Wahrheit
Ich wollte Tolliver als Urheber des Stromausfalls nicht vollkommen ausschließen, setzte aber eher auf Shanahan. Seine schockierte Unschuld überzeugte mich ganz und gar nicht – ich hatte die gleiche Nummer schon bei zu vielen Mutts gesehen. Man tauchte auf ihrer Türschwelle auf, und sie standen da, stammelten und rissen die Augen auf bei dem bloßen Gedanken, dass sie Menschen jagten, während die Beteuerungen nur so aus ihnen heraussprudelten und der Atem dabei noch nach Menschenfleisch roch.
Tolliver zögerte an der Tür des Besprechungsraums, als erwartete er, dass ein Wolf hinter ihr hervorspringen würde. Als Antonio die Tür hinter ihnen schloss, fuhr Shanahan zusammen, und seine Finger flogen hoch, als wollte er mit einer Formel beginnen.
»Wenn du diese Formel wirkst, ist das Treffen vorbei«, sagte Jeremy.
Während die anderen sich im Raum verteilten, flüsterte Clay schwach: »Nicky?«
Nick fuhr zusammen, überrascht von Clays Ton, dem Rufnamen aus der Kinderzeit oder beidem. Clays Gesicht war immer noch so gerötet wie zu dem Zeitpunkt, als er von draußen hereingestürzt war, doch jetzt konnten weder die Hitze noch die Anstrengung daran schuld sein.
»Du …«, begann ich.
Clay brachte mich mit einem vielsagenden Nicken zu Jeremy hin zum Schweigen. Nick schob sich stirnrunzelnd neben ihn.
»Pass auf Elena auf, okay?«, flüsterte Clay; seine Stimme war heiser, als kostete das Sprechen ihn mehr Anstrengung, als er sich leisten konnte.
»Ist mit dir alles …«
»Nein, ist es nicht. Also pass du auf sie auf. Bitte.«
Jeremy fing meinen Blick auf, aber Clay hatte sich abgewandt, als würde er noch mit Nick reden. Jeremy winkte mich zu sich. Ich sah rasch zu Clay hin, aber seine Augen sagten mir, dass ich den Mund halten sollte.
Jeremy begann: »Ich gehe davon aus, dass Dr. Tolliver Ihnen erzählt hat, was diese Woche passiert ist und welche Rolle Sie unserer Meinung nach dabei spielen.«
»Ich …«, sagte Shanahan.
»Sie wissen also, dass die Vorwürfe ernst sind. Wenn Sie behaupten, bei alldem keine Rolle gespielt zu haben, und ich feststelle, dass es anders ist, dann werde ich verlangen, dass unserer Rechtsprechung nach Recht gesprochen wird.«
»Aber …«
»Ein Mitglied meines Rudels ist in Gefahr, und weder der paranormale Rat noch die Kabale werden mir dies verweigern.«
Shanahan schluckte. Sein Blick schoss zu Tolliver hinüber, aber der sagte nichts.
»Wenn Sie Ihre Rolle bei alldem zugeben«, fuhr Jeremy fort, »und uns helfen, dieses Portal zu schließen, dann werde ich Sie der Cortez-Kabale oder dem paranormalen Rat übergeben – es ist Ihre Entscheidung, aber Sie haben mein Wort, dass ich allen Maßnahmen beiwohnen und dafür sorgen werde, dass Ihre Kooperation in dieser Sache berücksichtigt wird.«
»Und wenn ich bei alldem nun keine Rolle gespielt habe?«
»Dann würde ich Ihnen dringend raten, uns alles zu erzählen, das Sie entlastet, und alles, was uns helfen könnte, dieses Portal zu schließen … und zu beten, dass wir nie herausfinden werden, dass Sie gelogen haben.«
Shanahan richtete sich gerade auf und sah Jeremy ins Gesicht. »Ich habe genau eine Rolle bei alldem gespielt.« Er sprach jedes Wort so betont aus, als könnte seine Ernsthaftigkeit zugleich auch seine Aufrichtigkeit bezeugen. »Und zwar als der ursprüngliche Besitzer dieses Briefs. Wenn ich ihn nicht hinreichend sicher aufbewahrt habe, dann ist meine einzige Entschuldigung die, dass ich keinen Grund zur Annahme hatte – nicht den allergeringsten Grund –, er könnte etwas anderes sein als das, was mein Großvater immer behauptet hatte.«
»Eine Fälschung?«, fragte Jeremy.
»Nein, streng genommen keine Fälschung. Ein Rohrkrepierer. Ein fehlgeschlagenes Experiment. Eine paranormale Kuriosität mit einer interessanten Geschichte dazu. Das war es, was mein Großvater gesammelt hat – Geschichten.«
Jeremys Blick glitt zu den Fenstern hinüber, und seine Nasenflügel blähten sich. Die Fenster waren geschlossen, und er schüttelte leicht den Kopf, als sei das Wittern instinktiv geschehen. Alles, was ich draußen sah, war der leere Basketballplatz.
»Und die Geschichte, die sich hinter diesem Stück verbirgt?«, fragte er. »Sie nennen es einen Rohrkrepierer.«
Shanahan nickte nachdrücklich, als gäbe es bereits deutliche Anzeichen dafür, dass wir ihm die Geschichte abnahmen. »Er sollte angeblich wirklich der Auslöser eines Portals sein. Einer Art … Wartesaal.«
»Für den Mann, den man unter dem Namen Jack the Ripper kennt.«
»Nein, es gibt keinen …«
»Dazu kommen wir noch«, sagte Tolliver. »Bleiben wir erst mal bei dem Brief und seinem angeblichen Zweck.«
Sie erzählten uns eine Geschichte, die sehr ähnlich klang wie die, die Anita Barrington erzählt hatte – der Magier, der sich ein Portal geschaffen hatte, um sich vor denjenigen zu verbergen, die sich sein Unsterblichkeitsexperiment aneignen oder es beenden wollten.
»Nur war er entweder nicht so gut, wie er glaubte, oder er hat die letzten paar Schritte überstürzt, weil seine Feinde ihm auf der Spur waren.«
»Und das Portal ist fehlgeschlagen«, sagte Jeremy. »Der Magier hat es nicht rechtzeitig ins Innere geschafft.«
»Nein, das war nicht sein Problem. Er …«
Shanahan erstarrte. Dann taumelte er nach hinten; seine Hände drückten sich auf seinen Bauch. Sein Mund öffnete sich, als wollte er brüllen, aber es kam kein Geräusch, nur eine kleine Schwade von etwas Grauem, fast wie Rauch; dann brach er auf dem Boden zusammen.
Tolliver stürzte vor. Nick riss mich nach hinten. Clay versuchte, einen Satz zu Jeremy hin zu machen, aber es wurde eher ein Torkeln daraus; sein Gesicht glänzte vor Anstrengung. Antonio fuhr zu Tolliver herum, und die Finger des Magiers hoben sich zu einer Rückstoßformel, aber Antonio hatte seine Handgelenke gepackt, bevor er sie vollenden konnte.
Jeremy stürzte zu Shanahan hin, der sich auf dem Boden krümmte und etwas von sich gab, das ein Aufheulen vor Schmerz sein sollte, aber nur als wimmerndes Flüstern herauskam, sowie ein Atemzug, der nach verbranntem Fleisch stank.
»Lasst mich doch helfen …«, sagte Tolliver, während er sich von Antonio loszureißen versuchte.
»Bei was?«, fragte ich. »Ihn zu erledigen?«
Tollivers Blick flog zu meinem Gesicht, und die kalte Wut darin versengte mich fast. Ich ging zu ihm hin, Nick so dicht neben mir, dass sein Arm mich streifte.
»Und, wollt ihr uns dafür auch verantwortlich machen?«, fragte ich. »Vielleicht können wir eine Sicherung umlegen, aber das da können wir mit Sicherheit nicht. Das ist Magie, und es gibt hier nur zwei Formelwirker. Er wollte wohl etwas sagen, von dem du nicht wolltest, dass wir es hören?«
»Du glaubst, ich habe das getan?«
Shanahan lag jetzt still, die Augen offen und leer. Als Jeremy ihm die Augen schloss, brüllte Tolliver auf und begann wieder zu kämpfen.
»Ihr habt ihn einfach sterben lassen! Ich hätte …«
»Helfen können?«, fragte Jeremy, die Stimme trügerisch leise. »Niemand hätte ihm helfen können … indem er es rückgängig macht oder indem er es beschleunigt. Aber ich bin mir sicher, das ist dir nicht neu.«
»Ich habe …«
»Ich weiß nicht viel über Magie, aber es gibt keine andere Möglichkeit, dies zu bewirken – einen Mann von innen heraus zu verbrennen.« Er ging zu Tolliver hinüber. »Er wollte uns etwas über das Portal erzählen, etwas, von dem du nicht wolltest, dass wir es hören. Was …«
Ein Schrei von draußen unterbrach ihn. Wir erstarrten alle. Ein weiterer Schrei, dann ein Lachen und das Aufklatschen eines Balls auf dem harten Boden. Teenager, die kamen, um den Basketballplatz zu nutzen.
»Wie nah sind sie?«, murmelte Jeremy, als ich zum Fenster ging, um einen Blick ins Freie zu werfen.
»Zu nah.«
»Nick? Clay? Bringt Shanahan weg. Elena? Du findest einen Ort, an dem wir die Leiche verstecken können. Wir treffen uns am Ausgang in der Sporthalle.«
Die Tür des Geräteraums war verschlossen, aber ich brach sie auf und räumte im Inneren etwas Platz frei.
Clay versuchte Nick zu helfen, als der Shanahans Leiche in den Geräteraum brachte, aber er konnte sich kaum auf den Füßen halten, und Nick winkte ihn zur Seite.
»Ist es bloß das Fieber?«, fragte ich. »Was ist mit deinem Arm?«
Er legte mir den linken Arm um die Schulter – eine ungeschickte, ofenheiße Umarmung. Als er sich zu mir herunterbeugte, spürte ich, dass Wellen von Hitze von ihm ausgingen.
»Mach dir um mich keine Sorgen, okay?«, flüsterte er. »Erledigt das, ich komme schon klar. Wenn du Deckung brauchst – Tonio und Nick, okay?« Ein leises Geräusch wie ein ersticktes Knurren. »Nicht ich – kein Verlass auf mich.«
»Ich passe auf«, sagte Nick. »Du weißt, ich passe auf sie auf.«
Clay bedeutete uns mit einer Handbewegung, dass wir in die Sporthalle hinübergehen sollten.
Wir banden Tolliver mit einem Springseil die Hände zusammen, um ihn am Formelwirken zu hindern. Er schlug um sich, als sähe er sein Ende nahen. Aber das war kein Problem für Antonio, der den größeren Tolliver einfach vom Boden hob und sein Schlagen und Treten ignorierte.
Wir brachten ihn in das angrenzende Waldstück.
Jeremy schickte Nick, Clay und mich voraus, um das Gelände zu erkunden. Als wir außer Sichtweite zu Jeremy waren, setzten Nick und ich Clay auf einem umgestürzten Baumstamm ab; wir blieben immer so weit in seiner Nähe, dass wir ein Auge auf ihn halten konnten. Als wir eine kleine Lichtung in sicherer Entfernung zum Weg fanden, holten wir Clay und kehrten zu den anderen zurück.
Antonio setzte Tolliver auf dem Boden ab, und wir umringten ihn.
»Überlegt euch doch mal«, sagte Tolliver; er kämpfte darum, die Stimme ruhig zu halten, aber ich sah eine Ader in seiner Stirn pochen. »Wie hätte ich für all das verantwortlich sein können? Ich hatte Patrick seit Jahren nicht mehr gesehen. Der Brief war in seinem Besitz, dann wurde er gestohlen, und dieses Portal …« Sein Kopf schoss hoch. »Ihr glaubt, ich hätte den Brief gestohlen und das Portal aktiviert?«
»Nein. Wir wissen, wer den Brief gestohlen hat.«
»Warum fragt ihr dann nicht …« Sein Blick zuckte über unsere Gesichter, und die Ader begann wieder zu pochen. »Ihr habt ihn gestohlen? Moment mal. Nur damit ich das richtig verstehe – ihr habt den Portalbrief gestohlen. Ihr habt das Portal aktiviert. Und das soll jetzt alles unsere Schuld sein?«
»Der Diebstahl des Briefs hatte mit dem Portal nichts zu tun«, sagte Jeremy. »Derjenige, der den Brief wollte, hatte keine Ahnung, was er angeblich enthielt …«
»Und das habt ihr geglaubt?«
Jeremys Stimme blieb ruhig. »Ja, das glauben wir. Es war eine vollkommen eigenständige Angelegenheit, ein menschlicher Käufer, der nur am historischen Wert des Briefes interessiert war. Wir haben ihn gestohlen, im Austausch gegen Informationen, die uns geholfen haben, eine andere Verbrechensserie zu verhindern.«
Tollivers dunkle Augen loderten immer noch.
Jeremy fuhr fort: »Vielleicht hat Shanahan wirklich geglaubt, dass der Brief ein fehlgeschlagenes Experiment darstellte – tatsächlich nehme ich an, er hat es geglaubt. Aber als diese Zombies auf seiner Türschwelle aufgetaucht sind und nach ihrem Meister gesucht haben, hat er eine Chance für sich gesehen. Er kannte die Geschichte zu diesem Brief – dass sein Urgroßvater ihn geschaffen und einen Mörder darin eingesperrt hatte, einen Mörder, dessen Arbeit bei diesen Unsterblichkeitsexperimenten eine Rolle gespielt hatte.«
»Jack the Ripper?« Tolliver verzog seinen Mund. »Begreift ihr es eigentlich nicht? Es gibt keinen Jack the Ripper!« Er schüttelte heftig den Kopf. »Ja, ich bin sicher, es hat ihn gegeben, aber er hat nichts mit diesem Brief zu tun. Das wollte Patrick euch gleich am Anfang sagen. Ich habe ihn unterbrochen, weil es eine unnötige Abschweifung gewesen wäre. Wer es auch ist, der diese jungen Frauen umgebracht hat, es ist nicht Jack the Ripper.«
Jeremy studierte Tollivers Gesicht und ließ ihn weitersprechen.
»Diese ganze From-Hell-Geschichte war ein Täuschungsmanöver des Magiers, der das Portal geschaffen hat. Er hat den Brief geschrieben. Er hat dafür gesorgt, dass er abgeschickt wurde, mit dieser Niere, an …« Ein weiteres heftiges Kopfschütteln. »Welche Behörde auch immer er geschickt wurde. Es ist alles in der Akte, ich erinnere mich einfach nicht an …«
»Wo ist die Akte?«
Tolliver zögerte und sagte dann: »Ich kann sie euch zeigen. Patrick hat sie mir heute Vormittag gezeigt, und wir haben sie an einen sicheren Ort gebracht. Wenn ihr wollt …«
»Nicht jetzt. Dann hat also dieser Magier – Patricks Urgroßvater …«
»Vielleicht. In der Akte steht nichts davon, dass der ursprüngliche Schöpfer überhaupt ein Shanahan war, aber wenn es das ist, was ihr gehört habt – okay, meinetwegen. Wer dieser Magier auch war, er hat ein Portal geschaffen, das ihm als Versteck dienen sollte; das hat Patrick gesagt. Ein Versteck vor anderen Paranormalen, die seine Experimente stehlen oder verhindern wollten – und diese Experimente hatten nichts mit Jack the Ripper zu tun. Der Magier opferte zwei kleine Kriminelle, um das Portal zu schaffen, und legte den Auslöser in ein Blatt Papier. Zu dieser Zeit war die Polizei gerade damit beschäftigt, einer Mordserie in Whitechapel nachzugehen. Briefe gingen ein, die angeblich von dem Mörder stammten und sorgfältig aufgehoben und archiviert wurden. Also hat er auf das Papier einen solchen Brief geschrieben, denn seines Wissens gab es in ganz London keinen sichereren Ort als das Polizeiarchiv …«
Tolliver sprach weiter, aber Jeremys Blick war abgeglitten – in den Wald hinüber. Seine Augen waren schmal, seine Nasenflügel gebläht, als versuchte er, einen leichten Luftzug aufzufangen. Er sah, dass ich ihn beobachtete, aber statt abzuwinken, brachte er Tolliver mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Antonio?«, murmelte er. »Übernimm hier. Elena, dich brauche ich. Clay?«
Ein Ausdruck von Panik glitt über Clays Gesicht, als ihm klarwurde, dass er mich decken sollte, während Nick mit Antonio zurückblieb.
»Lass ihn weiterreden«, sagte Jeremy zu Antonio, ohne Clays Reaktion zu bemerken. »Wir sind bald zurück.«
Clays Mund öffnete sich, aber im letzten Moment überlegte er es sich anders und folgte Jeremy und mir in den Wald hinein.