Auszeit
Clay sorgte dafür, dass ich am nächsten Tag verschlief, indem er die Vorhänge geschlossen hielt, damit das Zimmer kühl und still blieb. Er zog sogar den Stecker des Weckers heraus; als ich also benommen aufwachte und herauszufinden versuchte, wie spät es war, war da keine Spur von einer leuchtenden LED-Anzeige, die mir ein schlechtes Gewissen verursacht hätte.
Es war wahrscheinlich schon mitten am Vormittag, als ich aufwachte, und ich fand ein Frühstücksbüfett in Reichweite. Muffins, Croissants, Bagels, Obst und frisch gepressten Orangensaft, genug Auswahl, um sicherzustellen, dass irgendwas davon mir verlockend vorkommen würde.
Wir aßen im Bett, und Clay sagte währenddessen kaum ein Wort; er lag ausgestreckt neben mir, las und trank Orangensaft, während ich meinen Bananen-Nuss-Muffin kaute. Nachdem ich mir den Magen vollgeschlagen hatte, gab es keinen Grund, nicht wieder einzuschlafen, also tat ich genau das.
Als ich das nächste Mal aufwachte, las Clay immer noch. Ich streckte die Hand aus und berührte seinen Arm unter dem Verband, und dabei stellte ich fest, dass die Haut warm war, fast heiß.
»Morgen, Darling.«
»Dein Arm ist heiß. Da, wo sie dich gekratzt hat. Jeremy sollte …«
»Yeah, ich weiß.« Er beugte den Arm und verzog das Gesicht. »Wer weiß, was für einen Dreck das Ding unter den Nägeln hatte.« Er strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und runzelte die Stirn. »Und du siehst immer noch müde aus.«
»Ich habe genug geschlafen. Eigentlich schon zu viel. Wie spät ist es?«
»Fast eins.«
»Mittags?« Ich setzte mich auf. »Wo sind die anderen?«
»Suchen nach Shanahan. Sie wollen vor dem Treffen mit Hull noch mal herkommen.«
Ich sprang auf. »Stimmt ja. Ich muss mich anziehen.«
»Wir gehen nicht mit.«
»Fang jetzt nicht wieder damit an.«
Er stieg mit einem halb gefauchten Gähnen aus dem Bett. »Das bin nicht ich. Jeremys Anweisungen. Sie treffen sich mitten am Tag in aller Öffentlichkeit, und er nimmt Antonio und Nick mit. Wir bleiben hier und ruhen uns aus.«
Als Jeremy zurückkam, stellte er fest, dass Clays Arm Zeichen einer Infektion aufwies, trotz der gründlichen Reinigung am Tag zuvor. Von einer verwesenden Leiche gekratzt zu werden kann nicht sehr hygienisch sein.
Jeremy säuberte die Wunde, verabreichte Clay ein Antibiotikum und verband ihn wieder; dann machte er sich auf zu seinem Treffen mit Hull.
»Und was passiert danach?«, fragte ich, als er seine medizinische Ausrüstung wegräumte. Ich sah ihm an, dass er es selbst nicht wusste.
»Hm«, sagte er schließlich. »Jaime hat vorgeschlagen, es mit einer Séance zu versuchen.«
»Na fabelhaft. Mit wem?«
»Sie will versuchen, die Leute aus Cabbagetown zu finden, die in diesem Portal verschwunden sind. Sicherstellen, dass sie noch da sind und es ihnen gut geht.«
»Oh. Ich nehme an, das wäre immerhin etwas.«
»Yeah«, sagte Clay, während er die Muffinpapiere quer durchs Zimmer in den Mülleimer warf. »Zeitverschwendung.«
»Ich glaube, die eigentliche Absicht ist, herauszufinden, ob noch jemand da drin ist«, sagte Jeremy.
»Das ist wirklich eine gute Idee.«
Jeremy sah mich an. »Jaime zu bitten, sie soll eine schwierige Séance durchführen, um die Bekanntschaft eines Massenmörders zu machen?«
Ich rannte quer durchs Zimmer und riss Clay meinen Orangensaft aus der Hand, bevor er den Rest wegschütten konnte. »Aber es würde uns verraten, wie viel von Matthew Hulls Geschichte wahr ist.«
»Vielleicht, aber ich hoffe, darüber heute Nachmittag mehr herauszufinden.«
Zum Mittagessen trafen wir uns mit Jaime und gingen in das Einkaufszentrum hinüber. Unmittelbar hinter dem Eingang war ein Zeitungskiosk. Die Schlagzeile einer Zeitung erregte meine Aufmerksamkeit: KILLER-CHOLERA? TÖDLICHE RATTENBISSE?
»Killer?«, fragte ich, während ich mich den Zeitungen zuwandte. »Hat es …«
»Nein«, sagte Clay, während er mich am Arm packte. »Gestern ist jemand in einem Pflegeheim gestorben, aber in den anderen Zeitungen heißt es, es hatte nichts damit zu tun.«
»Und die Ratten? Haben sie …?«
»Einen Menschen angegriffen und in Stücke gerissen?« Clay warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Ich hab dir doch gesagt, du siehst zu viele Horrorfilme.«
Es war so still in dem Einkaufszentrum, dass man Jaimes Absätze klicken hörte, als wir zu dem kleinen Markt mit Sitzplätzen hinübergingen, wo Jeremy auch unser Frühstück besorgt hatte. Wir kauften unser Mittagessen, und ich schlug vor, es aus der verödeten Ladenpassage mit hinaus auf den Trinity Square zu nehmen.
Als wir an einer Gruppe leerer Tische vorbeikamen, fiel mir ein Flugblatt auf einem davon auf, und ich griff im Vorbeigehen danach. Es war ein billig gedrucktes Pamphlet, auf dem jemand die Probleme aufführte, die die Stadt in jüngster Zeit heimgesucht hatten, und sie mit den Anzeichen für die nahende Apokalypse verglich. Der Leser wurde aufgefordert, seinen Frieden mit Gott zu machen, denn das Ende war nah.
»Was für ein Blödsinn«, sagte Clay, während er mir das Flugblatt aus der Hand riss und es zusammenknüllte. »Haben die sich auch nur die Mühe gemacht, die Offenbarung zu lesen? Ratten als Vorboten der Apokalypse?«
Er winkte uns weiter. Wir gingen die Passage entlang, womit wir falsche Hoffnungen bei etlichen gelangweilten Verkäufern weckten, und dabei fiel mir ein hastig von Hand geschriebenes Schild in einem Kioskfenster auf.
»Filtersysteme«, las ich vor. »Garantierter Schutz vor Cholera, E. coli und anderen im Wasser enthaltenen Gefahren. Oh, und Abwehrspray gegen Ratten haben sie hier auch. Typisch – da löst man nun die Apokalypse aus, und jemand anders verdient daran.«
»Du solltest eine Provision verlangen«, sagte Jaime.
»Sollte ich wohl – aber weißt du, was ich wirklich tun möchte? Auf den CNN Tower klettern, ein Fenster einschlagen und rausbrüllen: ›Es tut mir leid. Es tut mir wirklich, wirklich leid. Ich bitte für all das um Entschuldigung.‹«
Jaime lachte. »Und du verpflichtest dich, von vergleichbaren, Apokalypsen herbeiführenden Aktivitäten in Zukunft abzusehen?«
»War nicht deine Schuld«, sagte Clay. »Ich hab die Mücke erschlagen.«
»Eine Mücke erschlagen, die Apokalypse ausgelöst«, sagte Jaime. »Das ist wirklich übles Karma.«
»Ich hatte einen Rückstau«, sagte Clay. »Gehen wir weiter, es wird langsam auffällig.«
Draußen setzten wir uns auf eine Bank, von der man einen freien Blick auf eine weite, mit trockenem Gras und Unkraut bewachsene Fläche hatte. Ein einzelnes Eichhörnchen tollte darin herum.
»Was zum Teufel ist das?«, fragte Clay.
Ich spähte zu einem Schild hinüber, auf dem fröhliche Menschen sich einen Weg durch einen Irrgarten suchten.
»Ein Labyrinth«, sagte ich. »Nur, dass sie anscheinend vergessen haben, es zu bewässern. Und vom Unkraut zu befreien. Und … alles andere auch.«
Clay schüttelte den Kopf. »Und ich dachte, wir sind nachlässig bei der Gartenpflege.«
»Das Eichhörnchen da findet’s aber prima«, lachte Jaime über ihrem vegetarischen Wrap. Nach einem weiteren Bissen fragte sie: »Und was ist jetzt mit heute Abend? Ich habe wegen dieser Séance mit Jeremy …«
Mein Handy klingelte.
»Nick?«, fragte Clay, als ich auf die Anzeige hinuntersah.
»Anita Barrington.«
Er schnaubte. »Wahrscheinlich hat sie wieder eine Geschichte für uns. Sag ihr …«
Ich winkte ab und ging dran.
Ja, Anita hatte wieder Informationen für uns. Ich wollte, dass sie mir alles am Telefon erzählte, aber Anita beharrte darauf, dass das nicht sicher genug war.
»Ich rufe dich von einer Telefonzelle aus zurück«, sagte ich. »Gib mir fünf Minuten Zeit.«
»Nein, Liebes. Du verstehst nicht. Dies ist … Wir müssen uns wirklich treffen.«
Clay schüttelte nachdrücklich den Kopf.
»Ich wollte heute eigentlich nicht wirklich weg vom Hotel. Ärztliche Anweisung …«
»Dann komme ich vorbei. Erin ist bei meiner Schwester – ich dachte, es ist besser, wenn ich sie aus der Stadt wegschicke, bis das hier vorbei ist. Und vielleicht kann ich einen Blick auf den Brief werfen, wenn ich schon mal da bin – ihr habt ihn doch noch, oder?«
Clay runzelte die Stirn und rückte näher heran, um besser mithören zu können.
Ich teilte ihr mit, dass wir den Brief noch hatten und dass sie ihn sich gern ansehen konnte.
»Wunderbar. Und in welchem Hotel seid ihr?«
Ich warf einen Blick zu Clay hin. »In dem Hotel, dessen Nummer wir dir gegeben haben?«
»Oh? Ihr seid noch dort? Ja, natürlich …«
»Nein, tut mir leid. Das hab ich total vergessen. Wir sind wirklich umgezogen – wir sind jetzt im Marriott am Eaton Centre. Wir treffen uns im Foyer.«
»Der Brief liegt da auf dem Tisch«, sagte ich, als ich Anita in unser Zimmer geführt hatte. »Handschuhe sind auch da.«
Sie ging geradewegs hinüber. Ich ließ mich aufs Bett plumpsen.
»Müde, Darling?«, fragte Clay.
»Zu heiß«, sagte ich mit einem Blick zum Nachttisch hinüber. »Wo ist das Wasser?«
»Hab ich ausgetrunken. Ich gehe und hole welches.«
»Nein, bring Saft. Haben die Moosbeersaft?« Ich arbeitete mich vom Bett hoch. »Ich komme mit. Anita …«
»Ich brauche nichts, Liebes«, sagte sie, den Kopf über den Brief gesenkt.
Zwei Minuten später öffnete Anita Barrington unsere Hotelzimmertür, schlüpfte in den Gang hinaus und wäre fast mit Clay zusammengerannt, der sich dort draußen aufgepflanzt hatte. Sie fuhr herum und entdeckte mich in der anderen Richtung.
»Oh, schon zurück«, sagte sie. »Das ist ja schnell gegangen. Ich wollte gerade …«
»Gehen …« Ich zeigte auf die Röhre in ihrer Hand. »Mit dem Brief.«
Ein kleines Lachen. »Oje, das sieht nicht gut aus, oder? Aber ich wollte nicht gehen. Ich wollte zu euch runterkommen – ich wollte den Brief nicht unbewacht im Zimmer liegen lassen.«
Während sie noch sprach, öffnete Clay die Zimmertür. Ich winkte Anita hinein. Sie zögerte, warf einen Blick auf unsere Gesichter und trat ein.
»Also«, sagte sie, als die Tür sich geschlossen hatte. »Diese Geschichte, die ich erwähnt habe …«
»Spar dir die Mühe, außer es ist diesmal die richtige«, sagte Clay.
Ich griff nach dem Ende der Pappröhre. Sie hielt sie noch einen Moment lang fest, bevor sie sie losließ.
»Aber sie hat recht«, sagte ich zu Clay. »Wir müssen da wirklich vorsichtiger sein. Jemand könnte einbrechen und unser Zimmer nach dem Brief durchsuchen.«
Er nickte. »Jemand, der schon weiß, wo wir untergekommen sind.«
»Weil die Person uns nämlich ausdrücklich nach der Telefonnummer des Hotels gefragt hat. Sie muss dahintergekommen sein, wer wir sind, und deshalb wusste sie auch, dass sie einen Trank brauchen würde, der ihren Geruch überdeckt, wenn sie einbricht.«
»Jemand, der Verschwimmformeln, Rückstoßformeln, wahrscheinlich auch einen Tarnzauber wirken kann … weshalb wir sie im Bad auch nicht gesehen haben.«
Anita sah von Clay zu mir. »Ich fürchte, ich habe den Faden verloren. Ist jemand eingebrochen und …«
»Vorhin hast du mich gefragt, wo wir sind. Du hast gewusst, dass wir nach gestern Abend einen guten Grund hatten, das Hotel zu wechseln.«
Sie lachte. »Nein, Liebes, ich habe nur ein furchtbar schlechtes Gedächtnis. Ich hatte vollkommen vergessen, dass du mir schon gesagt hattest, in welchem Hotel …«
Sie stürzte sich auf den Brief, wobei sie Clay mit einer Formel aus dem Weg schleuderte. Ich versuchte mich zur Seite zu werfen, aber ihre Finger legten sich um die Pappröhre, während sie schon die nächste Formel sprach. Ihre Gestalt verschwamm vor meinen Augen, und sekundenlang schien sie zu verschwinden.
»Elena!«
Clay sprang auf. Die verschwommene Gestalt stürzte zur Tür. Clay jagte ihr nach und warf sich ihr in den Weg; Anita stolperte über ihn und wurde wieder sichtbar, als sie auf dem Boden aufschlug. Ich rannte hin und packte den Brief, den sie dabei fallen gelassen hatte.
»Elena!«
Ich fuhr herum, als Anita die Hände zu einer Rückstoßformel hob. Unsere Blicke trafen sich, und sie zögerte, eben lang genug, dass Clay vom Teppich aufspringen konnte. Er stürzte sich auf sie, packte sie am Rückenteil ihrer Bluse und schleuderte sie über eine Schulter nach hinten. Sie krachte in die Stehlampe und riss sie mit sich zu Boden. Clay pirschte sich langsam an sie heran. Sie versuchte zurückzuweichen, sich aus seiner Reichweite zu retten, aber er kam näher und stand schließlich genau über ihr. Ihre Lippen öffneten sich, um eine Formel zu sprechen, aber sie zitterte so sehr, dass sie die Worte nicht herausbrachte.
»Clay«, murmelte ich.
Er zögerte und trat dann zurück. Ich nahm seinen Platz ein.
»Spielchen zu spielen kommt bei uns nicht so sehr gut an«, sagte ich. »Wir nehmen sie ernst.«
Ich streckte die Hand aus und half ihr auf die Beine.
»Setz dich da hin«, sagte ich, während ich auf einen Stuhl zeigte. »Und erzähl uns die wahre Geschichte zu dem Brief – die, bei der es einen Zusammenhang mit Unsterblichkeit gibt.«
Sie versuchte immer noch zu protestieren und vom Thema abzulenken, aber irgendwann erzählte sie uns dann die Geschichte des Briefes – die Version, die sie bereits gekannt hatte, bevor sie Shanahan gebeten hatte, den Brief sehen zu dürfen.
Der Geschichte nach hatte ein Magier das Portal geschaffen. Er hatte letzte Hand an ein Experiment gelegt, eins, das ihm eine Form der Unsterblichkeit versprach. Nicht gerade ein seltenes Experimentierfeld, aber etwas an seinen Experimenten hatte andere Paranormale annehmen lassen, er hätte tatsächlich eine Möglichkeit gefunden. Einige von ihnen wollten seine Forschungsergebnisse stehlen; andere wollten ihn am Weiterarbeiten hindern. Also hatte er das Portal geschaffen, um sich darin zu verstecken, und den Auslöser in das Papier gelegt, auf dem der From-Hell-Brief geschrieben wurde.
Als Anita fertig war, erzählte ich ihr Hulls Version der Geschichte.
Sie runzelte die Stirn. »Das hört sich an wie eine Mischversion der beiden Geschichten – der mit dem Halbdämon und der mit dem Unsterblichkeitsexperiment. Vielleicht enthält diese Lagerfeuergeschichte doch mehr Wahrheit, als man hätte meinen sollen.«
Ich sagte nichts dazu. Nach einer Pause fuhr sie fort:
»Die Gabe des Dämons mag Unsterblichkeit sein. Oder das Geheimnis der Unsterblichkeit. Der Magier hat das Portal nur geschaffen – es war der Halbdämon Jack the Ripper, der sich darin versteckt hat.«
»Und herauskommen wird, um Entsetzen über die ahnungslose Welt zu bringen«, sagte Clay gedehnt. »Bisher sieht es eher harmlos aus, was er angerichtet hat.«
»Vielleicht ist er ja noch in der Aufwärmphase.«
Zwei Stunden später kam Jeremy in unser Hotelzimmer, sah sich um und seufzte.
»So viel zum Thema Ausruhen«, sagte er, während er die zerbrochene Stehlampe wieder aufrichtete.
»Wir waren’s nicht«, sagte ich. »Anita Barrington ist vorbeigekommen, und plötzlich war die Hölle los.«
Wieder ein Seufzer.
»Du glaubst, wir machen Witze? Es sieht ganz so aus, als wäre der Formelwirker, der gestern Abend unser Zimmer durchsucht hat, gar nicht Shanahan gewesen.«
Wir erzählten ihm, was passiert war.
»Und nach alldem – ganz abgesehen von der Tatsache, dass sie mir gestern Abend fast eine Gehirnerschütterung beigebracht hätte – besaß sie die Frechheit, mich noch mal zu fragen, ob sie mit Matthew Hull reden darf.«
»Wahrscheinlich in der Hoffnung, dass er mehr weiß, als er sagt, was ich nach der Unterhaltung heute bezweifle. Aber was den Brief angeht – ich kann mir nicht vorstellen, was sie aus ihm zu erfahren hofft.«
»Unsere Theorie? Sie hofft, ihn Shanahan gegenüber als Druckmittel einsetzen zu können. Angesichts der Tatsache, dass die Zombies ihn offenbar zurückhaben wollen – was könnte sie einem Mann Besseres anbieten, von dem sie annimmt, dass er möglicherweise das Geheimnis der Unsterblichkeit besitzt?«
»Hast du sie darauf angesprochen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe gedacht, besser nicht. Vorläufig nicht.«
»Gut. Sie könnte noch nützlich werden.«
Nachdem unser erstes Mittagessen unterbrochen worden war, setzten wir uns mit Jaime, Nick und Antonio zu einem zweiten und verspäteten ins Hotelrestaurant. Das Lokal war hell und luftig, mit riesigen Fenstern und Marktschirmen – als äße man auf einer Terrasse, aber ohne die Mücken, die Hitze und den Smog.
Jeremy erzählte uns, dass Hull etwa achtzig Prozent der Fragen, die er ihm über die Geographie und kleinere Ereignisse im London des Jahres 1888 gestellt hatte, richtig beantwortet hatte – für jemanden, der nicht dort gelebt hatte, wären sie schwer zu beantworten gewesen, und alles hätte auch ein Einheimischer nicht wissen können.
Jeremy hatte sogar erwähnt, dass wir eine Quelle hatten, die heute Abend vielleicht versuchen würde, über das Portal Kontakt mit Jack the Ripper aufzunehmen, um zu sehen, wie er reagieren würde. Aber Hull war sehr dafür gewesen und hatte sogar seine Hilfe angeboten, ohne je zu versuchen, seine Geschichte zurückzunehmen oder nachträglich abzuändern.
»Okay«, sagte Clay, nachdem der Kellner wieder gegangen war. »Er scheint also in Ordnung zu sein. Aber außer dass er den Sympathiepreis gewonnen hat – kann er irgendwas für uns tun?«
Antonio öffnete den Mund, um zu antworten, aber Nick war schneller. »Er glaubt, er kann uns zu Shanahan führen. Er sagt, er spürt eine Verbindung oder irgendwas, als versuchte Shanahan ihn zu kontrollieren. Er hat uns angeboten, er könnte versuchen, diese Verbindung zurückzuverfolgen.«
Antonio drehte ein Pommesstäbchen in seinem Ketchup, ohne den Blick zu heben.
»Du glaubst nicht dran«, sagte ich.
»Ich bin mir vorgekommen, als hätte irgendjemand aus der mittleren Verwaltungsebene sich einen Termin geben lassen und mir bei dem Treffen dann Stein und Bein geschworen, er könnte irgendein großes Tier in der Industrie zu einem Gemeinschaftsprojekt bewegen, weil sein Cousin zweiten Grades die Nichte von dem Mann geheiratet hat. Er mag sich selbst eingeredet haben, dass er da eine Stellung hat, in der er etwas bewirken kann, aber in Wirklichkeit tut er nichts weiter, als sich eine Stellung bei mir zu verschaffen – den Typ auf sich aufmerksam zu machen, dessen Name draußen auf dem Schild steht. Hull mag glauben, dass er eine Verbindung zu Shanahan hat, und er wird wahrscheinlich nach besten Kräften versuchen, diese zu nutzen, aber im Grunde will er einfach eine Verbindung zu uns aufbauen, sich in unseren Augen nützlich machen, damit wir ihm helfen und ihn schützen.«
»Schmarotzer«, sagte Clay.
Antonio nickte. »Eine unfreundliche Art, es auszudrücken, aber ja. Andererseits, kann man es dem Mann verdenken? Er ist vollkommen allein und ratlos in einer fremden Welt. Er will nichts als etwas von unserer Zeit.«
Ich sah zu Jeremy hinüber. »Und geben wir ihm die heute Abend?«
»Ja, aber nur, weil er eine mögliche Spur hat, und wir haben nicht viele andere, die wir verfolgen könnten.«
»Eine hättet ihr noch«, sagte Jaime, und dann sah sie von ihrem Salat hoch und fing seinen Blick auf. »Dimensionsportalfischerei, eine Spezialität eurer nicht gerade überarbeiteten Nekromantin.«
Nach dem Essen wechselten wir das Hotel … wieder einmal. Weitere Besuche von Anita Barrington waren eine zusätzliche Komplikation, auf die wir wirklich verzichten konnten.