf den Teppich hinunter gesenkt.

Ich ging zu ihm hin. »Vielleicht das Zimmermädchen.«

»Jemand war hier. Ich rieche nichts, aber meine Papiere …« Er deutete gestikulierend zu einem Stapel Notizen hinüber, die er sich mitgebracht hatte. »Jemand hat sie durchgeblättert und dann den Stoß in Ordnung gebracht.«

Ich öffnete die Kommodenschublade, die ich für meine Kleidung verwendet hatte. Die Sachen waren immer noch achtlos hineingeworfen, aber die einzelnen Haufen waren klarer getrennt, als hätte jemand sie durchwühlt und dann versucht, die Spuren zu verwischen.

Ich ging zur Tür, ging auf alle viere und schnüffelte. Dann tat ich das Gleiche bei der Verbindungstür ins Nachbarzimmer.

»Unsere Witterung und die vom Zimmermädchen von heute Morgen. Das ist alles.«

Während Clay rasch den Raum durchsuchte, griff ich zum Telefon und rief bei Jeremy im Zimmer an. Niemand nahm ab. Als ich gerade bei Antonio anrufen wollte, schüttelte Clay den Kopf.

»Ich finde sie bestimmt.« Er ging zur Verbindungstür und öffnete sie. »Nick?«

Eine undeutliche Antwort aus dem Bad.

»Wenn du fertig bist, komm zu uns rüber«, rief Clay. »Bleib einen Moment bei Elena.«

Ich griff nach der Tür. »Geh schon, ich warte da drin.«

Clay ging. Als ich eben in Nicks Zimmer hinübergehen wollte, wurde mir klar, dass auch ich etwas im Bad zu erledigen hatte. Ich rief es Nick durch seine geschlossene Badezimmertür zu und kehrte in unser Zimmer zurück.

Die Badezimmertür stand halb offen. Hatte ich nicht gerade erst gesehen, wie Clay sie bei seiner Durchsuchung des Zimmers weit aufgestoßen und hineingesehen hatte?

Ich schlich mich näher heran und atmete tief ein. Nichts. Noch ein Schritt, und ich konnte ins Innere sehen. Leer – und immer noch keine Witterung.

Okay, das wurde mir jetzt wirklich unheimlich.

Ich ging ins Bad und schloss die Tür hinter mir. Aus dem Augenwinkel sah ich im Spiegel einen undeutlichen Fleck. Ich wollte herumfahren, die Fäuste bereits erhoben, aber ein unsichtbarer Gegner erwischte mich mit der Schlagkraft eines Werwolfs am Kiefer. Im Fallen schlug ich mit dem Kopf auf der Toilette auf und wurde ohnmächtig.

 

Meine Lider flatterten, und ich sah eine Gestalt, die sich über mich beugte. Ich schlug zu, aber eine Hand schloss sich um mein Handgelenk, bevor ich mein Opfer erreicht hatte.

Benommen versuchte ich, mich aufzurichten und den Angreifer …

»Elena.«

Die Stimme brachte mich schlagartig zur Besinnung. Ich nahm mich zusammen und sah Jeremy über mir; er hielt immer noch meine Hand umfasst. Clay war hinter mir und stützte meinen Kopf.

»Was ist …« Ich versuchte aufzuspringen, aber Jeremys Griff hielt mich zurück; er ließ nur zu, dass ich mich langsam aufrichtete, bis ich auf dem Fußboden des Badezimmers saß.

»Jemand hat mich …« Ich sah mich um. »Habt ihr ihn erwischt?«

»Er ist fort«, sagte Jeremy.

»Ich hab dich schreien hören«, sagte Nick hinter Jeremy hervor. »Ich bin hier reingerannt, aber er war schon draußen im Gang. Ich bin ihm nachgelaufen, aber alles, was ich gesehen habe, war … ich weiß nicht recht. So was wie ein Schatten, nehme ich mal an. Wahrscheinlich hätte ich ihm folgen sollen, aber ich hab mir Sorgen um dich gemacht.«

»Die richtige Entscheidung«, sagte Jeremy.

»Gibt es eine Spur?«, fragte ich. »Vielleicht können wir der Fährte …«

»Keine Fährte.« Antonios Kopf erschien in der Badezimmertür. »Ich hab bis zum Aufzug und zur Treppe hin nachgesehen. Dieses Stockwerk ist praktisch leer, und die einzigen deutlichen Fährten sind unsere.«

»Keine Witterung hier drin. Keine Witterung da draußen. Das ist doch unmöglich.«

»Shanahan«, sagte Clay. »Trank oder Formel, um die Fährte zu verdecken. Eine Rückstoßformel, um Elena auszuschalten. Ein Verschwimmzauber zum Flüchten.«

»Dann weiß er also, wer wir sind. Verdammt. Aber wenn er hier war – entweder um auf mich zu warten oder um nach dem Brief zu suchen –, dann möchte ich wetten, seine Zombies sind auch in der Nähe. Und ich glaube nicht, dass es einen Trank oder eine Formel gibt, die den Gestank überdecken könnte.«

Ich hievte wieder mich auf die Beine, taumelte einen Moment lang und hatte mich dann gefangen.

»Dürfen wir uns wandeln?«, fragte ich Jeremy.

Er nickte.

 

Wir wandelten uns in einer leeren Lagerhalle in der Nähe der Bahngleise.

Als ich fertig war, streckte ich die Nase ins Freie und atmete tief ein. Eine wahre Explosion von Gerüchen stürmte auf mich ein, so vielfältig und so stark, dass ich fast zurückgewichen wäre. Clays Schnauze streifte meine Schulter, als er sich an mir vorbeischob, um selbst eine Nase voll zu nehmen.

Städte riechen fremdartig. Es gibt keinen besseren Ausdruck, um es zu beschreiben. Für einen Menschen beschwört der Geruch der Stadt viele Assoziationen herauf, manche gut, manche unangenehm, aber alle … normal.

Als Wolf dagegen bestürmt mich eine Kombination widersprüchlicher Gerüche. Im Wald weiß ich, womit ich zu rechnen habe – Pflanzen und Tiere, lauter erdige, moschusartige, natürliche Gerüche. Hier trug mir ein einziger Atemzug Dreck und Asphalt, Mäusekot und Abwasser, Laub und frische Farbe, Schweiß und Parfum, verwesende Tiere im Rinnstein und frisch geschnittene Kartoffeln zu. Nichts davon passte zu etwas anderem, aber die Widersprüchlichkeit, so irritierend sie war, ergab zugleich ein wunderbares Rätsel für mein Gehirn, das die einzelnen Gerüche voneinander zu trennen und jeden davon zu identifizieren versuchte.

Nick stieß mich von hinten her an. Da ich mich nicht von der Stelle rührte, kniff er mich ins Hinterteil. Ich verschluckte ein Fauchen und begnügte mich damit, ihm mit dem Schwanz ins Gesicht zu peitschen, bevor ich mich ins Freie schob.

Ich ging nur eben weit genug, um die Tür freizugeben; dann sah ich mich um. Der Blick war mehr Gewohnheit als Notwendigkeit. Wenn jemand hier war, würde ich ihn riechen.

Nachdem wir alle vier im Freien waren, teilten wir uns in zwei Gruppen. Antonio und Nick übernahmen die Nebenstraßen, während Clay und ich den Boden hinter dem Hotel absuchten. Das bedeutete, ihr Gebiet war schwieriger zu bearbeiten, aber unseres war riesig – statt festgelegter Pfade über Gehwege und Nebenstraßen hatten wir Gleisanlagen, Wiesenflächen und Parkplätze abzusuchen.

Ich fing mit den Gleisen an, die an der Rückseite des Hotels zur Union Station verliefen. Nach fünf Minuten stieß Clay mich an, um mir mitzuteilen, ich solle es aufgeben. Er hatte recht. Der Gestank war einfach zu stark – Kreosot, Diesel, Unkrautvernichter und was in Jahrzehnten sonst noch alles hier in den Boden gelangt war.

Wir liefen stattdessen zu dem Netz aus Gehwegen, Grünflächen und überdachten Passagen hinüber, die den SkyDome, den CN Tower und das Kongresszentrum miteinander verbanden. Der Wind pfiff rings um die leeren Gebäude; der ferne Schritt eines Wachmanns war das einzige Lebenszeichen. Hier wurden wir zu Geruchsstaubsaugern auf vier Pfoten, die hin und her über die offenen Flächen trabten, die Nasen am Boden.

Wir endeten schließlich am Fuß eines kleinen Hügels auf einem trübseligen Stück Ödland, das in der Baseballsaison als Parkplatz diente und in dieser Eigenschaft wahrscheinlich ein schönes Geld eintrug. Als wir im Zickzack über die Wüstenei trabten, fand ich, was wir gesucht hatten – Verwesungsgeruch.

Ich stieß ein hundeartiges Bellen aus, das Clay zu mir herüberrief. Er schnupperte zwischen meinen Vorderfüßen am Boden und grunzte dann. Wir trennten uns – Clay folgte der Spur in der einen Richtung, ich in der anderen. Als ich feststellte, dass meine Fährte vom Hotel fortführte, kehrte ich um und übernahm Clays Spur.

Nachdem wir den Parkplatz hinter uns gelassen hatten, wurde es schwieriger, der Fährte zu folgen. Zu viele andere Fährten verliefen neben und über ihr – und es war ohnehin die des männlichen Zombies, der nicht so übel roch wie Rose.

Scheinwerfer leuchteten hinter uns auf, und Clay stieß mich in den Schatten einer Werbetafel. Wir kauerten dort, während die von einer auf Grün gesprungenen Ampel freigegebenen Autos an uns vorbeijagten. Als die Luft wieder rein war, versuchte ich es von neuem. Die Spur war so schwach, dass ich ein Stück weit umkehren musste, um sie wiederzufinden, und einen halben Block weiter verschwand sie von neuem.

Je länger ich darauf bestand, der Fährte zu folgen, desto ungeduldiger und schließlich ärgerlicher wurde Clay. Als wir uns dem Hotel näherten, war er wütend; er knurrte und rammte mich, so hart er es wagte. Mehrmals trabte er davon und kam, als ich ihm nicht folgte, in noch üblerer Laune zurück. Als er mich in die Flanke kniff, fuhr ich herum, die Ohren angelegt, und fauchte ihn an. Er erwiderte das Fauchen, und wir standen uns knurrend und schnappend gegenüber, bis Schritte uns gleichzeitig Deckung suchen ließen.

Ein Paar ging auf dem Gehweg in einiger Entfernung vorbei, lachend und die Arme umeinander gelegt. Als wir zusahen, wie sie sich entfernten, ging ein zitternder Seufzer durch Clay hindurch. Er sah zu mir herüber und gab mir zu verstehen, ich sollte die alte Spur doch einfach sein lassen; wir würden zurückkommen, wenn wir nichts Besseres finden konnten.

Ich senkte die Nase zum Boden hinab und atmete ein. Ja, es war der Geruch des Bowlermannes, gekreuzt von mindestens vier anderen Fährten … und so viele Leute konnten seit Einbruch der Dunkelheit nicht über dieses Stück Wiese gelaufen sein.

Als ich den Kopf hob, fing ich einen weiteren Geruch auf. Schwach, aber …

Ich reckte mich; meine Nase zuckte. Ich signalisierte Clay, er solle mir folgen, und lief weiter in die Richtung, in die der Bowlermann gegangen war.

Er knurrte; seine Geduld war langsam am Ende. Ich schlug ihm von unten mit der Nase gegen den Unterkiefer, um seinen Kopf in die richtige Richtung zu schieben. Seine Augen wurden weit, als er Roses Geruch auffing.

Ich stieß ihn in die Seite und schnaubte ein »Siehst du, recht gehabt«. Er versetzte mir einen Klaps mit dem Schwanz und jagte davon; ich konnte nur noch versuchen, ihn einzuholen.

 

Wir wurden langsamer, als wir eine Zufahrt erreichten. Von weiter vorn kam das Klicken von Klauen auf Asphalt. Ich schnupperte und stieß einen kurzen Kläffer aus, und Antonio glitt aus den Schatten vor uns hervor, Nick auf den Fersen. Ich schnupperte demonstrativ in der Luft herum. Er senkte den Kopf zu einem Nicken und wies nach links. Sechs Meter weiter stießen wir auf Roses Fährte, der die beiden bereits gefolgt waren.

Wir wollten uns eben in Bewegung setzen, als Antonio sich vor mich schob. Ich hielt inne, in der Erwartung, er würde die Führung übernehmen wollen. Die Rudelhierarchie kann eine komplizierte Angelegenheit sein. Theoretisch und als Jeremys »Sprecherin« stehe ich über Antonio. Aber er ist älter als ich und der stärkere Wolf, insofern war meine Stellung nicht absolut. Bei einer Jagd folgen Clay und ich Antonio.

Aber als ich zurückwich, schnaubte er und gab mir zu verstehen, ich solle führen – vorsichtig. Er musste weiter vorn zuvor schon etwas gesehen oder gerochen haben – wahrscheinlich Leute. Also trabten wir im Gänsemarsch die verlassene Firmeneinfahrt entlang, wobei wir uns im Schatten hielten, für den Fall, dass jemand auftauchen sollte.

Als wir uns dem Ende näherten, wurde mein Herzschlag schneller. Rose war hier. Ich konnte sie riechen. Nur um diese Ecke noch …

Ich kauerte mich zusammen, schlich zu der Ecke und spähte um sie herum. Auf der anderen Seite lag eine Art Alkoven, etwa so groß wie ein Schlafzimmer. Und als ein solches wurde es auch benutzt – vier Teenager schliefen dort auf dem nackten Boden.

In der hintersten Ecke sah ich einen dunklen Haufen. Dies schien die Stelle zu sein, von der Roses Geruch ausging … hinter den vier schlafenden Jungen.

Ich wich zurück, damit Clay und Antonio einen Blick um die Ecke werfen konnten. Dann wartete ich darauf, dass Antonio eine Entscheidung traf. Aber nach einem raschen Blick kam er zurück, setzte sich hin und begann an einer verfilzten Stelle in seinem Pelz herumzuzupfen.

Ich sah zu Clay hin. Er sah um die Ecke, zog sich wieder zurück und stieß ein leises Schnaufen aus. Deine Entscheidung.

Ich warf einen weiteren Blick auf Antonio, aber er beschäftigte sich höchst konzentriert mit dem Knoten in seinem Pelz und überließ die Entscheidung mir.

Ich ließ Clay und Nick Wache stehen und schob mich dann in den Alkoven hinein, wobei ich auf den Fußballen abrollte, damit meine Klauen kein Geräusch machten. Ich suchte mir einen Weg zwischen den schlafenden Gestalten hindurch und erstarrte, als der Junge neben mir sich plötzlich bewegte. Er streckte den Arm zur Seite, und die Hand schlug gegen mein Hinterbein. Mein Herz begann zu hämmern, als seine Finger meinen Pelz streiften. Dann fiel die Hand auf den Asphalt, und sein Atem nahm wieder den tiefen Rhythmus des Schlafes an.

Ich stieg mit den Hinterbeinen vorsichtig über den ausgestreckten Arm und brachte den letzten Meter bis zu dem Haufen in der Ecke hinter mich. Roses Gestank war unverkennbar, aber die schwere Kleidung musste das Schlimmste überdecken, sonst würden diese Jungen nicht in ihrer Nähe schlafen.

Sie hatte ihren Mantel über sich gezogen. Ich schob mich so nahe heran, wie es ging, streckte den Kopf vor, um den Mantelsaum mit den Zähnen zu packen, und überlegte es mir dann anders. Ich wollte Rose nach Möglichkeit nicht mit den Lippen berühren. Also trat ich mit einer Vorderpfote auf den Saum, krümmte die Klauen und begann vorsichtig zu ziehen.

Als ich es tat, stellte ich fest, dass der Gestank von dem Kleidungsstück ausging. Die Innenseite war gesprenkelt mit Hautschuppen und kleinen Fetzen von verwesendem Fleisch. Als ich in die Ecke sah, ging mir auf, dass ich einen Stapel zusammengedrückter Pappkartons freigelegt hatte. Ich schluckte ein Fauchen der Frustration herunter und kehrte zu den anderen zurück.

 

Wir folgten Roses Spur und der des Bowlermannes noch eine Weile, aber bald musste ich zugeben, dass Clay recht hatte. Es waren alte Fährten, viel früher am Tag oder vielleicht auch schon in der vergangenen Nacht entstanden. Also kehrten wir ins Hotel zurück und packten. Ich schlug das Hotel in der Nähe der Trinity Church vor, wo wir am Nachmittag gewesen waren, und Jeremy stimmte zu.