Erstes Kapitel

Es ist erst eine halbe Stunde her, seit jemand – ich glaube, es war Robyn – sagte, wir sollten alles aufschreiben, und es ist erst neunundzwanzig Minuten her, seit ich gewählt wurde, und während dieser neunundzwanzig Minuten drängten sich alle um mich, starrten die leere Seite an und schrien Ideen und Ratschläge. Gebt endlich Ruhe, Leute! Ich werde es nie schaffen. Ich habe keine Ahnung, wo ich anfangen soll, und bei dem Geschrei kann ich mich nicht konzentrieren.

Okay, so ist es besser. Ich habe ihnen erklärt, dass sie mich in Ruhe lassen sollen, und Homer hat mich unterstützt. Jetzt sind sie endlich fort und ich kann wieder klar denken.

Ich weiß nicht, ob ich es überhaupt tun kann – ich sage es lieber gleich. Ich weiß, warum sie mich gewählt haben. Weil ich angeblich am besten schreiben kann. Aber für das hier braucht es ein bisschen mehr, als einfach schreiben zu können. Kleinigkeiten können einem im Weg stehen. Kleinigkeiten wie Empfindungen, Gefühle.

Aber damit werden wir uns später befassen. Vielleicht. Wir müssen abwarten.

Ich sitze jetzt unten am Bach auf einem umgestürzten Baum. Einem schönen Baum. Kein verfaulter, alter Baum, den boshafte kleine Maden angefressen haben, sondern ein junger mit glattem, rötlichem Stamm und die Blätter sind zum Teil noch grün. Schwer zu sagen, warum er umgestürzt ist – er sieht so gesund aus –, aber vielleicht ist er zu nahe am Bach gewachsen. Es tut gut, hier zu sitzen. Der Weiher ist nur etwa zehn mal drei Meter groß, aber überraschend tief – in der Mitte reicht einem das Wasser bis zur Taille. Die Insekten erzeugen kleine, konzentrische Wellen, weil sie das Wasser berühren, wenn sie über die Oberfläche gleiten. Ich möchte wissen, wo und wann sie schlafen. Ich möchte wissen, ob sie die Augen schließen, wenn sie schlafen. Ich möchte wissen, wie sie heißen. Eifrige, schlaflose, unbekannte Insekten.

Um ehrlich zu sein: Ich schreibe nur über den Weiher, damit ich nicht tun muss, was ich tun soll. Wie Chris; der findet immer einen Weg, Dinge zu umgehen, die er nicht tun will. Ihr seht: Ich verschweige nichts. Ich habe sie gewarnt, dass ich nichts verschweigen werde.

Hoffentlich macht es Chris nichts aus, dass sie mich und nicht ihn gewählt haben, denn er kann wirklich schreiben. Er hat ein wenig verletzt, sogar ein wenig neidisch ausgesehen. Aber er war nicht von Anfang an dabei, also wäre es nicht gegangen.

Ich sollte lieber in den sauren Apfel statt mich auf die Zunge beißen. Man kann es nur auf eine einzige Art tun, und zwar, indem man alles der Reihe nach erzählt. Ich weiß, dass es für uns wichtig ist, es niederzuschreiben. Deshalb waren wir alle so aufgeregt, als Robyn diesen Vorschlag machte. Es ist schrecklich, schrecklich wichtig. Indem wir mit Worten auf Papier aufzeichnen, was wir getan haben, sagen wir uns, dass wir etwas bedeuten, dass wir wichtig sind. Dass die Dinge, die wir getan haben, einen Unterschied machen. Ich weiß nicht, wie groß dieser Unterschied ist, aber es ist ein Unterschied. Es niederzuschreiben bedeutet, dass man sich vielleicht an uns erinnern wird. Und das ist weiß Gott wichtig für uns. Keiner von uns will als ein Haufen toter, weißer Knochen enden, unbeachtet und unbekannt. Und am schlimmsten wäre es, wenn niemand wüsste, welche Risiken wir eingegangen sind, und wenn keiner es würdigte.

Dabei fällt mir ein, dass ich das hier wie ein Geschichtsbuch schreiben sollte, sehr ernsthaft und unpersönlich. Aber das kann ich nicht. Jeder hat seine eigene Art und das ist eben meine. Wenn sie meine Art nicht mögen, müssen sie sich jemand anderen suchen.

Okay, dann fange ich also an.

Das Ganze begann, als ... Diese Worte sind komisch. Jeder verwendet sie, ohne darüber nachzudenken, was sie bedeuten. Wann beginnt etwas? Für jeden beginnt es, wenn er geboren wird. Oder vorher, als seine Eltern heirateten. Oder vorher, als seine Eltern geboren wurden. Oder als unsere Vorfahren die Gegend kolonisierten. Oder als die Menschen aus dem Schlamm und dem Schmutz platschten, ihre Flossen und Finnen abwarfen und zu gehen begannen. Aber abgesehen von all dem war das, was uns hier widerfuhr, ein eindeutiger Anfang.

Also: Das Ganze begann, als Corrie und ich sagten, wir wollten in den Busch und während der Weihnachtsferien einige Tage wie Wilde leben. Es war eine dieser idiotischen Ideen: »Wäre es nicht großartig, wenn ...« Wir hatten schon oft im Freien gecampt, schon als Kinder, hatten die Motorräder mit der Ausrüstung beladen, waren dann zum Fluss hinuntergegangen, hatten unter den Sternen geschlafen oder in den kalten Nächten ein Stück Segeltuch zwischen zwei Bäume gespannt. Wir waren also daran gewöhnt. Manchmal kam eine andere Freundin mit, für gewöhnlich Robyn oder Fi. Niemals Jungs. In diesem Alter findet man, dass Jungen so viel Persönlichkeit wie Kleiderhaken haben, und man beachtet ihre Blicke nicht.

Dann wird man erwachsen.

Ich kann es kaum glauben, dass wir erst vor einigen Wochen vor dem Fernsehapparat herumlungerten, uns irgendeinen Schund ansahen und über die Ferien redeten. »Wir sind seit Ewigkeiten nicht mehr unten am Fluss gewesen«, sagte Corrie. »Lass uns dort hingehen.«

»Okay. Fragen wir Dad, ob wir den Landrover haben können.«

»Okay. Fragen wir Kevin und Homer, ob sie mitkommen wollen.«

»Ach ja, Jungs! Aber das wird man uns nie erlauben.«

»Vielleicht doch. Es ist einen Versuch wert.«

»Wenn wir den Landrover bekommen, könnten wir weiter fahren. Wäre es nicht großartig, wenn wir direkt bis zum Tailor und in die Hölle fahren könnten.«

»Okay, fragen wir.«

Der Tailor, Tailors Stitch, ist eine lange Linie. Ein Bergkamm, der vollkommen gerade vom Mount Martin bis zum Wombegonoo verläuft. Er ist felsig und stellenweise sehr schmal und steil, aber man kann ihn entlanggehen und er bietet auch ein wenig Deckung. Die Aussicht ist fantastisch. An einer Stelle in der Nähe des Mount Martin kann man auf einem beinahe zugewachsenen Weg für den Transport von Holzstämmen fast bis ganz hinauf fahren. Die Hölle liegt auf der anderen Seite des Tailors, ein großer Kessel mit Felsbrocken, Bäumen, Brombeerhecken, wilden Hunden, Wombats und Unterholz. Sie ist eine echte Wildnis und ich kenne niemanden, der dort gewesen ist, obwohl ich oft an ihrem Rand gestanden und hinuntergeschaut habe. Ich sah keine Möglichkeit hineinzugelangen. Die Felsen um den Kessel sind sensationell und an manchen Stellen Hunderte Meter hoch. Eine Reihe von kleineren Felsen, die Satansstufen, führen angeblich hinein, aber wenn das Stufen sind, dann ist die Chinesische Mauer unser Gartenzaun. Doch wenn es einen Zugang gab, mussten diese Felsen der Weg sein und ich wollte es immer schon versuchen. Die Einheimischen erzählen Geschichten über den Einsiedler in der Hölle, einen Ex-Mörder, der angeblich jahrelang dort gelebt hat. Er soll seine Frau und sein Kind getötet haben. Ich hätte gern an seine Existenz geglaubt, doch es fiel mir schwer. Mein Verstand stellte mir immer wieder lästige Fragen, wie: »Wieso wurde er nicht gehängt, wie man es damals mit Mördern machte?« Aber es war eine gute Geschichte und ich hoffte, dass sie wahr war; nicht der Teil mit dem Mörder, sondern der mit dem Einsiedler.

Jedenfalls war der ganze Ausflug davon ausgegangen. Wir hatten leichtfertig beschlossen ihn zu unternehmen und standen sofort vor einem Haufen Schwerarbeit. Die erste Aufgabe war, unsere Mütter und Väter zu überreden uns gehen zu lassen. Es ist nicht so, dass sie uns nicht vertrauen, aber wie Dad meinte: »Es ist eine ganz schön große Bitte.« Sie sagten lange Zeit nicht Nein, sondern versuchten stattdessen uns zu etwas anderem zu überreden. Ich glaube, dass es die meisten Eltern so machen. Sie wollen nicht streiten, deshalb schlagen sie Alternativen vor, zu denen sie Ja sagen können, und hoffen, dass auch wir Ja dazu sagen werden. »Ihr könnt doch wieder mal den Fluss hinunterfahren.« – »Ihr könnt statt der Jungs ja Robyn und Meriam mitnehmen.« – »Ihr könnt doch einfach die Fahrräder nehmen. Oder sogar Pferde. Macht doch eine richtig altmodische Campingtour. Das wäre lustig.«

Mum findet es lustig, für die Abteilung Eingekochtes der Wirrawee-Landwirtschaftsmesse Marmelade zu machen, also ist sie kaum eine Autorität auf diesem Gebiet. Ich komme mir ein wenig komisch vor, wenn ich so etwas hinschreibe und dabei daran denke, was wir alle durchgemacht haben, aber ich werde ehrlich bleiben und nicht gefühlsduselig werden.

Wir kamen schließlich zu einer Einigung, die gar nicht so schlecht war, wenn man es recht bedenkt. Wir durften den Landrover nehmen, aber ich war die Einzige, die ihn fahren durfte, obwohl Kevin bereits einen Führerschein hat und ich nicht. Dad weiß, dass ich eine gute Fahrerin bin. Wir durften auf den Tailors Stitch hinauffahren. Wir durften die Jungs einladen, aber dann musste die Gruppe größer sein: mindestens sechs und höchstens acht. Denn Mum und Dad nahmen an, dass bei einer größeren Teilnehmerzahl die Chance für eine Orgie geringer wäre. Sie gaben natürlich nicht zu, dass das der Grund war – sie behaupteten, es hinge mit der Sicherheit zusammen –, aber ich kenne sie zu gut.

Und ich habe bewusst kenne und nicht kannte geschrieben – ich möchte nicht, dass das verwechselt wird.

Wir mussten versprechen, weder Alkohol noch Zigaretten mitzunehmen, und wir mussten versprechen, dass die Jungs es auch nicht tun würden. Ich frage mich immer wieder, warum die Erwachsenen das Erwachsenwerden zu einem so komplizierten Vorgang machen. Sie erwarten, dass wir ständig eine Gelegenheit suchen, etwas Verrücktes anzustellen. Manchmal bringen sie uns sogar auf eine Idee. Wir hätten von uns aus weder Alkohol noch Zigaretten mitgenommen. Auch weil sie zu teuer sind – nach Weihnachten waren wir ohnehin alle pleite. Das Komische daran ist, dass wir nie etwas Verrücktes anstellten, wenn unsere Eltern es von uns dachten, und dass wir für gewöhnlich etwas im Schilde führten, wenn sie uns für unschuldig hielten. Sie kümmerten sich zum Beispiel nie um die Proben für die Theateraufführung der Schule, doch ich war dabei die ganze Zeit mit Steve zusammen; wir öffneten einander gegenseitig alle Knöpfe und Schnallen und schlossen sie fieberhaft wieder, wenn Mr Kassar zu brüllen anfing: »Steve, Ellie! Sind die schon wieder dabei? Ich brauche ein Brecheisen!«

Ein sehr humorvoller Mann, dieser Mr Kassar.

Schließlich hatten wir eine Liste von acht Personen zusammengestellt – uns inbegriffen. Elliot luden wir nicht ein, weil er so faul ist, und Meriam auch nicht, weil sie bei Fis Eltern Arbeitspraxis machte. Fünf Minuten nachdem wir die Liste zusammengestellt hatten, erschien Chris Lang – einer der Jungs von der Liste – mit seinem Vater bei uns. Wir fragten sofort. Mr Lang ist sehr groß und trägt immer eine Krawatte, ganz gleich, wo er ist und was er tut. Ich finde ihn schwerfällig und ernst. Chris behauptet, dass sein Vater seit seiner Geburt auf dem Pfad der Tugend wandelt, was ihn genau beschreibt. Wenn sein Vater in der Nähe ist, verhält Chris sich sehr ruhig. Wir fragten ihn, während sie an unserem Küchentisch saßen und Mums Dattel-Teegebäck verschlangen: doch gleich sein erster Satz haute uns um. Es stellte sich heraus, dass Mr und Mrs Lang eine Überseereise unternahmen, und obwohl sie einen Arbeiter hatten, musste Chris zu Hause bleiben und ein Auge auf das Ganze haben. Das war ein schlechter Anfang für unsere Pläne.

Am nächsten Tag stieg ich dennoch aufs Fahrrad und fuhr durch die Koppeln zu Homer. Normalerweise fahre ich auf der Straße, aber Mum war wegen des neuen Polizisten in Wirrawee etwas besorgt, denn er hatte überall Strafzettel verteilt. In seiner ersten Woche in der Stadt hatte er der Frau des Richters einen Strafzettel verpasst, weil sie nicht angeschnallt war. Jetzt waren alle vorsichtig, bis der Kerl gezähmt war.

Ich fand Homer unten am Bach, wo er ein Ventil musterte, das er gereinigt hatte. Als ich ankam, hielt er es gerade hoch und überprüfte optimistisch, ob es tropfte. »Sieh dir das an«, sagte er, als ich abstieg. »Dicht wie eine Trommel.«

»Was war das Problem?«

»Weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass es vor drei Minuten noch leck war und es jetzt nicht mehr ist. Das genügt mir.« Ich griff nach dem Rohr und hielt es fest, während er das Ventil wieder einschraubte. »Ich hasse Pumpen«, sagte er. »Wenn Papa abkratzt, werde ich in allen Koppeln Dämme bauen.«

»Gut. Du kannst mein Erdbewegungsunternehmen dafür anheuern.«

»Ach, ist das deine neueste Idee?« Er drückte auf die Muskeln an meinem rechten Oberarm. »Wenn du so weitermachst, wirst du die Dämme händisch bauen.« Ich versetzte ihm einen plötzlichen Stoß, um ihn in den Bach zu werfen, aber er war zu stark. Ich sah zu, wie er das Rohr voll pumpte, und half ihm dann Eimer zur Pumpe hinaufzutragen, um sie anzulassen. Unterwegs erzählte ich ihm von unseren Plänen.

»Mhm«, sagte er, »da komme ich mit. Ich würde zwar lieber an einen tropischen Badeort fahren und Cocktails trinken, in denen Schirmchen stecken, aber bis dahin reicht mir das auch.«

Wir gingen zum Mittagessen zu ihm nach Hause und er fragte seine Eltern um die Erlaubnis, mit uns zu campen. »Ellie und ich fahren für einige Tage in den Busch«, verkündete er. Das war Homers Art, um Erlaubnis zu fragen. Seine Mutter reagierte überhaupt nicht; sein Vater zog eine Augenbraue hoch, während er den Kaffee trank; aber sein Bruder George stellte jede Menge Fragen. Als ich ihm die Daten sagte, meinte er: »Was ist mit der Messe?«

»Wir können nicht früher aufbrechen«, sagte ich. »Die Mackenzies scheren jetzt.«

»Und wer wird die Stiere für die Messe zurechtmachen?«

»Mit einem Föhn bist du einsame Klasse«, sagte Homer. »Ich habe dich an den Samstagabenden vor dem Spiegel beobachtet. Aber übertreib's nicht und schütte auch noch den Stieren Öl übers Fell.« Er wandte sich an mich: »Papa hat für George und seine Samstagabende eigens ein Fass mit einer Gallone Öl im Schuppen.«

Da George nicht gerade wegen seines Sinns für Humor berühmt ist, sah ich auf meinen Teller und aß weiter.

Homer machte also mit und Corrie rief am Abend an und sagte, dass Kevin ebenfalls mitkommen würde. »Er war gar nicht so scharf drauf«, sagte sie. »Wahrscheinlich wollte er lieber auf die Messe gehen. Aber er tut es mir zuliebe.«

»Pfui Teufel, spuck und spei«, sagte ich. »Sag ihm, er soll auf die Messe gehen, wenn er unbedingt will. Es gibt jede Menge Jungs, die einen Mord begehen würden, um mitzukommen.«

»Ja, aber sie sind alle unter zwölf«, seufzte Corrie. »Kevins jüngere Brüder würden liebend gern mitkommen. Aber die sind zu jung, sogar für dich.«

»Und zu alt für dich«, antwortete ich grob.

Nach dem Gespräch mit Corrie rief ich Fiona an und erzählte ihr von unserem Vorhaben. »Möchtest du mitkommen?«, fragte ich.

»Oh!« Es klang verblüfft, als hätte ich nur zu ihrer Unterhaltung von dem Ausflug erzählt. »Donnerwetter! Willst du, dass ich mitkomme?«

Ich machte mir nicht die Mühe, darauf zu antworten.

»Donnerwetter!« Fi ist die einzige Person unter sechzig, die ich kenne, die Donnerwetter! sagt. »Wer kommt noch mit?«

»Corrie und ich. Homer und Kevin. Und wir wollen auch Robyn und Lee fragen.»

»Ich würde gern mitmachen. Warte eine Sekunde, ich werd mal fragen.«

Ich wartete lange. Schließlich kam Fi mit einer langen Reihe Fragen zurück und gab meine Antworten an ihre Eltern im Hintergrund weiter. Nach etwa zehn Minuten verschwand sie wieder zu einer langen Diskussion, dann meldete sie sich endlich.

»Sie sind schwierig«, seufzte sie. »Ich bin sicher, dass es in Ordnung gehen wird, aber meine Mutter will noch deine Mutter anrufen, um sicherzugehen. Tut mir leid.«

»Reg dich ab. Ich mach ein Fragezeichen hinter deinem Namen und ruf dich am Wochenende wieder an. Okay?«

Ich legte auf. Das Telefonieren wurde schwierig, weil mich der Fernseher anbrüllte. Mum hatte ihn voll aufgedreht, damit sie in der Küche die Nachrichten hören konnte. Ein zorniges Gesicht füllte den Bildschirm. Ich blieb stehen und sah einen Augenblick lang zu. »Wir haben einen Versager zum Außenminister«, schrie das Gesicht. »Er ist schwach, er ist feige, er ist ein neuer Neville Chamberlain. Er versteht die Menschen nicht, mit denen er es zu tun hat. Sie respektieren Stärke, nicht Schwäche!«

»Glauben Sie, dass die Landesverteidigung ein wichtiger Punkt auf der Tagesordnung der Regierung ist?«, fragte der Interviewer.

»Wichtig? Wichtig? Sie machen wohl Witze! Wissen Sie, was sie vom Verteidigungsbudget gestrichen haben?«

Gott sei Dank bin ich das für eine Woche los, dachte ich.

Ich ging in Dads Büro und rief Lee an. Es dauerte eine Weile, bis ich seiner Mutter erklärt hatte, dass ich mit ihrem Sohn sprechen wollte. Ihr Englisch ist nicht gerade umwerfend. Als Lee ans Telefon kam, wirkte er komisch, beinahe misstrauisch. Er reagierte auf alles, was ich sagte, langsam, als wäge er es ab. »Ich soll beim Gedenktags-Konzert mitspielen«, sagte er, als ich ihm das Datum nannte. Daraufhin trat Schweigen ein, das ich endlich brach.

»Willst du also mitkommen?«

Jetzt lachte er. »Es klingt lustiger als das Konzert.«

Corrie war verblüfft gewesen, als ich sagte, ich würde auch Lee fragen. Wir kümmerten uns in der Schule kaum um ihn. Er wirkt sehr ernst, geht in seiner Musik auf, aber ich finde einfach, dass er interessant ist. Mir wurde plötzlich klar, dass wir nicht mehr lange die Schulbank drücken würden, und ich wollte nicht von der Schule abgehen, ohne Menschen wie Lee näher kennengelernt zu haben. In unserem Jahrgang gibt es Leute, die noch immer nicht die Namen aller Mitschüler kennen! Und dabei ist unsere Schule so klein. Manche Kids machen mich wirklich neugierig, und je mehr sie sich von den Leuten unterscheiden, mit denen ich normalerweise zusammen bin, desto neugieriger bin ich.

»Also – wie steht's?«, fragte ich. Eine weitere lange Pause folgte. Stillschweigen ist mir unbehaglich, deshalb sprach ich weiter. »Willst du deine Eltern fragen?«

»Nein, nein, mit denen werde ich fertig. Ja, ich komme mit.«

»Du klingst nicht so, als wärst du scharf drauf.«

»Natürlich bin ich scharf drauf! Ich habe gerade an die Probleme gedacht. Aber es ist prima, ich komme mit. Was soll ich mitbringen?«

Als Letzte rief ich Robyn an.

»Ach Ellie«, jammerte sie. »Es wäre großartig. Aber sie werden es mir nie erlauben.«

»Komm schon, Robyn, du bist zäh. Setz sie unter Druck.«

Sie seufzte. »Du weißt nicht, wie meine Eltern sind, Ellie.«

»Frag sie trotzdem. Ich bleib dran.«

»Okay.«

Nach einigen Minuten hörte ich, wie der Hörer aufgenommen wurde, deshalb fragte ich: »Also, hast du sie rumgekriegt?«

Unglücklicherweise antwortete mir Mr Mathers.

»Nein, Ellie, sie hat uns nicht rumgekriegt.«

»Ah, Mr Mathers!« Ich war verlegen, lachte aber gleichzeitig, weil ich wusste, dass ich Mr Mathers um den kleinen Finger wickeln konnte.

»Um was geht es denn, Ellie?«

»Ja also, wir finden, dass es für uns an der Zeit ist, Unabhängigkeit, Initiative und Ähnliches zu beweisen. Wir wollen einige Tage lang den Tailors Stitch entlangwandern, den Sex und die Laster von Wirrawee hinter uns lassen und reine, gesunde Bergluft atmen.«

»Hmmm. Und keine Erwachsenen?«

»Sie sind ebenfalls eingeladen, Mr Mathers, vorausgesetzt, sie sind unter dreißig, okay?«

»Das ist eine Diskriminierung, Ellie.«

Wir alberten etwa fünf Minuten lang herum, dann wurde er ernst. »Wir finden einfach, dass ihr Kids etwas zu jung seid, um allein im Busch herumzulaufen.«

»Was haben Sie getan, Mr Mathers, als Sie so alt waren wie wir?«

Er lachte. »Eins zu null für dich. Ich habe mich auf den Farmen in den Callamatta Downs herumgetrieben. Doch dann wurde ich klüger und band mir Kragen und Krawatte um.« Mr Mathers war Versicherungsagent.

»Verglichen mit dem Herumtreiben in den Callamatta Downs ist das, was wir vorhaben, eine Kleinigkeit.«

»Hmmm.«

»Was ist das Schlimmste, was uns zustoßen kann? Jäger in Landrovern? Sie müssten durch unsere Farm kommen und Dad würde sie aufhalten. Buschfeuer? Es gibt dort so viele Steine, dass wir davor sicherer wären als zu Hause. Schlangenbisse? Jeder von uns weiß, wie man Schlangenbisse behandelt. Wir können uns nicht verirren, weil der Tailors Stitch wie eine Autobahn ist. Ich bin in dem Gebiet unterwegs, seit ich gehen kann.«

»Hmmm.«

»Wie wär's, wenn wir uns von Ihnen versichern lassen, Mr Mathers? Würden Sie dann Ja sagen? Abgemacht?«

Robyn rief am nächsten Abend an und sagte, es wäre sogar ohne Versicherung abgemacht. Sie war aufgeregt und freute sich. Sie hatte ein langes Gespräch mit ihren Eltern geführt; das beste, das es je gegeben hatte, sagte sie. Unser Abenteuer war das größte, was sie ihr je zugetraut hatten, deshalb hoffte sie, dass alles in Ordnung gehen würde. »Ich hoffe so sehr, Ellie, dass es keine Katastrophen geben wird«, sagte sie immer wieder.

Das Komische daran war: Die Mathers konnten ihrer Tochter absolut vertrauen. Aber offenbar hatten sie das noch nicht begriffen. Falls Robyn sie jemals vor ein Problem stellen sollte, würde es darin bestehen, dass sie zu spät zur Kirche kam. Und der Grund dafür würde wahrscheinlich sein, dass sie einem Pfadfinder über die Straße geholfen hatte.

Die Dinge entwickelten sich weiterhin gut. Am Samstagvormittag waren Mum und ich in der Stadt, um einzukaufen, und trafen dort unerwartet Fi und ihre Mutter. Die beiden Mütter vertieften sich in ein Gespräch, während Fi und ich Tozers Schaufenster betrachteten und zu lauschen versuchten. Mum wirkte sehr beruhigend. »Sehr vernünftig«, hörte ich sie sagen. »Sie sind alle sehr vernünftig.« Zum Glück erwähnte sie Homers neuesten Streich nicht: Man hatte ihn dabei erwischt, wie er mit einem Lösungsmittel einen Strich über die Straße zog und ihn von seinem Versteck aus anzündete, sobald ein Auto daherkam. Er hatte es bereits ein halbes Dutzend Mal gemacht, als man ihn schnappte. Ich stellte mir lieber nicht vor, was für ein Schock es für die Autofahrer gewesen sein musste.

Jedenfalls hatte Mum mit ihren Erklärungen bei Fis Mutter Erfolg und ich konnte das Fragezeichen neben Fis Namen durchstreichen. Zwar waren wir statt der vorgesehenen acht nur sieben, aber die waren endgültig dabei und darüber waren wir glücklich. Na ja, wir waren über uns beide glücklich und die übrigen fünf waren okay. Ich werde versuchen sie so zu schildern, wie sie damals waren – oder wie sie meiner Ansicht nach waren –, denn sie haben sich natürlich verändert und mein Wissen über sie hat sich geändert.

Ich hatte Robyn zum Beispiel für ruhig und ernst gehalten. Sie bekam alljährlich Belobigungen, weil sie sich besonders bemühte, und sie tat viel für die Kirche, aber ich wusste, dass da noch mehr in ihr war. Sie wollte gewinnen. Man sah es beim Sport. Wir waren im gleichen Basketball-Team und einiges an ihrer Spielweise war mir peinlich. Zum Beispiel ihre Entschlossenheit. Von dem Augenblick an, in dem das Spiel begann, war sie wie ein Helikopter auf Hochtouren, flitzte und schoss überall herum und stieß die Leute einfach zur Seite, wenn es nötig war. Wenn die Schiedsrichter schwach waren, konnte Robyn in einem Spiel genauso viel Schaden anrichten wie ein Kampfhubschrauber. Sobald das Spiel zu Ende war, schüttelte Robyn jedem Spieler die Hand, sagte »Gut gespielt« und war normal wie immer. Sehr merkwürdig. Robyn ist klein, aber kräftig, stämmig und sehr ausgeglichen. Sie gleitet leichtfüßig über den Boden, während die anderen mühsam dahinstapfen, als wäre er aus Schlamm.

Allerdings sollte ich Fi davon ausnehmen, weil sie ebenfalls leicht und graziös ist. Für mich war Fi immer etwas Besonderes; ich blickte zu ihr auf, weil sie vollkommen war. Wenn sie etwas tat, das nicht richtig war, sagte ich: »Tu das nicht, Fi! Du bist mein Vorbild!« Ich liebe ihre zarte, schöne Haut. Sie hat, was meine Mutter ein schön geschnittenes Gesicht nennt.

Sie sieht aus, als hätte sie nie in ihrem Leben schwer gearbeitet, wäre nie in die Sonne gegangen, hätte sich nie die Hände schmutzig gemacht, und all das stimmt, weil sie im Gegensatz zu uns Landbewohnern in der Stadt lebt und Klavier spielt, statt Schafen Medizin einzuflößen oder Lämmer zu kennzeichnen. Ihre Eltern sind beide Anwälte.

Kevin hingegen ist eher der typische Landbewohner. Er ist der Älteste von uns, aber er ist Corries Freund und deshalb musste er mitkommen, sonst hätte sie sofort das Interesse an der ganzen Sache verloren.

Das Erste, was einem an Kevin auffällt, ist sein breiter, breiter Mund. Das Zweite sind seine Hände. Sie sind riesig, wie Maurerkellen. Es ist allgemein bekannt, dass er ein Riesenego hat und gern den Ruhm für alles und jedes in Anspruch nimmt; ich ärgere mich oft genug darüber, aber ich halte ihn trotzdem für das Beste, was Corrie in ihrem Leben passiert ist, denn bevor sie anfing mit ihm zu gehen, war sie zu ruhig und unauffällig. Kevin und sie unterhielten sich in der Schule oft und dann erzählte sie mir, wie feinfühlig und fürsorglich er ist. Obwohl es mir nur selten auffällt, bemerke ich, dass sie um vieles selbstsicherer ist, seit sie mit ihm zusammen ist, und das gefällt mir.

Ich stellte mir immer vor, wie Kevin in zwanzig Jahren Präsident der Messe-Gesellschaft sein, an den Samstagen für den Klub Cricket spielen, über die Preise für Lämmer reden und seine drei Kinder aufziehen wird – vielleicht mit Corrie. Das war die Welt, an die wir gewöhnt waren. Wir dachten niemals ernsthaft daran, dass sie sich sehr verändern würde.

Lee lebt genau wie Fi in der Stadt. Wir pflegten Lee und Fi aus Wirrawee zu singen. Aber das ist schon alles, was sie gemein haben. Lee ist genauso dunkel, wie Fi hell ist. Er hat schwarze Haare, einen Bürstenschnitt, dunkelbraune, intelligente Augen und eine angenehme, weiche Stimme, die manchmal die Enden einiger Wörter verschluckt. Sein Vater ist aus Thailand und seine Mutter aus Vietnam und sie führen ein Restaurant, in dem asiatische Speisen angeboten werden. Es ist ein sehr gutes Restaurant; wir haben oft dort gegessen. Lee versteht viel von Musik und Kunst; eigentlich versteht er von allem sehr viel, aber wenn ihm etwas nicht gelingt, kann er sehr ärgerlich werden. Dann schmollt er tagelang und spricht mit niemandem.

Der Letzte ist Homer, der weiter unten an meiner Straße wohnt. Er ist wild und abscheulich. Es ist ihm egal, was er tut oder was andere davon halten. Ich erinnere mich noch heute daran, wie wir als kleine Kinder zum Lunch zu ihm nach Hause gingen. Mrs Yannos versuchte Homer dazu zu bringen, dass er Rosenkohl aß. Die beiden stritten lautstark und schließlich schmiss Homer den Rosenkohl nach seiner Mutter. Ein Spross traf sie sehr heftig an der Stirn. Ich sah entsetzt zu. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Wenn ich zu Hause etwas Ahnliches versucht hätte, wäre ich an den Traktor gekettet und als Erdschollenknacker verwendet worden. Im achten Schuljahr überredete Homer einige seiner verrückten Kumpel dazu, sich täglich an einem Spiel zu beteiligen, das er griechisches Roulette nannte. Sie gingen jeden Tag in der Mittagspause in einen Raum, der außer Sichtweite der Lehrer war, und dann marschierten sie nacheinander zu einem Fenster und stießen mit dem Kopf dagegen. Jeder machte es so lange, bis die Glocke zum Nachmittagsunterricht läutete oder bis das Fenster zerbrach – was auch immer zuerst geschah. Derjenige, dessen Kopf das Fenster zerbrach – oder seine Eltern –, musste die Rechnung für ein neues Fenster bezahlen. Sie zerbrachen beim griechischen Roulette eine Menge Fenster, bis die Schule endlich aufwachte und begriff, was hier los war.

Homer steckte immer in Schwierigkeiten. Ein anderer Lieblingszeitvertreib von ihm war, darauf zu warten, dass Arbeiter auf das Schuldach stiegen, um undichte Stellen zu reparieren oder Bälle aus den Regenrinnen zu holen oder Rinnen auszutauschen. Homer wartete, bis sie an der Arbeit waren, und schlug dann zu. Eine halbe Stunde später brüllten die Arbeiter vom Dach hinunter: »Holt uns runter! Irgendein Bastard hat unsere verdammte Leiter geklaut!«

Als Kind war Homer ziemlich klein, aber er wurde immer kräftiger und wuchs in den letzten Jahren unaufhaltsam, bis er einer der größten Jungen der Schule war. Man wollte ihn immer in die Footballmannschaft holen, aber er hasst die meisten Sportarten und würde um keinen Preis in eine Mannschaft eintreten. Er jagt gern und ruft oft meine Eltern an, um sie zu fragen, ob er und sein Bruder auf unsere Farm kommen können, um wieder einige Kaninchen zu erledigen. Und er schwimmt gern. Und er mag Musik, auch wenn sie manchmal seltsam ist.

Als Homer und ich klein waren, waren wir in unserer Freizeit immer zusammen und wir sind einander noch immer nahe.

Das sind also die Fünf Freunde. Mit Corrie und mir wird es die Die Schwarze 7. Ha! Aber all diese Abenteuerbücher haben nichts mit dem zu tun, was uns zugestoßen ist. Mir fällt kein Buch ein – und auch kein Film –, die mit uns verglichen werden könnten. Wir alle mussten in den letzten Wochen die Drehbücher unseres Lebens umschreiben. Wir haben sehr viel gelernt und wir mussten rauskriegen, was wichtig ist und worauf es ankommt – worauf es wirklich ankommt. Das war allerhand.