Frustration
Ich gab Zoe zehn Sekunden Vorsprung, während ich mich nach Clay umsah, und jagte dann hinter ihr her. Ich war eine überdurchschnittliche Läuferin, als Mensch ebenso wie als Wolf, und der Abstand verringerte sich schnell. Sie bog vom Pfad ab ins Unterholz, wo sie den Baumstämmen auswich und sich unter den Zweigen hindurchduckte, alles mit der Eleganz einer Turnerin.
Clay blieb auf dem Weg und außer Sicht; er rannte weiter, um Zoe den Weg abzuschneiden, falls sie mir entkommen sollte. Ich kam ihr so nahe, dass mir der Dreck ins Gesicht flog, den sie mit ihren Stiefeln aufwirbelte.
Aber sie stolperte oder strauchelte nicht ein einziges Mal, und ich fiel wieder hinter ihr zurück. Mein Bauch machte es mir fast unmöglich, scharfe Haken zu schlagen.
Eine Autohupe gellte, und meine Ohren schossen nach vorn. Das Rumpeln von Reifen, der Geruch von Abgasen, das schwache Schimmern von Straßenlaternen. Verdammt. Noch dreißig Meter, und wir würden den Park hinter uns lassen. Ich kam schlingernd zum Stehen, warf den Kopf zurück und heulte. Bevor der letzte Ton heraus war, hörte ich Clays antwortenden Ruf aus südwestlicher Richtung … und Zoe lief nach Süden. Er würde sie nicht mehr rechtzeitig abfangen können.
Ich setzte mich wieder in Bewegung, durchforschte im Rennen die Dunkelheit. Zoes T-Shirt blitzte weiter links im Dickicht auf, aber ich wusste ja schon, dass sie dort war. Was ich wollte, war – dort, im Südosten: eine offene Lichtung.
Ich flog vorwärts, aus Südwesten jetzt, näherte mich ihr von rechts, und wie jedes Wesen, das von einem Raubtier gejagt wird, änderte sie instinktiv ihre Richtung, fort von mir. Als sie den Rand der Lichtung erreichte, kauerte ich mich zusammen, zählte die Schritte zwischen uns, und dann … sprang ich.
Ich erwischte Zoe zwischen den Schulterblättern. Sie stolperte, und als sie stürzte, drehte sie sich im Fallen, so dass wir Auge in Auge landeten, ich über ihr.
Zoe sah auf und fing meinen Blick auf. Ihre Augen wurden weit vor Überraschung und … Entzücken. Ein kehliges Lachen.
»Das bist doch du, richtig?« Sie streichelte meinen Nackenpelz. Ich knurrte, aber sie lächelte nur. »Dieses Haar ist unverkennbar. Ich weiß nicht, wer schöner ist – die Frau oder die Wölfin.« Ihre Augen glitzerten. »Eine so tödlich wie die andere, möchte ich wetten.«
Sie vergrub die Finger in meinem Pelz. Ich schnappte. Sie lachte.
»Reizbar. Das Jagen macht mehr Spaß als das Fangen, stimmt’s?« Ein tückisches Grinsen. »Wir könnten es noch mal probieren. Diese Runde hast du gewonnen, also gebe ich dir, was du haben willst – erzähle dir, was ich über den Brief weiß. Aber wenn du vorher noch ein bisschen spielen willst, habe ich nichts dagegen.«
Ich hob den Kopf und sah mich nach Clay um. Zoe strich mit den Fingerspitzen durch den Pelz an meiner Kehle. Ich schnappte wieder.
»Komm schon, ich bin bloß neugierig. Ich habe noch nie einen Werwolf berührt. Die beiden Einzigen, die ich je getroffen habe, waren nicht von der Sorte, mit denen ich mich unterhalten wollte, vom Anfassen ganz zu schweigen.«
Sie legte den Kopf zurück, um besser sehen zu können. »Ein weiblicher Werwolf. Von der Sorte kann es nicht viele geben. Ein Jammer eigentlich. Frauen geben die besseren Beutegreifer ab, das habe ich schon immer gesagt. Oder jedenfalls die interessanteren.«
Sie redete einfach weiter. Dass ich nicht sprechen konnte, lieferte mir eine gute Entschuldigung dafür, mich an der Unterhaltung nicht zu beteiligen. Zoe schien es nicht weiter zu stören. Sie lag einfach dort auf dem Rücken mit einem Wolf über sich und schwatzte so gelassen, als säßen wir wieder bei einem Bier im Miller’s.
Etwa zehn Minuten, nachdem ich sie gestellt hatte, raschelten die Büsche. Clay erschien, in menschlicher Gestalt und in eine Trainingshose und ein viel zu großes T-Shirt gekleidet. Fundsachen von einer Wäscheleine.
»Hab dir was zum Anziehen mitgebracht, Darling«, sagte er. »Müsste passen, aber wahrscheinlich nicht sehr gut.«
Er legte die Sachen vor einem Gebüsch ab, hinter dem ich mich wandeln konnte. Beim Klang seiner Stimme war Zoe zusammengefahren. Dann sah sie zu ihm hinüber, und ihre Augen wurden schmal. Sie wandte sich wieder mir zu und sagte: »Ich glaube, wir können das unter uns abmachen, meinst du nicht auch?«
Clay setzte einen Fuß auf Zoes Brustbein. Ich ließ von ihr ab und trabte ins Gebüsch, um mich zu wandeln.
»Gott sei Dank«, sagte Zoe, als ich zurückkam. »Er hat nicht aufgehört zu reden, seit du weg warst.«
Sie warf einen wütenden Blick zu Clay hinauf, der genau so dastand, wie ich ihn zurückgelassen hatte, den Mund geschlossen, so wie er es wahrscheinlich die ganze Zeit gewesen war.
»Du kannst jetzt von mir runtergehen«, sagte sie.
Er nahm den Fuß weg und kam zu mir herüber; seine Hand streifte meine. »Ich sehe mich um und sorge dafür, dass wir keinen Besuch kriegen. Wenn du mich brauchst, schrei einfach nach mir.«
»Mache ich.«
Clay warf einen Blick auf Zoe, dann auf mich. »Viel Spaß, Darling.«
»›Dah-ling‹?«, äffte Zoe ihn nach, während er sich entfernte. Sie schauderte. »Bitte erzähl mir nicht, dass das Daddy Wolf ist.«
»Erzähl’s ihr nicht«, sagte Clay, ohne sich umzusehen. »Geht sie nichts an.«
Zoe verzog das Gesicht, während sie sich die Erde von den Kleidern klopfte. »Richtiger Ausbund an Südstaatencharme, was? Du könntest etwas so viel Besseres finden.« Ihr Blick fing meinen auf, und sie streckte sich wieder. »Nein? Sollen wir eine kleine Runde Fangen spielen, und ich probiere mal aus, ob ich dich umstimmen kann?«
»Wenn wir noch mal Fangen spielen, wird dir der Ausgang nicht gefallen. Wenn ein Werwolf jagt, erwartet der Wolf in ihm, dass er seine Beute auch töten darf. Mit einer frustrierenden Jagd kann man klarkommen. Mit zweien nicht.«
»Außer, die Beute kann gar nicht getötet werden.«
»Der Jäger kann’s immerhin probieren.«
Sie warf den Kopf zurück und lachte. »Touché. So reizvoll eine Jagd auch wäre, sie würde offensichtlich nicht die Sorte Frustration bei dir auslösen, die ich gern abbauen helfen würde. Ich gebe mich also geschlagen. Erzähl mir von diesem Brief, und wir werden sehen, an was ich mich erinnern kann.«
Ich tat es, wobei ich verschwieg, wie wir an den Brief gekommen waren, wie wir das Portal geöffnet hatten und dass wir nach wie vor im Besitz des Briefes waren; stattdessen konzentrierte ich mich auf die Ergebnisse und die wenigen Informationen, die wir bisher hatten.
Als ich fertig war, lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. »Der From-Hell-Brief? Ich weiß, ich sollte mich an mehr erinnern, aber …« Sie sah mich an und schüttelte den Kopf. »Mich an einen Auftrag erinnern, den ich vor achtzig Jahren erledigt habe, das ist nichts anderes, als würde man einen hundertjährigen Menschen nach einer beruflichen Aufgabe fragen, die er mit zwanzig erledigt hat. Der Brief war von historischer Bedeutung, ja, aber die Begleitumstände des Diebstahls waren offenbar so normal, dass ich kaum noch etwas weiß außer der Tatsache, dass ich diesen Auftrag tatsächlich ausgeführt habe.«
»Über dem ursprünglichen Aufbewahrungsort war eine Formel gewirkt worden. Weißt du das noch?«
Sie nickte. »Eine Formel, die verhindern sollte, dass der Brief – all diese Briefe – von irgendeinem lebenden Wesen gestohlen werden konnten. Ich nehme an, irgendwer in dieser Polizeieinheit war ein Magier und hatte die Formel gesprochen, um die Briefe zu schützen. Deshalb hat der Käufer ja mich angeheuert.«
»Dieser Käufer … weißt du noch, wer das war?«
»Natürlich. Er ist … oder war … einer meiner langjährigen Auftraggeber.«
Als sie nicht weitersprach, fragte ich: »Kannst du mir einen Namen nennen?«
Sie erwiderte meinen Blick. »Lieber wäre es mir, wenn du ihn nennst, dann kann ich es bestätigen oder verneinen.«
»Und mir wäre es lieber, du …«
»Sein Enkel gehört nach wie vor zu meinen Auftraggebern, und ich gebe keine Informationen über meine aktuellen oder ehemaligen Kunden heraus, wenn es nicht einen wirklich guten Grund dafür gibt. Zugegeben, ein Zombies speiendes Portal klingt nach einem guten Grund, aber wenn du den Brief hast, wie du sagst, dann kennst du den Namen des Enkels bereits.«
»Patrick Shanahan.«
Sie nickte. »Der ursprüngliche Käufer war sein Großvater Theodore.«
»Hat Shanahan den Diebstahl selbst in Auftrag gegeben?«
»Davon gehe ich aus.«
»Aber genau weißt du es nicht mehr.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Weißt du noch, ob dein Auftraggeber spezifisch diesen Brief wollte? Oder einfach irgendwas aus der Ripper-Akte?«
»Ich glaube, irgendwas … nein, vielleicht war …« Ein heftiges Kopfschütteln. »Da war noch irgendwas, aber ich komm nicht drauf.«
Als ich in Clays Richtung sah, sagte sie: »Du brauchst jetzt nicht den Schläger zu rufen, damit er es aus mir rausprügelt.«
»Das hatte ich …«
»Wenn du deinen Freund herholen willst, um dir seine Meinung über meine Aufrichtigkeit anzuhören, nur zu, aber ich habe keinen Grund zum Mauern. Du hast mich gerade darüber informiert, dass es in meiner Stadt ein offenes Dimensionsportal gibt, das Zombies ausspuckt. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht und habe auch nicht vor umzuziehen, also wäre es mir ganz lieb, wenn dieses Portal wieder geschlossen würde.«
»Das mag schon sein, aber ich bezweifle, dass Toronto im Begriff ist, in ein Dimensionsportal gesaugt zu werden, und die Zombies sind ja nicht hinter dir her.«
»Das liegt daran, dass wir uns noch nicht begegnet sind. Zombies mögen Vampire nicht. Neid, nehme ich an – zwei Sorten von Untoten, die eine fast unverwundbar, während die andere bei jedem Schluckauf Körperteile verliert. Ich habe keinerlei Anlass, dich über diesen Brief anzulügen. Lass mich drüber nachdenken, und ich bin mir sicher, mir fällt noch irgendwas ein.«
Ich machte mir nicht die Mühe, sie nach Shanahan zu fragen. Wenn sie wusste, wohin er verschwunden war, dann würde sie ihn wahrscheinlich eher warnen, als mir zu sagen, wo ich ihn finden konnte.
Ich gab ihr meine Handynummer.
»Ich habe also eine Telefonnummer«, sagte sie. »Nicht schlecht, aber es wäre nett, wenn man auch einen Namen dazu hätte.«
Als ich nicht reagierte, lachte sie und tätschelte mir den Arm.
»Macht nichts. Eine kleine Herausforderung vor der nächsten großen und ein gutes Gesprächsthema, wenn wir uns das nächste Mal begegnen.«
Sie drückte meinen Arm, warf einen raschen Blick zu Clay hinüber und schlenderte davon in die Nacht.
Clay verdrehte die Augen. »Vampire.«
Jeremy hatte weder Robert noch Jaime erreicht. Er hatte beiden eine Nachricht hinterlassen, aber noch nichts von ihnen gehört.
»Herrgott, ich hasse es, auf der Stelle zu treten«, sagte ich, als ich in unser Hotelzimmer stelzte. »Deswegen haben wir ja auch kein Laufband. Energie geopfert, kein Ziel erreicht. Frustrierend.«
Clay trat von hinten an mich heran und legte mir die Hände auf die Hüften. »Fast so frustrierend, wie zu jagen und nichts zu fangen.«
»Oder etwas zu fangen, das nichts dagegen hat, gejagt zu werden.«
Er lachte leise an meinem Hals. »Ich dachte, du magst es, willige Beute zu jagen.«
»Nur eine Sorte davon. Oder besser gesagt, nur ein bestimmtes Exemplar einer bestimmten Sorte.«
»Na ja, was, wenn das eine bestimmte Exemplar dir vorschlagen würde, dich angemessen für das entgangene Vergnügen zu entschädigen? Es ist noch nicht zu spät, um in den Park zurückzugehen. Wandeln, jagen und …« Er knabberte an meinem Ohrläppchen. »Tun, was du gern willst.«
Ich drückte mich gegen ihn, fühlte ihn hart werden und schauerte zusammen. »Das einzige Problem mit diesem Szenario, ich kann nicht tun, was ich gern will.«
Seine Hände glitten unter mein T-Shirt und an meinen Flanken hinauf.
»Vielleicht könnten wir es versuchen«, sagte ich. »Nur ein Mal noch. Vielleicht ein Stellungswechsel.« Ich beugte mich vor und stieß mich nach hinten. »Ich weiß, du magst es am liebsten mit Blickkontakt, aber in einer Notlage ginge es vielleicht …«
Ein leises Knurren. »In einer Notlage, ja, und wenn du wirklich willst …«
Ich schob mir die Hose über die Hüften nach unten und zog seine Hand zwischen meine Beine. »Fühlt es sich an, als ob ich wirklich wollte?«
Wieder ein Knurren, heftiger diesmal, während seine Finger in mich hineinglitten.
»Vielleicht, wenn ich einfach … anfange. Ein bisschen rumspiele«, sagte er. »Das kann ja keinen Schaden anrichten.«
»Absolut nicht.«
Ich streckte meine Hand nach hinten, öffnete seine Jeans und griff hinein. Als ich ihn hielt und die Hüften nach hinten streckte, ihm entgegen, schloss ich die Augen, stellte mir vor, wie er sich in mich hineinschob … und auf halber Strecke innehielt.
»Es wird nicht funktionieren, stimmt’s?«, fragte ich.
»Ich kann’s versuchen, aber …«
»Kommt nicht drauf an.« Ich sah ihn über die Schulter an. »Du kannst versuchen aufzuhören, aber sobald wir mal in Fahrt sind, werde ich alles tun, um den Rest auch noch zu kriegen.«
Er lachte leise. »Wie wäre es damit: zurück zu Plan A? Wir joggen zurück zum Park, dann eine private Jagd …«
»Wenn wir uns gewandelt haben, wird’s nur noch schlimmer werden. Die menschliche Seite ist immer noch offen für die Argumente des Verstands, aber die Wölfin weiß, was sie will.«
Ich beugte mich übers Bett, stützte mich mit einer Hand darauf ab und griff mit der anderen zwischen meine Beine. Ich fand ihn und zog ihn näher. Er verspannte sich.
»Keine Sorge«, sagte ich. »Ich bin brav. Ich reize bloß ein bisschen.«
Er ließ ein leises Knurren hören, als ich ihn streichelte, während er mich immer noch vorsichtig anstupste.
»Aber wen?«, fragte er. »Dich oder mich?«
Ich grinste. »Beide. Das ist am besten.«
Er schob sich vorwärts, einen Zentimeter weiter. Meine Lider begannen zu flattern, und ich drückte mich gegen ihn. Nur noch einen einzigen …
»Hören wir besser auf«, knurrte er.
Ich ließ die Hand an seinem Schaft hinaufgleiten, so dass meine Hand eine natürliche Barriere bildete, und streichelte ihn. So konnte er sich zwei, drei Zentimeter nach vorne schieben, eben weit genug, um mich zu teilen; es war so überwältigend, dass meine Finger sich ins Bett gruben, damit ich nicht das Gleichgewicht verlor.
Als es zu viel wurde und ich drauf und dran war, die Hand ganz zufällig abrutschen und ihn in mich hineingleiten zu lassen, ließ ich mich auf den Fußballen nach vorn kippen, beugte mich noch weiter über das Bett und schob sein Glied der Länge nach an mir entlang. Dann hielt ich ihn dort, dicht an mir, und ließ ihn stoßen.
Es dauerte bloß ein paar Minuten. Dann rutschte ich mit dem Gesicht nach unten aufs Bett und wälzte mich auf die Seite, als mein Bauch das Laken berührte. Er kroch hinter mir hinein, drückte sich an mich; sein Atem kitzelte mich am Hinterkopf.
»Wir werden einfallsreicher«, murmelte er.
Ich lachte etwas. »Bis dieses Baby da ist, kennen wir jeden Trick.«
Ich zog mir ein Kissen heran, zu träge zu allem anderen, schob es mir unter den Kopf und schloss die Augen. Ich war innerhalb weniger Minuten eingeschlafen.
Am nächsten Vormittag fuhren wir direkt zum Flughafen, um Antonio und Nick abzuholen, die beiden noch fehlenden Mitglieder des Rudels.
Mit fünf Mitgliedern war das Rudel kleiner, als es der Überlieferung nach jemals gewesen war. Dies wieder zu ändern war nicht so einfach, wie es vielleicht klingt. In der Vergangenheit waren die Rudel vorwiegend über natürliche Fortpflanzung gewachsen; die Werwölfe hatten Kinder gezeugt und sich die Söhne genommen, denn nur sie trugen das Werwolfgen in sich. In einem modernen Rudel mit modernen Ansichten und einem modernen Alpha würde es nicht vorkommen, dass Kinder ihren Müttern weggenommen wurden. Unter Jeremys Herrschaft hatten die Rudelwölfe zwei Möglichkeiten: eine Leihmutter – und dann würde das Kind angenommen werden, ganz gleich, welches Geschlecht es hatte – oder ein gemeinsames Sorgerecht mit der Mutter. Wenn ein Junge das Alter erreicht hatte, in dem er seine erste Wandlung durchmachte, war er im Collegealter und damit alt genug, diesen Teil seines Lebens vor seiner Mutter geheim zu halten.
Das Problem war, dass vor Clay und mir niemand im Rudel irgendeine Neigung dazu hatte erkennen lassen, Nachwuchs in die Welt zu setzen. Antonio begnügte sich mit einem einzigen Sohn, Nick, ebenso wie Jeremy es bei Clay tat. Logan oder Peter hätten vielleicht eines Tages Kinder gehabt, aber jetzt waren beide tot – umgekommen während eines Aufstands der Mutts vor fünf Jahren. Und was Nick anging, so erwartete niemand, dass er sich in absehbarer Zeit auf eine Vaterschaft einlassen würde – wenn überhaupt jemals. Clay und ich taten mittlerweile das Unsere, aber keiner von uns hatte irgendein Interesse daran, im Alleingang das Rudel zu vergrößern.
Die zweite mögliche Methode, Mitglieder zu finden, war Rekrutierung – die Aufnahme von Mutts, die willens waren, dem Rudel beizutreten und seine Gesetze zu befolgen. Auch dies hatte unter früheren Alphas besser funktioniert. Damals, in den Tagen, in denen die Rudelwölfe zum reinen Vergnügen Jagd auf Mutts gemacht hatten, hatte es niemals an Interessenten gefehlt, die sich um einen Platz im Rudel bemühten.
Unter Jeremy hingegen nahm sich das Rudel nur noch Menschenfresser vor, die mit Sicherheit nicht als Rudelmitglieder in Frage kamen, jedenfalls nicht, bevor sie sich sehr merklich gebessert hatten. Und die meisten Mutts, die Geschmack an der Jagd auf Menschen gefunden hatten, hatten keinerlei Interesse daran, sich zu »bessern«.
Bisher waren unsere wenigen Kandidaten enttäuschend ausgefallen. Ein heimlicher Menschenfresser, der gehofft hatte, sich vor uns verstecken zu können, indem er sich uns anschloss. Ein hoffnungsvoller Dreckskerl, der sich überlegt hatte, dass der gemeinschaftliche Lebensstil des Rudels möglicherweise auch ein gemeinschaftliches Anrecht auf Sex mit der einzigen Werwölfin einschloss. Und ein pathologischer Spieler, der gehofft hatte, die wohlhabenden Rudelfamilien würden sich seine Loyalität erkaufen, indem sie seine Gläubiger auszahlten.
Marsten schien es jetzt endlich ernst zu meinen und sich dem Rudel anschließen zu wollen. Somit war es wahrscheinlich, dass unsere Anzahl auf sechs anwachsen würde. Aber vorläufig betrachtete niemand ihn als vollwertiges Rudelmitglied, und somit hatte auch niemand vorgeschlagen, ihn wie Nick und Antonio nach Toronto zu holen.
Also waren wir bis auf weiteres zu fünft.
Ich entdeckte Antonio und Nick als Erste und lief auf sie zu, so schnell ich eben watscheln konnte. Umarmungen, Küsse und Schulterklopfer folgten, und ich bin mir sicher, wer uns sah, musste davon ausgehen, dass wir uns seit Jahren nicht gesehen hatten, während es in Wirklichkeit nur ein paar Wochen waren.
Antonio war seit ihrer gemeinsamen Kindheit Jeremys bester Freund gewesen, und auch Nick und Clay waren alte Freunde. Beide Sorrentinos waren dunkelhaarig und dunkeläugig. Nick war einen halben Kopf größer als sein Vater und besaß die gepflegte Attraktivität eines Mannes, der den Standpunkt vertritt, Friseursalons, Modemagazine und Hautcreme bräuchten nicht dem weiblichen Geschlecht vorbehalten zu sein, wenn ihm auch Gesichtsbehandlungen und Maniküren etwas zu weit gehen mochten.
Unter normalen Umständen hätte Nick mich hochgerissen und geküsst, auf eine Art, die wirklich nicht mehr unter brüderlich lief. Heute allerdings ließ er es bei einer Umarmung und einem kurzen Kuss auf die Lippen bewenden.
»Bin ich zu schwer zum Hochheben?«, fragte ich.
Er lächelte. »Nein, ich bin bloß ein bisschen vorsichtig, was ich in der Öffentlichkeit mit einer schwangeren Frau anstelle.« Er beugte sich zu meinem Ohr herunter. »Warte noch etwas, nachher mache ich’s wieder gut.«
»Das habe ich gehört«, sagte Clay.
Nick grinste. »Natürlich hast du. Und sehen darfst du es auch, wenn du willst. Und vielleicht noch was lernen.«
Clay murmelte irgendetwas dazu, und Nick drehte sich um, um zu antworten, aber sein Blick blieb an meinem Bauch hängen. Ein Ausdruck glitt über sein Gesicht hinweg, als wäre er sich immer noch nicht ganz sicher, was das war, woher es gekommen war und, wichtiger als alles andere, was es bedeuten würde.
Ich griff nach seiner Hand und drückte sie. Unsere Blicke trafen sich, und ich lächelte ihn an. Er beugte sich zu mir herunter, um mich noch einmal zu küssen, und ich legte die Hände um seine unrasierten Wangen.
»Zum Rasieren hat es wohl nicht mehr gereicht?«, zog ich ihn auf.
»Ich lasse mir einen Bart wachsen.« Er legte den Kopf schief und warf sich in Pose. »Was meinst du?«
»Sexy. Und das Grau gibt dir einen hübschen distinguierten Zug.«
»Grau?« Seine Hände schossen zu seinem Gesicht hinauf.
Hinter mir begann Antonio zu lachen; dann packte er mich in einer Umarmung, die mich diesmal wirklich vom Boden hochriss. »Dir ist klar, dass er jetzt den Rest des Tages vor dem Spiegel verbringen und nach dem Grau suchen wird?«
»Ich finde es wirklich sexy«, sagte ich.
Nick drehte sich zu Clay um.
»Nein«, sagte Clay. »Du leihst dir meinen Rasierer nicht aus. Du hast’s wachsen lassen, du kannst es auch wieder loswerden.«
»Bloß um Ärger zu machen«, murmelte Antonio mir zu.
Er küsste mich auf die Wange und trat zurück, um mich besser mustern zu können. Er war der kleinste Angehörige des Rudels, fünf Zentimeter kleiner als ich mit meinen eins achtundsiebzig, und nach wie vor der muskulöseste und kräftigste. Er und Nick hatten sich Außenstehenden gegenüber als Brüder ausgegeben, seit ich sie kannte. Antonio war ein Teenager gewesen, als Nick geboren worden war, und hinzu kam noch, dass Werwölfe langsam altern und dass Antonio einen gesunden Lebensstil pflegte – die Zeiten, als sie auch nur als Vater und Sohn hätten durchgehen können, lagen Jahrzehnte zurück.
»Du wirst von Mal zu Mal schöner«, sagte Antonio. »Schwanger sein steht dir.«
Ich verzog das Gesicht. »Ich bin so dick. Ich gehe mit jeder Stunde in die Breite.«
»Du bist schwanger. Niemand erwartet, dass du dünner wirst.« Antonio wandte sich an die anderen, den Arm immer noch um mich gelegt. »Ich habe gehört, ihr habt ein kleines Abenteuer für uns?«