Kontrolle

Ich fand ein Fenster und öffnete es einen Spalt weit, um es bei Bedarf aufreißen und hindurchspringen zu können. Ein Sprung aus dem ersten Stock ist für einen Werwolf kein Problem, aber ich legte keinen Wert darauf, es in hochschwangerem Zustand zu tun; solange ich die Wahl hatte, würde ich die Feuerleiter nehmen.

Nick hatte es kaum in sein Versteck geschafft, als Zoe und Hull um die Ecke kamen. Als sie den Durchgang entlanggingen, wurde Hull langsamer und hob den Kopf; ich sah, wie seine Nasenflügel sich blähten. Roses Gestank musste zwischen den Mauern noch in der Luft hängen. Aber nach einem Moment des Zögerns ging er weiter.

»Ich sollte anrufen«, hörte ich Zoe sagen. »Sie wissen lassen, dass wir unterwegs sind.«

Ein Schauer jagte an meinem Rückgrat entlang. Sie? O Gott, es waren also weitere Paranormale beteiligt. Natürlich – Zoe hatte schließlich ein Netz von Kontakten. Wahrscheinlich hatte sie ihm die Unterstützung weiterer Verbündeter versprochen, als er ihr die Beteiligung an seinem »Deal« angeboten hatte.

Bedeutete das, dass auch diese anderen bereits von meinen Babys wussten? Ich kämpfte die aufsteigende Panik nieder. Eins nach dem anderen.

Ich hatte Hulls Antwort nicht gehört, aber es musste wohl so etwas wie »Mach dir keine Mühe« gewesen sein, denn sie holte ihr Handy aus der Handtasche und schwenkte es ihm vor der Nase herum.

»Fabelhafte moderne Erfindung«, sagte sie. »Ich brauche nicht mal stehen zu bleiben. Es ist keine Mühe.«

»Glaubst du wirklich, sie brauchen im Augenblick eine Ablenkung? Warum hätten sie denn dann mich schicken sollen?«

Ihn schicken? Arbeitete Hull für jemand anderen?

Ich sah eine Gestalt am Ende des Durchgangs erscheinen. Der Bowlermann, der sich im Rücken der beiden näherte.

Zoe blieb stehen. »Das stimmt, aber warum haben sie überhaupt jemanden geschickt? Warum haben sie nicht einfach angerufen?«

Hull zuckte die Achseln. »Vielleicht konnten sie deine Zahl … deine Nummer nicht finden. Derlei erzählen sie mir nicht. Bitte, wir müssen uns beeilen.«

Als Zoe sich nicht von der Stelle rührte, seufzte Hull und drehte sich zu ihr um.

»Dies ist nicht gerade ein geeigneter Ort dafür, aber du wirst Schwierigkeiten machen, nicht wahr? Nichtsdestoweniger – ich kann die Gelegenheit nicht vorbeiziehen lassen, an den letzten Bestandteil meines Experiments zu kommen.«

Und jetzt begriff ich. Zoe glaubte, wir hätten sie durch Hull holen lassen. Warum sollte sie auch nicht? Bei unserer letzten Begegnung hatte Hull unter unserem Schutz gestanden.

Ich erinnerte mich, wie Tee zu Zoe gesagt hatte, sie sei in Gefahr.

Der letzte Bestandteil. Die Sache, von der Rose gesagt hatte, Hull habe sie beschaffen wollen.

Als ich das Fenster packte und aufriss, kam der Bowlermann in Sicht, ein riesiges Fleischermesser in der Hand.

»Zoe!«, brüllte ich.

Sie drehte sich um, als sie mich hörte, aber es war zu spät. Der Zombie holte aus, und das Messer jagte durch ihre Kehle. Sie taumelte; ihre Augen waren fassungslos. Dann stürzte sie.

Der Zombie riss das Messer aus ihrem Hals und sah sich um. Ich torkelte vom Fenster fort, außer Sichtweite, den Blick noch auf Zoe gerichtet. Sie lag auf dem Rücken, den Kopf beinahe abgetrennt und nur noch durch die Wirbelsäule gehalten. Meine Fingernägel gruben sich in meine Handflächen, als ich sie beobachtete und mit meinem ganzen Willen wünschte, das aufgerissene Fleisch würde sich wieder zusammenfügen. Es tat es nicht.

Der letzte Bestandteil eines Unsterblichkeitsexperiments. Ein quasi-unsterblicher Vampir.

»Sie können ebenso gut herauskommen, Mrs. Danvers«, rief Hull.

Ich brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass er damit mich meinte. Dann schob ich mich seitlich zum Fenster, wo ich hinausschauen konnte, ohne gesehen zu werden.

»Ich kann Sie mit einer Formel jederzeit finden«, fuhr er fort. »Kommen Sie lieber heraus, solange ich noch in so guter Stimmung bin.«

Ich antwortete nicht. Etwas wie Gereiztheit flackerte über Hulls Gesicht, aber er sprach keine Formel – vielleicht wollte er seine Kräfte aufsparen. Stattdessen gab er dem Zombie ein Zeichen, nach mir zu suchen. Ich ging meine Möglichkeiten durch. Ich konnte hinunterspringen, Hull überraschen und Nick den Zombie überlassen. Oder mir ein Fenster weiter unten am Durchgang suchen, mich davonschleichen, Nick auftreiben und mir mit ihm zusammen eine Strategie überlegen.

Der Zombie ging in Nicks Richtung. Fabelhaft. Ich brauchte nichts zu tun, als abzuwarten.

Nick warf sich auf den Zombie. Es war ein perfekt berechneter Satz, der den Mann umriss und ihm das Fleischermesser aus der Hand schlug. Als sie auf dem Boden aufkamen, packte Nick den Zombie an den Haaren und schmetterte ihm den Schädel auf den Boden.

Ich wollte mir die Ablenkung zunutze machen, aber der Bowlermann begann bereits zu zerfallen, und Hull hatte sich von der Überraschung erholt. Er hob die Hände, um eine Formel zu wirken.

Mein Mund öffnete sich; meine Hände griffen noch nach dem Fensterrahmen, um mich hindurchzuschwingen, als Hull die Formel sprach. Mein Blut wurde zu Eis in der Gewissheit, dass Hull eine tödliche Formel verwendet hatte und dass Nick …

Hulls Finger zuckten, und Nick stolperte nach hinten. Stolperte so, dass er stürzte, aber das war alles. Eine einfache Rückstoßformel.

Ich atmete so heftig aus, dass die Erleichterung mich fast nach vorn kippen ließ. Draußen hörte ich Hull sagen: »Wenn Sie aufzustehen versuchen, verwende ich als Nächstes eine Formel, die dafür sorgt, dass Sie liegen bleiben.«

Ich blieb, wo ich war. Hull würde Nick nicht töten. Seine Magie war alles, was er hatte, und eine tödliche Formel würde seine Kräfte erschöpfen.

Mein Blick fiel auf das Messer. Es lag etwa drei Meter entfernt in einem Müllhaufen. Hull ignorierte es – wahrscheinlich wusste er, wenn er es zu erreichen versuchte, würde Nick das Gleiche tun, und in einem Zweikampf würde Nick ihn töten, bevor er eine Formel wirken konnte.

»Wo ist sie?«, fragte Hull.

Nick stierte wortlos zurück.

Kies knirschte am Ende des Durchgangs. Hull drehte sich langsam um; sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.

»Ah …«, murmelte er. »Vielleicht brauche ich das Spürritual ja doch nicht.«

Wieder ein Knirschen; das Geräusch war immer noch so leise, dass es auch ein Versehen hätte sein können, jemand, der ungeduldig sein Gewicht verlagerte. Jaime, die Hulls Aufmerksamkeit von mir ablenkte.

Perfekt. Ohne seinen Zombiediener würde er sich wohl selbst auf die Suche nach »mir« machen müssen.

Aber er rührte sich nicht vom Fleck. Stattdessen hörte ich seine Stimme den Durchgang entlanghallen.

»Mrs. Danvers. Sie haben mein Angebot, Ihr Leben und das Ihres Gefährten zu verschonen, schon einmal ausgeschlagen. Ich hoffe, Sie werden jetzt etwas entgegenkommender sein.«

Nein, nein, nein! Ich bin am Ende des Durchgangs, hörst du mich nicht? Schlag Nick bewusstlos und such nach mir, ich bin ganz in der Nähe!

»Ich bin sicher, Sie können sehen, dass ich Ihren Freund hier habe. Aber das Angebot ist zeitlich begrenzt. Ich bin ein geduldiger Mann, aber ich habe schon sehr, sehr lang gewartet, und jetzt habe ich mein Ziel vor Augen. Ein Vampir zur Vollendung meines Experiments und die Möglichkeit, die letzten Vorbereitungen in Frieden zu finanzieren. Das würde die Geduld jedes Menschen strapazieren, meinen Sie nicht auch? Sie haben fünf Minuten. Danach werde ich Ihren Freund töten und mich auf die Suche nach Ihnen machen.«

»Elena«, sagte Nick; seine Stimme war ein leises Knurren. »Mach, dass du hier rauskommst.«

»Oh, hören Sie auf«, sagte Hull. »Glauben Sie wirklich …«

»Meine Entscheidung, Elena«, sagte Nick. »Weißt du noch? Ich treffe die selbst.«

Hulls Finger flogen in die Höhe; er wirkte, bevor ich mich auch nur bewegen konnte. Die Formel schleuderte Nick gegen die Ziegelmauer. Ein dumpfes Knacken, dann lag er still. Erst als ich sah, wie seine Brust sich hob und senkte, atmete ich selbst wieder.

Ich ballte die Fäuste und kämpfte gegen den Wunsch anzugreifen. Aber es gab nur eins, was ich jetzt tun konnte: mich Hull ausliefern, ihn von meiner Familie und meinen Freunden fortlocken, es zu einer Sache zwischen ihm und mir und meinen ungeborenen Kindern machen – und darum beten, dass ich das Blatt irgendwie wenden konnte, wenn er glaubte, gewonnen zu haben. Mir wurde kalt bei dem bloßen Gedanken, aber das war es, was ich zu tun hatte.

»Ich bin hier«, sagte ich.

Sein Blick glitt den Durchgang entlang und dann nach oben, in die Richtung, aus der meine Stimme gekommen war. Als er mich sah, lächelte er.

»Sehr gut. Ein erster Schritt. Jetzt kommen Sie heraus … langsam. Wenn Sie jemanden bei sich haben, erinnern Sie ihn bitte daran, dass ich nach wie vor Ihren Freund habe.«

Ich kletterte rückwärts zum Fenster hinaus, ließ mich hinunter, so weit es ging, und ließ mich dann fallen, wobei ich den Aufprall mit den Knien abzufedern versuchte.

Ein tiefer Atemzug, und ich drehte mich um.

»Ausgezeichnet«, sagte Hull. »Ich fürchte, unser Aufbruch wird sich noch etwas verzögern, weil wir warten müssen, bis mein Zombie sich von dem Portal wieder hierherbegeben hat. Etwas lästig, aber ich möchte meinen Vampir nicht hier liegen lassen, wo jeder ihn finden könnte.«

Wir warteten. Ich kämpfte gegen das Bedürfnis an, mir einen Plan auszudenken, die Verzögerung zu nutzen und die Sache zu Ende zu bringen. Ich durfte es nicht. Ich musste ihn von Nick und Jaime fortbringen.

Bei dem Gedanken an Jaime stahl mein Blick sich den Durchgang entlang. War sie noch da und sah hilflos zu? Oder war sie Verstärkung holen gegangen?

Ein Aufflackern von Hoffnung bei diesem Gedanken – aber dann fiel mir ein, dass ich gerade das ja nicht wollte. Ich hatte schon genug Leute auf dem Gewissen, die versucht hatten, Hull zu entkommen. Nur wir beide jetzt. Keine Verstärkung, keine Rettungsmission. Nur wir.

»Sie haben Anita Barrington umgebracht, stimmt’s?«, fragte ich. »Sie hat Sie an dem Mordschauplatz in diesem Durchgang gesehen und gemerkt, dass Sie ein Magier sind. Das war es, was sie mir sagen wollte. Aber Sie waren vor uns da.«

Hull lachte. »Ah, ja, die arme Hexe. Ja, sie hat mich als das erkannt, was ich bin … und mich angefleht, ihr zu helfen, mir versprochen, Sie mir auszuliefern, wenn ich ihr das Geheimnis der Unsterblichkeit verrate. Geweint über ihre arme Enkelin, die ganz allein sein würde ohne sie, aber in Wahrheit hat sie den Tod jeden Morgen im Spiegel gesehen und hätte alles getan, um ihn fernzuhalten.«

»Sie haben sie umgebracht. Nachdem Sie sie dazu gebracht haben, Shanahan zu beschuldigen.«

Rennende Schritte näherten sich aus der Ferne, bevor ich fertig war. Der Bowlermann? Ich schnupperte in der Luft herum, um mich zu vergewissern.

Nach seinem zweiten Tod ging es rapide abwärts. Er fiel noch nicht auseinander – immerhin konnte er laufen –, aber die Verwesung hatte bereits begonnen. Wenn man ihn ein drittes Mal umbrachte, würde der lebende Tod einsetzen wie bei Rose. Gut so.

Die Schritte wurden am Ende des Durchgangs langsamer. Hull öffnete den Mund, um zu rufen, gerade als der Zombie um die Ecke bog. Die Haut um Mund und Nasenlöcher herum war dunkel geworden, und der linke Arm schien mir eine Spur zu locker zu schwingen.

»Da bist du ja«, sagte Hull. »Etwas mitgenommen, aber das werden wir sehr bald behoben haben. Ich möchte, dass du dem Vampir ein paar Dinge entnimmst. Ich hoffe, du erinnerst dich an deine Anatomielektionen.« Hull lachte leise und sah zu mir herüber. »Wie haben sie ihn doch genannt? Ah, ja, Jack the Ripper. Ich bin mir sicher, er war ein unangenehmer Zeitgenosse. Aber ich habe Grund zur Dankbarkeit – wer er auch war, er war sehr hilfreich.«

Und deshalb also hatte ich nach dem Mord im Ripper-Stil keine dritte Spur gefunden – weil es keine gegeben hatte. Der Mörder war der Bowlermann gewesen, und er hatte sich an das Vorbild eines längst toten Killers gehalten.

Vor hundertzwanzig Jahren hatte Hull die Ripper-Panik dazu genutzt, seinen Brief sicher aufzubewahren. Jetzt hatte er sie wieder eingesetzt, um uns davon zu überzeugen, dass ich das Ziel des Mörders war und zusammen mit ihm selbst in Sicherheit gebracht werden musste.

Der Zombie war vor Hull zum Stehen gekommen; sein Kopf drehte sich unruhig. Stimmte etwas mit seinem Hals nicht? Er wirkte verwirrt und beinahe verloren, aber dann ging er zu dem Messer hin und hob es auf.

»Gut«, sagte Hull. »Sie liegt dort drüben, hinter dir.«

Der Zombie drehte sich um und sah auf Zoes Leiche hinunter, aber er runzelte die Stirn dabei, als verwirrte ihn der Anblick.

»Ja, das ist sie. Und jetzt …«

Der Zombie drehte sich wieder zu Hull um, die Stirn immer noch gerunzelt.

Hull stieß ein frustriertes Zischen aus. Und ich sah eine Bewegung am Ende des Durchgangs. Jaime, mit dem Rücken an die Mauer gelehnt – ich versuchte, ihr mit einer Handbewegung zu sagen, sie sollte wieder in Deckung gehen. Aber ihre Augen waren geschlossen – zusammengekniffen –, und ihr Gesicht war aschgrau und glänzte im Mondlicht. Sie konzentrierte sich – konzentrierte sich so sehr, dass ihr der Schweiß übers Gesicht lief.

Mein Blick flog zu dem Zombie zurück, der unschlüssig dastand, verwirrt von zwei widersprüchlichen Befehlen. Zwei verschiedenen Meistern.

Aber das war unmöglich. Alle Geschichten hatten besagt, dass kein Nekromant die Zombies eines anderen kontrollieren konnte.

Der Zombie stürzte sich auf Hull; das Messer fuhr hoch. Hull trat zurück, bereits mitten in der Formel, und sie galt dem Zombie. Ich war vergessen, Nick war vergessen – er schützte sein eigenes Leben.

Ich sah meine Gelegenheit … und wartete. Wenn ich jetzt eingriff, brauchte er nur die Richtung seiner Formel zu ändern. Die letzten Worte kamen aus seinem Mund, und der Zombie taumelte zurück; dann stürzte ich mich auf Hull.

Ich erwischte ihn an der Seite. Im Fallen versuchte ich seine Hände zu packen. Ich fand die Rechte, aber meine Finger verfehlten die Linke. Er wirkte eine Rückstoßformel, wohl das Beste, was er mit seinen reduzierten Kräften zustande brachte. Nichtsdestoweniger traf sie mich wie ein Schlag auf den Solarplexus. Unter normalen Umständen hätte ich deshalb nicht losgelassen, aber mein Hirn kreischte »Die Babys!«, und meine Hände schossen zu meinem Bauch hinunter.

Bevor ich Hull wieder packen konnte, war er aufgesprungen und zurückgewichen, hatte etwas Abstand zwischen uns gebracht, während er bereits die Hände hob und mit einer neuen Formel begann.

Der Bowlermann kämpfte sich auf die Füße, des Messer in der Hand. Hull sah von ihm zu mir, die Hände erhoben. Genug Kraft, um einen von uns zurückzuschlagen – aber welcher sollte es sein? Der messerschwingende Zombie oder der wütende Werwolf? Bevor der Zombie oder ich uns seine Unentschlossenheit zunutze machen konnte, hatte Hull seine Entscheidung getroffen … und war geflüchtet.