Angebot
Clay ging hinter mir, nicht zuletzt um nach Möglichkeit Abstand von Jeremy zu halten. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Jeremy ihn nicht zu sehen brauchen, um zu wissen, dass etwas nicht stimmte – er hätte es einfach gewusst, auf die unerklärliche Art, auf die er Dinge wusste. Aber im Augenblick war er zu sehr von anderen Dingen in Anspruch genommen.
Ich schlich mich neben ihn und flüsterte: »Hast du irgendwas gehört?«
Er zögerte, als sei er sich selbst nicht sicher, und schüttelte dann den Kopf. »Nicht gehört …«
Er hatte niemanden gesehen, gehört oder gewittert. Er hatte jemanden gespürt.
»Dort«, sagte er jetzt und zeigte nach Osten. »Wir schlagen einen Bogen, ich will mich nicht zu weit von den anderen entfernen.«
Wir waren keine sechs Meter weit gekommen, als ich den Geruch auffing, nicht weil der Wind so günstig stand, sondern weil wir der Beute bereits so nahe waren.
Ich tat ein paar langsame Schritte vorwärts. Wenige Meter vor mir bewegte sich etwas zwischen den Bäumen. Als Jeremy mich am Arm berührte, erkannte ich den Geruch.
»Ich glaub das einfach nicht«, murmelte ich, schüttelte Jeremys Hand ab und setzte mich in Bewegung.
»Ele …!«
Jeremys Ruf brach in einem Knurren ab. Ich drehte mich um und sah, dass ihn etwas zu Boden geschleudert hatte. Clay stürzte vor und stolperte auf halber Strecke. Als ich hinzurennen versuchte, packte mich jemand am T-Shirt und riss mich zurück.
Ich knurrte und rammte den Ellenbogen nach hinten, um meinen Angreifer von mir zu schleudern. Metall blitzte auf, und ich spürte einen Stich – einen kleinen, stechenden Schmerz – nicht in der Brust oder an der Kehle, sondern seitlich im Bauch.
Ich hörte ein Wimmern; dann wurde mir klar, dass es aus meiner eigenen Kehle kam.
»Bleiben Sie da, wo Sie sind, Mr. Danvers«, sagte eine Stimme hinter mir.
Der Tonfall – der Tonfall dieser Stimme – war so unerwartet, dass mein Hirn sekundenlang aussetzte.
Ich zwang meinen Blick von der Messerspitze fort in der Erwartung, Clay sprungbereit vor mir zu sehen. Aber Clay lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Jeremys Blick zuckte zu dem bewegungslosen Körper hinunter, Furcht in den dunklen Augen, und dann wieder zurück zu dem Messer an meiner Seite. Ich sah seine Hände zucken, sah die Anspannung, als er das Gewicht auf die Fußballen verlagerte …
»Sie wissen selbst, dass das keine kluge Vorgehensweise wäre, Mr. Danvers«, sagte Hull hinter mir; jede Ängstlichkeit war aus seiner Stimme verschwunden. »Sie könnten sie vielleicht retten, aber bei der geringsten Bewegung wird sie das Messer im Bauch haben. Sie wissen mit Sicherheit, was das bedeutet. Kein Enkelkind, das Sie auf den Knien wiegen können. Keine Enkelkinder, meine ich. Ich habe das recht verstanden, nicht wahr? Zwillinge?« Ein kurzes bellendes Auflachen. »Irgendetwas muss ich im Leben richtig gemacht haben – irgendeinen Dämon oder eine Gottheit zufriedengestellt. Was für ein Geschenk. Zwei reinblütige Werwolfjunge.«
Clay stieß ein tiefes Stöhnen aus.
»Er stirbt, wissen Sie«, sagte Hull. »Zombiekratzer – sehr üble Verletzungen. Die einzige Möglichkeit, ihm jetzt noch zu helfen, wäre es, die Zombies zu töten. Ich könnte dabei helfen.« Wieder ein kurzes Lachen. »Es sind immerhin meine Zombies.«
Das war es, was Shanahan hatte sagen wollen, unmittelbar bevor er umgekommen war. Dass der Magier es durchaus in sein Portal geschafft hatte.
Ich spürte das Prickeln der Angst, als ich daran dachte, wie Shanahan sich auf dem Boden gekrümmt hatte und gleich darauf gestorben war. O Gott, wenn Hull zu derlei in der Lage war …
Augenblick mal. Paige zufolge war das Problem beim Wirken sehr starker Formeln, dass sie die Kräfte des Formelwirkers erschöpften. Je stärker die Formel, desto mehr Energie verbrauchte sie. Deshalb also hatte Hull bei Jeremy nur eine einfache Rückstoßformel verwendet.
Und wenn Hull Shanahan antun konnte, was er ihm angetan hatte – warum hatte er nicht einfach eine Formel gegen Clay eingesetzt, um mich zu bekommen – gestern Abend auf dem Balkon zum Beispiel? Aus irgendeinem Grund war er vorsichtig. Vielleicht war er nach den hundert Jahren im Dimensionsportal aus der Übung, oder vielleicht waren seine Kräfte noch dabei, sich zu regenerieren …
»Sie waren also die ganze Zeit unter Ihrer Kontrolle«, sagte ich in der Hoffnung, Jeremy etwas Zeit zum Nachdenken zu verschaffen. »Und Sie sind aus dem Portal gekommen, nachdem sie Ihnen den Weg freigeräumt hatten.«
Hull lachte. »Den Weg freigeräumt? Ich habe das Portal wenige Minuten nach meinem ersten Zombie verlassen. Sie waren alle so damit beschäftigt, ihm die Straße entlang zu folgen, dass Sie es nicht einmal gemerkt haben. Also bin ich Ihnen gefolgt. Es ist mir seltsam vorgekommen – Menschen, die dem Mann einfach folgten, statt um Hilfe zu rufen. Also habe ich eine kleine Formel gesprochen und festgestellt, was für ein Glück ich hatte. Ausgerechnet eine schwangere Werwölfin hatte mein Portal geöffnet.«
»Sie waren gar nicht wegen des Briefs hinter mir her«, sagte ich.
»Der Brief hat seinen Zweck erfüllt. Jetzt sind Sie es, die den größeren Wert darstellt.«
»Ich tausche Elena nicht gegen …«, begann Jeremy.
»Sie brauchen Ihr Mädchen gegen gar nichts einzutauschen. Das ist das Schöne an meinem Angebot. Sie bekommen sie und Ihren Jungen da zurück, gesund und wohlbehalten. Ich werde sogar die Kontrolle über meine Zombies aufgeben, Sie können sie also töten und das Portal schließen. Ebenso wie der Brief waren sie durchaus nützlich, sind inzwischen aber eher zu einem Klotz am Bein geworden. Sie haben meinen Segen, wenn Sie sie übernehmen wollen. Schließen Sie das Portal, heilen Sie Ihren Jungen … alles, was Sie wollen.«
»Im Austausch gegen … ?«, fragte Jeremy.
»Nein«, sagte ich durch die zusammengebissenen Zähne.
Hull lachte leise. »Sie wissen natürlich schon, was ich verlangen werde, nicht wahr? Aber ich würde das Angebot nicht so überstürzt ausschlagen. Schließlich könnte ich mir auch einfach nehmen, was ich haben will, ohne etwas dafür anzubieten … das Portal offen lassen, Ihren Gefährten sterben lassen, Sie mit ihm zusammen sterben lassen …«
»Was wollen Sie …«, begann Jeremy.
»Nein!«
Hull drehte das Messer. Jeremy sah die Bewegung und wurde weiß.
»Ein fairer Austausch, finden Sie nicht auch? Zwei Leben gegen zwei Leben? Es wäre einfach genug, die Babys früher zu holen. Sie halten sich doch für einen guten Arzt, nicht wahr, Mr. Danvers? Vielleicht könnte auch dieser andere Arzt die Aufgabe übernehmen, wenn er dazu nicht zu wütend auf Sie ist.«
»Sie …« Jeremy schluckte, als ob sein Mund zu trocken sei, um auch nur ein Wort herauszubringen. »Die Babys sind noch nicht weit genug entwickelt. Sie würden es nicht überleben.«
»Das macht nichts. Ich brauche sie nicht lebend. Selbst wenn ich sie in diesem Zustand bekomme, würden sie es nicht lang bleiben.«
Ich dachte nicht nach. Konnte nicht nachdenken. Ich reagierte ganz einfach, heulte auf, drehte mich, riss den Ellenbogen hoch, um ihn …
Das Messer bohrte sich in meinen Bauch.
Als ich erstarrte, hörte ich Jeremys Stimme; sie übertönte kaum das Donnern in meinen Ohren, aber sie bat mich, aufzuhören, still zu halten.
Ich stand da, zitterte und rang nach Atem. Hull lachte, aber ich zwang mich dazu, Jeremy anzusehen. Ein leises Knacken drang durch die Bäume zu mir herüber, und Jeremy senkte kurz das Kinn, um mir zu sagen, dass sie kamen. Seine Augen waren wieder ruhig, die Panik war verflogen, und als ich es sah, spürte ich, wie meine eigene Angst abebbte.
»Warum bieten Sie diesen Handel an?«, fragte Jeremy; seine Stimme war wieder gleichmäßig. »Wenn Sie, wie Sie selbst sagen, Elena und die Babys einfach nehmen könnten …«
»Zu viel Durcheinander.« Hull klang ebenso sachlich. »Ich habe es gern ordentlich. Deshalb habe ich versucht, das ohne eine Konfrontation zu lösen. Hätten Sie mir gestattet, mit ihr zusammen ins Hotel zurückzufahren, hätten Sie sich allerlei Unerfreulichkeiten erspart – auch Mr. Shanahan hätte das sicherlich vorgezogen. Jetzt würde ich ein entsprechendes Angebot annehmen, wenn ich dazu die Zusage bekomme, dass keine Rachemaßnahmen folgen werden.«
Ich roch Antonio und Nick jetzt; sie kamen näher.
»Aber warum …« Jeremys Stimme stockte, dann fuhr er fort, so sachlich, wie er es zuwege brachte. »Die Babys … wozu brauchen Sie sie? Doch sicherlich nicht für das Experiment, an dem Sie in England gearbeitet haben.«
Hull lachte. »Das wäre ein zu großer Glücksfall, nicht wahr? Nein, nicht dafür – obwohl ich durch Sie vielleicht den letzten, seltenen Bestandteil gefunden habe, den ich dafür brauche. Dies hier ist lediglich eine Frage der ökonomischen Notwendigkeit. Hätte ich gewusst, dass ich hundert Jahre später in einem anderen Land enden würde, hätte ich finanzielle Vorkehrungen getroffen. Aber die Vorsehung hat mir geholfen – ich traf auf eine Frau, die reinblütige Werwolfzwillinge austrägt. Manche Dinge ändern sich nicht. Diese Babys wären auf dem Schwarzmarkt so viel wert wie das legendäre Horn des Einhorns – fast unbezahlbar. Schon eins davon würde reichen, um mich ein sorgenfreies Leben führen zu lassen.«
»Wenn aber eins von ihnen schon reichen würde …«, begann Jeremy.
Ich erstarrte, aber er fing meinen Blick auf, wie um mich zu erinnern, dass er lediglich auf Zeit spielte.
»Sie sind jetzt also eher bereit zu verhandeln, Mr. Danvers? Ich weiß es zu schätzen. Vielleicht …«
Hinter Jeremy schien das Gebüsch zu explodieren. Hull fuhr zusammen. Ich schlug das Messer an meinem Bauch zur Seite, aber dabei fuhr mir die Klinge über den Handrücken und riss ihn auf. Als ich nach dem fallenden Messer zu greifen versuchte, trat Hull mir die Beine weg. Ich drehte mich im Fallen, um den Bauch zu schützen.
Hulls Hände flogen hoch, um Jeremy mit einer Formel zu Fall zu bringen, dann Nick, der aus dem Gebüsch gestürzt kam; als ich mich aufzurappeln begann, warf Antonio sich von der anderen Seite auf Hull, und sie landeten gemeinsam auf dem Boden.
Wieder ein Krachen im Wald, und ich sah etwas, bei dem mir kalt wurde.
Der Bowlermann stürzte aus dem Wald hervor, und hinter ihm torkelte Rose; sie schnitten Nick und Jeremy von Hull, Antonio und mir ab. Hull sprach eine Formel. Etwas wie ein elektrischer Blitz traf Antonio, und er fiel keuchend zu Boden. Ich wollte zu ihm hin, aber dann sah ich das Messer nur ein paar Zentimeter von meiner Hand entfernt am Boden liegen. Ich streckte den Arm danach aus, aber es flog aus meiner Reichweite, segelte zu Hull zurück, beschworen von irgendeiner Formel.
Ich kämpfte mich auf die Füße; meine Hand pochte, mein Fußknöchel schien in Flammen zu stehen. Ein vertrautes Stechen im Bauch. Hull packte mich am Rückenteil meines T-Shirts.
»Vorwärts«, sagte er.
Ich setzte mich in Bewegung, ließ mich von ihm vorwärts schieben, während ich stolperte und strauchelte; mein Knöchel gab bei jedem Schritt nach, und die Welt ringsum schien zu schwanken und zu verschwimmen. Die Geräusche des Handgemenges blieben hinter uns zurück, als wir tiefer in den Waldstreifen vordrangen.
»Sie hätten mein Angebot annehmen sollen«, sagte Hull. »Nach einer erfolgreichen Operation wären doch sicherlich weitere Babys gekommen.«
Ich versuchte zu knurren, brachte aber nur ein heiseres Keuchen heraus.
»Vielleicht haben Sie noch die Hoffnung, mir zu entkommen. Aber es würde Ihnen nichts nützen. Ihr Blut hat mein Portal geöffnet. Solange Sie am Leben sind, kann ich Sie finden, und angesichts des Schatzes, den Sie im Bauch tragen, hätte ich Sie bis zum Südpol verfolgt.«
Ich antwortete nichts darauf. Ich versuchte, mir einen Plan einfallen zu lassen, aber mein Gehirn lieferte mir nichts als Bilder von Clay auf dem Boden, Antonio, der unter was auch immer zusammenbrach, Jeremy und Nick, die gegen die Zombies kämpften.
Hull hörte nicht auf zu reden. Er schweifte immer weiter ab in seinem glücklichen Monolog, so zufrieden mit sich selbst. Nach ein paar Augenblicken konnte ich in der Ferne Verkehrslärm hören. Dann ein leises rhythmisches Klopfen. Ein Zug? Nein, Pfoten auf harter Erde. Wer konnte sich so schnell wandeln?
Die Antwort kam in Gestalt eines dunklen Schattens, der aus dem Unterholz neben uns hervorgeschossen kam. Ich warf mich zur Seite, legte jeden Funken Energie, den ich noch aufbrachte, in den Versuch, dem Messer auszuweichen. Die Spitze kratzte an meinem Bauch entlang; dann flog es zur Seite, als Jeremy Hulls Arm mit den Zähnen packte.
Noch im Fallen fauchte Hull eine Formel und schnippte dazu mit den Fingern – ein einfacher Rückstoßzauber, aber es funktionierte. Jeremy ließ seinen Arm los und taumelte zurück. Als ich mich ungeschickt vor ihn zu werfen versuchte, um ihn zu schützen, landeten wir beide auf dem Boden. Ich drehte mich um und sah eben noch, wie Hulls Rücken zwischen den Bäumen verschwand.
Jeremy setzte ihm nach, aber schon einen Moment später teilten uns das Kreischen von Reifen und das Aufheulen von Autohupen mit, dass Hull die Straße erreicht hatte. Dort konnte Jeremy ihn nicht weiter verfolgen.
Ich zögerte nur eine Sekunde lang; dann stürzte ich zurück zu Clay.
An diesen Weg erinnere ich mich nur undeutlich – Zweige, die mir ins Gesicht peitschten, Ranken, die nach meinen Füßen griffen. Nick und Tolliver kauerten neben Clay. Seine Augen waren geschlossen.
Eine kalte Nase drückte sich in meine Handfläche, als Jeremy neben mir erschien. Ich taumelte und griff nach ihm, grub die Finger tief in den Pelz in seinem Nacken, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, aber meine Knie gaben nach, und alles wurde schwarz.