Fälschung
In einer Stadt wie Toronto, in der es meines Wissens nicht einmal eine Kabalenfiliale gab, ist die paranormale Gemeinschaft klein. Ich hatte mit Unterbrechungen zehn Jahre lang hier gelebt, nachdem ich zum Werwolf geworden war, und nie auch nur herausgefunden, dass sie existierte. Zoe erzählte, es gäbe nur einige wenige Magierfamilien, zwischen denen der Kontakt dementsprechend eng war – viele von ihnen kannten sich seit ihrer Geburt, so wie es bei Patrick Shanahan und Randall Tolliver der Fall war.
Obwohl Zoe behauptete, Tolliver viel besser zu kennen als Shanahan, wollte sie nicht viel über ihn sagen – ein weiterer Kunde, den sie schützte.
Es kostete uns einige Mühe, Tolliver aufzutreiben. Sein Büro kannte seinen genauen Terminplan entweder nicht, oder man wollte ihn nicht herausrücken, und so endete es damit, dass wir eine Reihe von Orten abgrasten, wo man an diesem Nachmittag mit ihm rechnete. Wir fuhren bei einem Block Sozialwohnungen und dann bei einem Aids-Hospiz vorbei, und beide Male teilte man uns mit, dass er schon wieder weg war.
Die beiden Orte gaben mir eine ziemlich klare Vorstellung davon, wie Tolliver sich seinen Lebensunterhalt verdiente. Auch er war Investment-Spezialist … die Sorte, die billigen Wohnraum aufkauft, als kaum bewohnbare Unterkünfte vermietet und dafür die Fördergelder der Regierung einsteckt. Typisch Magier eben.
»Lasst uns bei ihm im Büro vorbeischauen«, sagte Zoe. »Vielleicht kann ich die Sekretärin so weit becircen, dass sie ihn anruft.«
Clay warf mir einen Blick zu, der um eine aktivere Rolle bat als die, im Schlepptau von Zoe quer durch die Stadt zu traben.
»Wie wär’s, wenn wir uns wieder treffen, sobald du ihn aufgetrieben hast?«, fragte ich. »Wir können inzwischen noch was erledigen.«
»Erin?«, sagte Anita, als wir ihre Buchhandlung betraten.
Das Mädchen erschien hinter einem Regal, wo es Bücher ausgepackt hatte.
»Kannst du ein paar Minuten den Laden hüten? Wir sind hinten.«
Anita winkte uns durch den Perlenvorhang in ihr Büro.
»Wenn ein Kunde reinkommt, müssen wir raus auf den Hof, wenn wir nicht gehört werden wollen, aber es ist nicht sehr wahrscheinlich. Seit Mittag ist keiner gekommen. Jetzt rufen sie wegen Amuletten und so weiter nur noch an – trauen sich nicht mehr, aus dem Haus zu gehen. Absoluter Blödsinn natürlich, wie damals, als sie bei dem Ausbruch von SARS alle mit einem Mundschutz rumgelaufen sind.«
»Du hast gesagt, du hast mehr Informationen für uns?«, fragte Clay.
Ich widerstand der Versuchung, einen wütenden Blick in seine Richtung zu werfen. Ich hatte den Verdacht, es kam nicht drauf an, wie unhöflich Clay war – Anita würde zum Thema kommen, wenn es ihr passte.
Erst ließ sie Clay drei Klappstühle aufstellen. Dann stellte sie Wasser und Kekse auf einer Bücherkiste bereit und bestand darauf, dass ich wenigstens etwas Wasser trank, um der Dehydrierung vorzubeugen.
Schließlich setzte sie sich auf den dritten Stuhl. »Ich habe eine Jack-the-Ripper-Geschichte gefunden, in der tatsächlich ein Portal vorkommt, obwohl der From-Hell-Brief nicht erwähnt wird.«
Die Story schien eine ausgeschmückte Version der Theorie zu sein, dass ein Halbdämon einen Handel mit seinem Vater abgeschlossen hatte. In dieser Variante hatte der Mörder seine Verpflichtungen seinem dämonischen Vater gegenüber noch nicht vollständig erfüllt, als er von einigen Magiern erwischt und in einem Dimensionsportal eingesperrt worden war.
»Die Legende nach haben die Magier den Schlüssel zum Portal verloren. Er ist noch irgendwo, wartet darauf, versehentlich ausgelöst zu werden, und dann wird das Ungeheuer wieder auf die Welt losgelassen – zum Wahnsinn getrieben nach seiner langen Gefangenschaft und getrieben von dem Bedürfnis, seine unheilvollen Pflichten zu erfüllen.« Anita grinste; ihre Augen funkelten. »Hört sich ein bisschen wie eine Lagerfeuergeschichte an, stimmt’s? Etwas, mit dem unsere Kinder ihren paranormalen Freunden Angst machen können.«
»Tut es auch. Aber ich nehme an, es steckt doch irgendwo ein Körnchen Wahrheit darin …«
»Aber der Teil, in dem die Magier die Welt vor dem Bösen retten, ist es wohl eher nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht gerade nett von mir, aber ich glaube, sie hätten lieber verhandelt, um ihren Teil von der dämonischen Gabe abzubekommen.«
Wir redeten noch ein paar Minuten lang über die Geschichte, dann erkundigte Anita sich nach unseren Fortschritten, und ich brachte sie auf den neuesten Stand. Als ich ihr von Hull erzählte, wurden ihre Augen weit.
»Er ist durch das Portal gekommen?«
»Na ja, das sagt er jedenfalls. Aber er ist kein Zombie, also bezweifle ich …«
»Oh, aber das beweist gar nichts. Nur diejenigen, die zuvor geopfert wurden, kommen als Zombies heraus. Wenn sie am Leben waren, als sie reingeraten sind, werden sie als Lebende wieder herauskommen.«
»Wie in der Geschichte«, sagte ich. »Wenn Jack the Ripper in einem Dimensionsportal eingeschlossen wurde …«
Clay schnaubte. »Dieser Typ ist aber nicht Jack the Ripper.«
»Und woher willst du das wissen?«
»Es ist wirklich bloß eine Geschichte«, sagte Anita. »Im besten Fall könnte sie, wie du selbst gesagt hast, ein paar Körnchen einer verzerrten Wahrheit enthalten, wie das bei solchen überlieferten Legenden oft der Fall ist. Aber trotzdem, wenn dieser Mann aus dem viktorianischen London stammt …«
»Behauptet er«, sagte Clay.
»Aber wenn er es tut, würde ich mich gern mit ihm unterhalten. Der Reichtum an historischer Information in Verbindung mit diesen speziellen Umständen … es wäre paranormale Überlieferung aus erster Hand.«
Mein Handy klingelte.
»Zoe«, sagte ich. »Mit etwas Glück hat sie Tolliver gefunden.«
Sie hatte ihn gefunden. »Er ist in der Trinity Church. Seid ihr noch drüben am Yonge? Ich kann vorbeikommen und euch abholen.«
Ich erzählte ihr, wo wir waren. Ein Moment des Schweigens. Dann: »Na, das wäre ein ganz hübscher Umweg für mich. Wie wär’s, wenn wir uns einfach dort treffen?«
Dem Schild an der Außenmauer zufolge war die Church of the Holy Trinity im Jahre 1847 errichtet worden, in einer Gegend, die damals außerhalb von Toronto gelegen hatte. Wenn man sich umsah, war es kaum vorstellbar, dass dies jemals der Stadtrand gewesen war. Die kleine Kirche stand unmittelbar neben einem gigantischen Einkaufszentrum, dem Eaton Centre, womit sie sich heute mitten in der Innenstadt befand. Und als wäre es nicht ironisch genug gewesen, ein spirituelles Glaubenszentrum neben einem Tempel der Konsumgläubigkeit zu finden, diente die Kirche außerdem als Anlaufstelle für Wohnsitzlose.
Während wir auf Zoe warteten, las ich die Gedächtnistafel für verstorbene Wohnsitzlose, die neben der Tür angebracht war. Die Liste war voller John Does und Jane Does – Leute, deren wirkliche Namen nicht hatten ermittelt werden können, so dass sie nicht einmal auf ihrer eigenen Gedächtnistafel auftauchten.
Clay sah über meine Schulter, als Zoe sich näherte. Sie verspannte sich sichtlich; ihr Gesicht wurde starr.
»Was?«, fragte er.
»Na los. Sag’s schon.«
»Sag was?«
»Frag mich, wie viele von denen da« – eine Handbewegung zu der Liste hin – »auf mein Konto gehen.«
Clay warf mir einen »Hä?«-Blick zu, sagte aber nur: »Ich wollte eigentlich so was wie ›Hallo‹ sagen. Oder ›Wird langsam Zeit, dass du auftauchst‹.«
Zoe nickte mit offenkundiger Erleichterung. Ein paar von den Namen auf diesen Listen gehörten zweifellos zu ihren Opfern. Ein Vampir tötet nicht bei jeder Nahrungsaufnahme, muss aber ein Mal im Jahr ein Leben nehmen, um die eigene Unsterblichkeit zu erhalten. Die meisten Vampire suchen sich Leute aus wie diejenigen auf dieser Liste. Sich ein Opfer von der Straße zu suchen hält die weiteren Auswirkungen gering; es beeinträchtigt weniger Leben, als wenn man etwa eine vierfache Mutter aus einer gehobenen Wohngegend umbringt, und erregt weniger öffentliches Aufsehen. Trotzdem, so viel in einem Leben auch schiefgegangen sein mag, es ist immer noch ein Leben. Ich nehme an, auch Vampiren ist das bewusst, zumindest manchen von ihnen.
Als wir zur Kirchentür hinübergingen, fragte Clay: »Was stimmt also nicht mit Anita Barrington?«
Zoe zwinkerte verblüfft. »Warum? Was hat sie …«
»Als du gehört hast, wo wir sind, wolltest du plötzlich nicht mehr vorbeikommen«, sagte er.
»Nein, ich …« Sie unterbrach sich und überlegte es sich dann anders. »Ich bin mir sicher, mit Anita Barrington persönlich ist alles in Ordnung. Sie ist noch ziemlich neu hier, aber nach allem, was ich gehört habe, ist sie eine nette Frau. Es ist einfach … na ja, sie ist eine Unsterblichkeitssucherin.«
Zoe warf einen Blick auf unsere verständnislosen Gesichter. »Unsterblichkeitssucher sind …«
»Paranormale, die das Geheimnis der Unsterblichkeit zu ergründen versuchen«, sagte Clay. »Yeah, wir wissen Bescheid. Hatten vor ein paar Jahren mit einem Vampirpärchen zu tun, die das getrieben haben.«
»Edward und Natasha.« Zoe nickte und senkte dann die Stimme. »Na ja, sogar Vampire können davon angesteckt werden. Aber die Sucher, die selbst keine Vampire sind, entwickeln manchmal ein … etwas ungesundes Interesse an unserer Spezies. Den Quasi-Unsterblichen.«
»Dann hat Anita dich belästigt …«
»Nein, nein. Ich bin ihr nie begegnet. Aber ich habe vor Jahren mal eine … schlechte Erfahrung mit einem Unsterblichkeitssucher gemacht. Seitdem gehe ich ihnen aus dem Weg.«
Clay musterte ihr Gesicht und grunzte dann. »Gehen wir rein, bevor dieser Tolliver wieder abhaut.«
Wir stiegen die Vortreppe zu einer hohen, grün gestrichenen Doppeltür hinauf, die offen stand. Dahinter stießen wir auf einen Empfangsbereich, wo ein freiwilliger Helfer einen Tisch mit Führern und historischen Broschüren bewachte. Zu unserer Linken hing ein riesiges antikes Wappen in einem Rahmen über einer Reihe von Recyclingbehältern. An der rechten Wand sahen wir fleckige Gedächtnistafeln aus Messing und darunter ein Schwarzes Brett, das mit Flugblättern für Anti-Kriegs-Demonstrationen und Aids-Kliniken und mit Vermisstenanzeigen bedeckt war.
Zoe führte uns nach links in den eigentlichen Kirchenraum. Die Bankreihen waren so umarrangiert worden, dass sie auf drei Seiten einen in der Mitte stehenden Tisch umgaben. Über der westlichen Eingangstür hingen vielfarbige Transparente für soziale Gerechtigkeit, Frieden und kulturelle Vielfalt; unter ihnen schlief ein junger Mann auf einem grünen Sofa.
Zoe ging auf zwei Männer zu, die neben einer weiteren Tür standen und in ein Gespräch vertieft waren. Gerade da drehte sich der Jüngere von ihnen, der etwa Anfang vierzig zu sein schien, um und kam rasch den Mittelgang entlang. Er trug Jeans und ein T-Shirt des Metro Central YMCA, und er war mittelgroß und dunkelhäutig, mit einem kurzen Bart und einem geistesabwesenden Blick. In einer Hand trug er eine schwarze Tasche, die aussah wie ein altmodischer Arztkoffer.
Er hätte mich fast über den Haufen gerannt, als wäre ich aus dem Nichts aufgetaucht, und dann versuchte er mit einer gemurmelten Entschuldigung an mir vorbeizukommen.
»Randy!«, rief Zoe hinter ihm her.
Er blieb stehen und drehte sich um.
»Zoe?«
»Hey, Doc. Hast du einen Moment Zeit? Wir müssen mit dir reden.«
Ein verstohlener Blick auf die Uhr, dann ein weiterer auf Clay und mich, als kämpfte die Neugier gegen einen mörderischen Terminkalender an. Dann nickte er ohne ein Wort und winkte uns zu einem Gang an der östlichen Seite der Kirche hinüber. Wir stiegen ein paar Stufen hinunter und traten auf einen Hof hinaus.
Leuchtend rot und blau gestrichene Eisenstühle standen hier um einen kleinen Springbrunnen herum. Sie waren alle leer, aber Tolliver führte uns trotzdem bis zu einem Tisch auf der gegenüberliegenden Seite des Hofs hinüber, wo das Plätschern des Wassers unsere Unterhaltung übertönen würde.
»Also«, begann er. »Worum geht es?«
Ich erzählte ihm die Geschichte – oder jedenfalls eine Variante von ihr. Zoe hatte angeregt, den Teil mit unserem Diebstahl des Briefes wegzulassen. Es kam mir etwas scheinheilig vor, dass dies Tolliver stören sollte – immerhin nahm er Zoes Dienste oft genug in Anspruch, dass sie sich mit dem Vornamen anredeten. Trotzdem hatte sie uns geraten, es lieber so darzustellen, dass wir Delegierte des paranormalen Rates waren, die der Sache mit dem Portal nachgingen und es zu schließen versuchten.
Dass ich Shanahan verdächtigte, der Meister der beiden Zombies zu sein, verschwieg ich ebenfalls.
Als ich fertig war, sah Tolliver Zoe an.
»Du weißt, dass diese beiden Delegierte sind? Ganz sicher?«
Sie lachte. »Warum sollten sie sich sonst diese Portalsache ansehen wollen? Es ist nicht gerade die Art Beschäftigung, für die Leute sich freiwillig melden.«
»Ich kann mir da eine Gruppe vorstellen, die es täte, vor allem wenn sie dieses Portal selbst nutzen könnte.«
»Eine Kabale?« Zoe zeigte mit einer Handbewegung zu mir hin. »Sieht sie etwa aus wie ein Kabalenschläger?«
»Nein, sie würde sich wunderbar dafür eignen, uns davon zu überzeugen, dass sie nichts dergleichen ist. Es würde auch erklären, warum Patrick verschwunden ist. Wahrscheinlich haben sie ihn selbst in Gewahrsam genommen.«
»Yeah?«, sagte Clay. »Warum sollten wir dann nach ihm suchen? Das machen wir hier nämlich gerade. Versuchen ihn zu finden in der Hoffnung, dass er dieses Ding schließen kann.«
Tollivers Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. »Wenn ihr dem Rat angehört, verratet mir etwas. Wie heißt der Magierdelegierte?«
»Fangfrage«, murmelte Zoe.
»Nein«, sagte ich. »Wenn Dr. Tolliver über die aktuelle Zusammensetzung des Rates Bescheid weiß, ist es eine Fangfrage innerhalb einer Fangfrage. Es gibt keinen Magierdelegierten. Hat noch nie einen gegeben. Aber eine der Delegierten ist mit einem Magier verheiratet, der uns bei unserer Arbeit hilft, obwohl er sich an den politischen Aktivitäten nicht beteiligt.«
Tolliver erwiderte meinen Blick. »Kennst du ihn?«
»Natürlich. Und er kennt mich. Ruf ihn an und frag ihn, entweder nach uns oder nach dieser Ermittlung. Er weiß Bescheid und hat uns auch bei den Recherchen schon geholfen.«
Tolliver zögerte und nickte dann, aber das war alles. Ich hatte den Eindruck, dass er Lucas nicht gut genug kannte, um seine Telefonnummer zu haben, obwohl er sie über ein paar Anrufe vermutlich hätte herausfinden können. Ich nahm mir vor, mich bei Lucas nach Tolliver zu erkundigen. Shanahan hatte er nicht gekannt, aber die Wahrscheinlichkeit, dass er einen paranormalen Arzt kannte, war größer – und wenn es nur dem Namen nach wäre.
Schließlich stellte Tolliver seine Arzttasche auf dem Boden ab und entspannte sich etwas auf seinem Stuhl. »So viel kann ich euch sagen. Wer auch immer behauptet hat, Patricks Brief wäre für dieses Portal verantwortlich, hat sich geirrt.«
»Ah«, sagte Clay. »Dass das Portal sich an dem gleichen Abend geöffnet hat, an dem der Brief gestohlen wurde, und viktorianische Zombies und Cholera ausspuckt – das ist also Zufall?«
Tolliver zwinkerte verblüfft. »Das Portal ist für die Cholera verantwortlich?«
»Nee, alles bloß Zufall.«
Tolliver ignorierte ihn und wandte sich wieder an mich. »Gibt es da noch was?«
Ich zögerte und sagte dann: »Möglicherweise irgendwas mit diesen Ratten, aber da sind wir uns noch nicht sicher.«
Tolliver stieß einen leisen Fluch aus. »Typhus wahrscheinlich. Ich hab schon den ganzen Tag mit Rattenbissen zu tun.«
»Typhus? Welche Auswirkungen würde das haben?«
»Kann behandelt werden, wenn man’s früh genug erkennt. Die Leute weisen noch keine Symptome auf. Ich kriege bloß die Bisse vorgeführt, viel mehr als üblich. Der Typhus wird ein Problem werden, wenn es wirklich das ist, aber im Moment mache ich mir mehr Sorgen wegen infizierter Bisswunden. Die Ratten scheinen viel aggressiver zu sein als sonst.«
»Das haben wir auch rausgefunden. Und sie greifen sogar bei Tageslicht an. Liegt das an der Krankheit?«
»Ich weiß nicht genug über Typhus, um das beantworten zu können.« Er lehnte sich zurück. »Erst Cholera, jetzt das. Kein Wunder, dass ich so viel zu tun habe.«
Clay sah ihn an. »Dann ist es vielleicht doch keine so schlechte Idee, dieses Portal zu schließen.«
»Das habe ich auch nie behauptet. Von Cholera und Typhus mal ganz abgesehen, ich bin vollkommen überzeugt davon, dass es geschlossen werden sollte, aber ich bin nicht überzeugt, dass es euch irgendwas helfen wird, wenn ihr nach Patrick sucht. Ja, es ist sehr unwahrscheinlich, dass dies ein Zufall ist, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass der Brief verantwortlich ist. Der ist eine Fälschung.«
»Das mag ja sein«, sagte ich, »aber ob er jetzt von Jack the Ripper geschrieben wurde oder nicht …«
»Nein, ich meine damit, er ist kein echter Portalauslöser. Er ist gefälscht. Das hat Mr. Shanahan – Patricks Vater – immer gesagt.«
Als er uns ansah, musste er unsere Verwirrung bemerkt haben, denn er fuhr fort: »Geoffrey Shanahan hat zu den Leuten gehört, die betrunken am sympathischsten waren. Normalerweise hat er keine zwei Worte mit mir geredet, aber wenn er getrunken hatte, hat er gern geschwatzt, vor allem über die Sammlung seines Vaters. Er hat Pat und mich mit da reingenommen und uns die Geschichten zu den einzelnen Stücken erzählt, was sie angeblich bewirken sollten, wer sie als Fälschungen entlarvt hatte …«
»Fälschungen?«, unterbrach ich.
»Natürlich.« Wieder sah Tolliver uns an; dann sah er zu Zoe hinüber. »Du musst das doch gewusst haben, Zoe. Du hast diese Sammlung selbst um ein paar Stücke bereichert.«
Sie schüttelte den Kopf. »Theodore Shanahan hat den Auftrag erteilt, ich habe ihn ausgeführt. Oft genug habe ich kaum gewusst, was ich da eigentlich stehle.«
»Vielleicht gar nicht so überraschend. Er war ein arroganter alter Mistkerl. Wie so viele Leute, die ihr Geld mit zweifelhaften Geschäften gemacht haben. Wenn man sich benimmt, als wäre man schon mit einem Haufen Geld auf die Welt gekommen, fragt keiner nach, woher es kommt.«
»Dann ist es also eine Sammlung von … Fälschungen?« Ich sah Clay an und erinnerte mich plötzlich an die Akten, die wir in Shanahans Haus gefunden hatten, unsere Überzeugung, dass er seine Schätze klugerweise als Fälschungen dokumentiert hatte. »Paranormale Kuriositäten.«
Tolliver nickte. »Samt und sonders, einschließlich dieses Briefs. An die Details der Geschichte erinnere ich mich nicht, aber Patrick wird es in der Akte stehen haben.«
»Die Akte ist weg«, sagte Clay.
Tolliver nickte, als sei er weder überrascht noch empört, dass wir das Haus durchsucht hatten.
»Erinnern Sie sich an irgendwas darüber?«, fragte ich.
Er zögerte und schüttelte dann den Kopf. »Ich überleg’s mir noch eine Weile, aber dieses Stück hat mich nie interessiert. Und Jack the Ripper selbst auch nicht.« Ein kurzes Lachen. »Ich glaube, es hat mich schon als Kind empört, dass ein Arzt für all das verantwortlich gewesen sein soll. Patrick müsste mehr wissen. Der Brief war eins seiner Lieblingsstücke.«
»Womit wir wieder ganz am Anfang wären …«, sagte Clay.
»Patrick finden. Ich stimme euch zu, das Portal muss geschlossen werden, und zwar schnell. Und ich weiß zwar nicht, ob Patrick dabei eine große Hilfe sein kann, aber ich würde euch gern helfen, ihn aufzutreiben … wenn ich könnte.«
»Warum können Sie nicht?«, fragte ich.
»Weil Patrick und ich uns als Jungen zwar sehr nahegestanden haben, einander seit dem College aber kaum noch zu sehen bekommen. Er ruft hin und wieder mal an, um rauszufinden, ob ich zu Verstand gekommen bin und eine profitablere medizinische Laufbahn eingeschlagen habe … deren Erträge er für mich anlegen könnte. Wenn er dann hört, dass dem nicht so ist …« Tolliver zuckte die Achseln. »Ist das das Ende des Gesprächs, bis zur jährlichen Weihnachtskarte jedenfalls. Ich kann versuchen …«
Tollivers Handy klingelte. Er nahm das Gespräch an, und während er zuhörte, schloss er die Augen; er sah plötzlich sehr müde aus. »Sagen Sie ihnen, ich bin unterwegs«, sagte er und drückte die Austaste.
»Sie haben ein paar Fälle von Magen-Darm-Infektionen in einem Pflegeheim, für das ich zuständig bin, und machen sich Sorgen, es könnte die Cholera sein. Verdorbenes Essen wegen der Hitze halte ich für wahrscheinlicher, aber ich muss sofort hin und es mir ansehen. Wie gesagt, ich lasse mir das mit dem Brief und mit Patrick noch mal durch den Kopf gehen, vielleicht fällt mir irgendwas Hilfreiches ein.«
Ich holte einen Notizzettel heraus, schrieb meine Telefonnummer darauf und gab sie ihm. Er war aus dem Hof verschwunden, bevor ich auch nur vom Stuhl aufgestanden war.
Zoe ließ sich versprechen, dass wir anrufen und sie auf dem letzten Stand halten würden. Sie selbst würde in der Zwischenzeit versuchen, mehr über die Geschichte des Briefs herauszufinden.
Wir fünf gingen zum Abendessen, bevor wir uns mit Matthew Hull trafen. Jeremy hatte beschlossen, dass wir tatsächlich zu dem Treffen gehen würden – dass die möglichen Vorteile das Risiko aufwogen.
Wir fanden einen ruhigen Tisch in einem Restaurant. Es war nicht weiter schwer – dank der »Choleraepidemie« herrschte in den Restaurants wenig Betrieb. Die Stadt hatte das Trinkwasser noch nicht reinigen können. Man hatte alle nötigen Schritte unternommen – mehrmals –, aber das Problem blieb. So lange dieses Portal offen war, würde der Stadt auch die Cholera erhalten bleiben.
Während Jeremy und Antonio uns von ihren eigenen ergebnislosen Unternehmungen erzählten, warf Clay besorgte Blicke in meine Richtung, und ich stocherte in meinem Essen herum.
Als wir an der Reihe waren und ich Clay bat, ihnen zu erzählen, was wir herausgefunden hatten, beugte er sich zu mir herüber.
»Was ist los?«, murmelte er.
»Nichts.«
»Du hast das Essen kaum angerührt.«
»Es ist einfach die Hitze.«
»Du siehst blass aus«, sagte Jeremy. »Ich dachte, es ist die Beleuchtung hier, aber …«
»Ist es auch. Mir geht’s prima.«
»Wahrscheinlich bist du dehydriert«, sagte Antonio. »Trink deine Milch aus, wir bestellen dir noch ein Glas.«
Ich hob beide Hände. »Es reicht. Mit der Schwangeren ist alles in Ordnung. Ich habe nicht viel Hunger heute Abend, das ist alles.« Ich spürte, wie Clays Blick sich in mich hineinbohrte, und seufzte. »In Ordnung, ein bisschen müde vielleicht, aber auch nicht mehr als alle anderen. Es war ein ziemlich langer Tag.«
Clay stieß seinen Stuhl zurück und stand auf. »Komm. Ich bringe dich ins Hotel.«
»Bevor ich aufgegessen habe?«
Das ließ ihn innehalten, aber nur einen Moment lang. »Wir bestellen uns was aufs Zimmer.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ja, ich bin müde, von der Hitze wahrscheinlich, aber je früher wir das hier erledigt haben, desto früher kann ich zurück nach Hause und mich ausruhen – in meinem eigenen Bett. Jetzt setz dich wieder hin und erzähl allen anderen, was Randall Tolliver zu sagen hatte.« Ich sah zu ihm auf. »Bitte.«