Siebentes Kapitel

Es war schrecklich, darauf zu warten, dass es dunkel wurde. Wir wollten immer wieder aufbrechen, begannen stets mit: »Okay, das reicht, gehen wir«, dann widersprach jemand: »Nein, wartet, es ist noch immer zu hell.«

Das Problem mit dem Sommer ist, dass es so lange hell bleibt. Aber wir hatten beschlossen Risiken zu vermeiden und hielten uns daran.

Der Mond war schmal und ging spät auf, daher war es stockdunkel, als wir uns auf den Weg machten. Wir hatten zwei Taschenlampen, die Homer gefunden hatte, aber wir hatten uns darauf geeinigt, sie nur zu benützen, wenn es unbedingt notwendig war. Millie ließen wir auf einer Decke in Homers Küche zurück. Sie war zu schwach, um weit zu gehen. Wir gingen etwa eineinhalb Kilometer die Straße entlang, dann zweigten wir über die letzte Koppel der Yannos ab und nahmen die Abkürzung, die zu dem Weg zu Kevins Farm führt. Ich ging neben Homer, aber wir sprachen nicht viel. Dann erinnerte ich mich daran, dass ich ihn nicht nach ihren Hunden gefragt hatte. »Wir hatten nur noch zwei«, antwortete er, »und die waren nicht da. Ich weiß nicht, wohin sie gegangen sein könnten. Dad hat erwähnt, dass er mit ihnen zum Tierarzt fahren wollte. Beide hatten schlimme Ekzeme. Ich kann mich nicht erinnern, ob er das wirklich gesagt hat oder ob ich es mir nur einbilde.«

Sobald wir den Weg erreicht hatten, begann Kevin zu laufen. Wir mussten noch ungefähr zwei Kilometer gehen, aber ohne dass wir ein Wort gewechselt hätten, rannten wir alle hinter ihm her. Kevin ist groß, nicht für Kurzstrecken gebaut und trödelt normalerweise wie ein Zugpferd, aber diesmal konnte keiner mit ihm Schritt halten – bis auf Robyn, die immer fit ist. Nach einer Weile sah ich sie nicht mehr vor uns, aber ich hörte Kevins schweres Keuchen, das aus der Dunkelheit kam. Als wir uns dem Haus näherten, rief Lee: »Sei vorsichtig, wenn du hinkommst, Kev«, doch er bekam keine Antwort.

Kevin und Robyn waren zwei oder drei Minuten vor uns dort. Aber es hatte nicht viel Sinn gehabt. Sein Haus sah genauso aus wie Homers und meines. Drei tote angekettete Hunde, ein toter Kakadu in einem Käfig auf der Veranda, zwei tote Lämmer neben den Verandastufen. Nur Kevs alte Lieblingshündin Flip war im Haus eingesperrt gewesen und in der Waschküche hatte ein Eimer mit Futter und einer mit Wasser für sie gestanden. Sie war am Leben, aber sie hatte sich eines der Zimmer als Klo ausgesucht, daher stank das Haus entsetzlich. Als sie Kevin sah, geriet sie vor Freude außer sich; als wir ankamen, leckte sie ihm noch immer übers Gesicht, jaulte erbärmlich, vollführte unglaubliche Sprünge und machte sich vor Aufregung nass.

Corrie kam mit grimmigem Gesicht, einem Mopp und einer Handvoll Wischlappen daher. Ich hatte schon früher beobachtet, dass Corrie zu putzen anfing, sobald die Stimmung zu emotional wurde. Was eine sehr nützliche Angewohnheit war.

Wir hielten wieder eine Kurzkonferenz ab. Robyn kam auf die glänzende Idee, dass Fahrräder schnell und geräuschlos sind – das perfekte Transportmittel. Kevin hatte zwei jüngere Brüder, also holten wir drei Fahrräder aus dem Schuppen.

Homer fragte, ob wir jemanden kannten, der nicht auf die Messe gegangen war. Ihm war klar geworden, dass jemand, der an diesem Tag zu Hause geblieben war, das Rätsel lösen konnte. Lee nahm an, dass seine Eltern wahrscheinlich nicht daran teilgenommen hatten; seine Schwestern und Brüder besuchten für gewöhnlich die Messe, aber nicht seine Eltern. Kevin wollte Flip, die Corgi-Hündin, mitnehmen. Er konnte es nicht ertragen, sie nach allem, was sie durchgemacht hatte, wieder allein zu lassen.

Es war eine schwere Entscheidung. Uns allen tat der Hund leid, der mit einer unsichtbaren Leine an Kevin gefesselt schien, aber uns wurde immer deutlicher bewusst, dass wir vor allem an unsere eigene Sicherheit denken mussten. Schließlich kamen wir überein, Flip bis zu Corries Haus mitzunehmen; auf Grund dessen, was wir dort vorfinden würden, wollten wir dann eine Entscheidung treffen.

»Aber Kevin«, warnte ihn Lee, »wir müssen vielleicht ein paar hässliche Entscheidungen treffen.«

Kevin nickte nur. Das wusste er.

Robyn, die auf die Idee mit den Fahrrädern gekommen war, joggte den größten Teil des Weges zu Corries Haus. Wir konnten bestenfalls zu zweit auf einem Fahrrad sitzen und sie sagte, sie brauche das Training. Homer transportierte Kevin, der Flip in den Armen hielt. Die kleine Corgi-Hündin leckte ihm während der Fahrt die ganze Zeit das Gesicht, um ihm zu zeigen, wie sehr sie ihn liebte und wie dankbar sie ihm war. Es war eigentlich komisch, aber wir konnten nicht mehr lachen.

Ich werde mich immer daran erinnern, wie Corrie mitten in ihrem Wohnzimmer stand und ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Dann kam Kevin herein, der in den übrigen Zimmern nachgesehen hatte, sah Corrie, ging schnell zu ihr, schloss sie in die Arme und drückte sie an sich. So standen sie einige Minuten da. Ich mochte Kevin in diesem Moment sehr.

Robyn übte heftigen Druck auf uns aus und wir entschlossen uns endlich etwas zu essen, bevor wir den nächsten Schritt unternahmen. Sie war den ganzen Abend über sehr logisch gewesen und sie war es noch immer, auch wenn das nächste Haus, das wir aufsuchen wollten, ihres war. Also machten sie, ich und Homer aus altbackenem Brot und Salami sowie Salat und Tomaten aus Mrs Mackenzies berühmtem Gemüsegarten Sandwiches. Wir kochten auch Tee und Kaffee mit Haltbarmilch und verwendeten dazu ein kleines, mit festem Brennstoff betriebenes Camping-Öfchen. Es fiel uns schwer, das Essen durch unsere ausgetrockneten und verkrampften Speiseröhren hinunterzuzwingen, aber wir würgten so lange, bis jeder wenigstens ein Sandwich gegessen hatte, und es wirkte sich positiv auf unsere Energie und unseren Kampfgeist aus.

Während wir aßen, beschlossen wir zu Robyns Haus zu fahren, aber wir wussten, dass wir damit vor einem Haufen vollkommen neuer Probleme standen. Hier draußen auf dem Land, wo die meisten von uns lebten, wo die Luft rein und die Koppeln groß und leer waren, hatten wir uns ziemlich selbstsicher bewegt. Die Gefahr schien irgendwie unwirklich. Wir wussten, dass es in der Stadt gefährlich war und wir auf Schwierigkeiten stoßen würden.

Robyn beschrieb für alle, die noch nicht dort gewesen waren, den Grundriss ihres Hauses und wo in Wirrawee es lag. Wir hielten es für ungefährlich, durch die Coachmans Lane zu gehen, die hinter Robyns Grundstück verläuft. Von dem Hügel hinter Robyns Haus konnten wir einen Blick auf die Stadt werfen, was uns vielleicht einige Hinweise geben würde.

Es war Zeit aufzubrechen. Corrie wartete an der Vordertür auf mich. Ich hatte das WC benützt und vergessen, dass die Mackenzies ihr Wasser nicht aus der Stadt bezogen und dass eine Druckpumpe mit Strom betrieben wird. Also hatte ich zu der Badewanne im Gemüsegarten gehen, einen Eimer mit Wasser füllen, wieder hineingehen und die Toilette spülen müssen. Corrie wurde schon ungeduldig, aber ich hielt sie noch kurz auf. Ich hatte den Verbindungsgang benützt, war an ihrem Telefon vorbeigekommen und hatte auf ihrem Fax eine Nachricht entdeckt. »Corrie«, rief ich, »willst du das hier sehen?« Ich hielt ihr die Nachricht hin und während sie zu mir kam, fügte ich hinzu: »Es ist wahrscheinlich alt, aber man kann nie wissen.«

Sie nahm es und las. Während sie es überflog, öffnete sie langsam den Mund. Ihr Gesicht wurde vor Schreck länger und schmäler. Sie starrte mich mit großen Augen an, drückte mir dann die Nachricht in die Hand und wartete zitternd, bis ich sie gelesen hatte.

Mr Mackenzie hatte Folgendes hingekritzelt:

»Ich bin im Messe-Büro, Corrie. Irgendwas ist los. Die Leute sagen, dass es nur Heeres-Manöver sind, aber ich schicke das hier trotzdem ab. Dann werde ich nach Hause gehen und es zerreißen, damit niemand weiß, was für ein Idiot ich gewesen bin. Aber wenn Du dieses Schreiben bekommst, dann geh in den Busch. Sei sehr vorsichtig. Komm erst heraus, wenn Du weißt, dass es nicht mehr gefährlich ist. Mit sehr viel Liebe, Dad.«

Die letzten Worte von Busch an waren dick unterstrichen.

Wir sahen uns einen Augenblick lang an, dann umarmten wir einander. Wir weinten ein bisschen, dann liefen wir hinaus und zeigten die Nachricht den anderen.

Ich glaube, dass mir an diesem Tag die Tränen ausgegangen sind, denn ich habe seither nicht mehr geweint.

Als wir das Haus der Mackenzies verließen, bewegten wir uns vorsichtig. Wir verhielten uns zum ersten Mal wie Menschen im Krieg, wie Soldaten, wie Guerillas. »Ich habe immer darüber gelacht, dass Dad so vorsichtig ist«, sagte Corrie. »Er nimmt seine Wasserwaage überallhin mit. Sein Motto lautet: ›Zeit, die man zur Erkundung verwendet, ist selten vergeudete Zeit.‹ Vielleicht sollten wir uns eine Weile daran halten.«

Wir hatten jetzt auch Corries Fahrrad, also erfanden wir eine Reisemethode, die ein Kompromiss zwischen Schnelligkeit und Sicherheit war. Wir einigten uns auf einen Orientierungspunkt – der erste war die alte Christuskirche – und das erste Paar, Robyn und Lee, sollte bis dorthin fahren und anhalten. Wenn die Luft rein war, würden sie zurückfahren und zweihundert Meter vor der Kirche ein Geschirrtuch auf die Straße legen. Das zweite Paar würde fünf Minuten nach Robyn und Lee starten und die letzten drei fünf Minuten später. Wir verabredeten vollkommene Stille und legten Flip, Kevins Corgi, bei den Mackenzies an die Kette. Unsere Angst zwang uns zum Denken.

Die Fahrt zu Robyns Haus verlief ereignislos. Langsam, aber ereignislos. Das Haus war im gleichen Zustand wie alle anderen, leer, schlecht riechend, überall Spinnweben. Ich fragte mich, wie schnell Häuser verfallen würden, wenn die Menschen sich nicht um sie kümmerten. Sie hatten immer so solid gewirkt, so dauerhaft. Mum zitierte gern ein Gedicht: »Seht auf meine Werke, Ihr Mächtigen, und verzweifelt.« Mehr hatte ich mir nicht gemerkt, aber es war das erste Mal, dass ich die Wahrheit darin erkannte.

Es war ein Uhr dreißig nachts. Wir gingen auf den Hügel hinter Robyns Haus und betrachteten Wirrawee. Ich war plötzlich sehr müde. Die Stadt war dunkel, nicht einmal die Straßenbeleuchtung war eingeschaltet. Doch irgendwo musste es Strom geben, denn am Messegelände war sehr helles Licht – die Scheinwerfer, die die Rennbahn beleuchteten – und im Stadtzentrum waren ebenfalls einige Gebäude hell erleuchtet. Wir saßen da und sprachen leise über unseren nächsten Schritt. Es stand fest, dass wir versuchen mussten Fis und Lees Häuser zu erreichen. Nicht, weil wir erwarteten, dort jemanden zu finden, sondern weil fünf von uns ihr Zuhause und die Leere darin gesehen und so die Chance gehabt hatten zu verstehen. Es war nur fair, dass die beiden das gleiche Recht bekamen.

Ein Lastwagen verließ das Messegelände und fuhr langsam zu einem der erleuchteten Gebäude, ich glaube, in der Baker Street. Wir verstummten und beobachteten ihn. Seit wir die Flugzeuge gesehen hatten, war dies das erste Zeichen von menschlichem Leben – außer unserem.

Dann machte Homer einen unpopulären Vorschlag. »Ich finde, dass wir uns trennen sollten.«

Darauf folgte geflüstertes Protestgeschrei. Das war nicht das Gleiche wie Kevins und Corries Angebot, allein nach Hause zu gehen. Sie hatten bloß vermeiden wollen uns aus Homers Haus wegzulocken. Aber Homer wollte nicht nachgeben.

»Wir müssen vor Morgengrauen aus der Stadt draußen sein. Weit draußen. Und unsere Zeit wird knapp. Wir werden uns in den Straßen nicht schnell und mühelos bewegen können. Wir sind müde und das allein wird uns langsam machen, ganz davon zu schweigen, wie vorsichtig wir sein müssen. Außerdem können sich zwei Menschen leiser bewegen als sieben. Und schließlich, um euch die Wahrheit zu sagen, falls es hier Soldaten gibt und einer von uns erwischt wird ... dann sind zwei Verluste immer noch besser als sieben. Ich erwähne es ungern, aber fünf Leute in Freiheit und zwei Leute eingesperrt ist eine bessere Gleichung als niemand in Freiheit und sieben eingesperrt. Ihr wisst alle, wie gut ich in Mathe bin.«

Er hatte uns zum Schweigen gebracht. Wir wussten, dass er Recht hatte – abgesehen von Mathe vielleicht.

»Was schlägst du also vor?«, fragte Kevin.

»Ich gehe mit Fi. Ich wollte immer schon eins der reichen Häuser auf dem Hügel von innen sehen. Das ist meine große Chance.« Fis Fuß zielte müde auf Homers Schienbein und er ließ zu, dass sie ihn traf. »Was haltet ihr davon, wenn Robyn und Lee zu Lees Haus gehen? Und die restlichen drei sehen sich das Messegelände an. All diese Lichter ... vielleicht ist das ihr Stützpunkt. Oder sie halten die Leute dort fest.«

Wir verdauten das alles, dann sagte Robyn: »Ja, das ist die beste Lösung. Wie wäre es, wenn jeder, der keine dunkle Kleidung trägt, ins Haus zurückgeht und sich welche holt? Und wir treffen uns wieder hier auf dem Hügel um – sagen wir, drei Uhr früh?«

»Was ist, wenn jemand nicht zurückkommt?«, fragte Fi leise. Es war ein schrecklicher Gedanke. Nach kurzem Schweigen beantwortete Fi ihre Frage selbst: »Falls jemand nicht da ist, warten wir bis drei Uhr dreißig. Dann verschwinden wir schnell, kommen jedoch morgen Nacht wieder – ich meine heute Nacht. Und diejenigen, die später zurückkommen, sollen sich ruhig verhalten.«

»Ja«, sagte Homer. »Das ist alles, was wir tun können.«

Kevin, Corrie und ich brauchten keine dunkle Kleidung, also konnten wir sofort aufbrechen. Wir umarmten die anderen und wünschten ihnen Glück. Als ich eine Minute später zurückblickte, sah ich sie nicht mehr. Wir suchten uns vorsichtig einen Weg den Hügel hinunter zur Warrigle Street, kletterten über den vorderen Zaun der Mathers und schlichen am Straßenrand entlang, wobei wir uns ganz nahe an die Bäume hielten. Kevin führte. Ich hoffte nur, dass er nicht wieder über etwas Kriechendes stolpern würde. Es wäre nicht der richtige Augenblick gewesen, um loszubrüllen.

Das Messegelände war zwar am Stadtrand, aber an dem von uns aus gesehen gegenüberliegenden, so dass wir einen ziemlich langen Weg vor uns hatten. Wir kamen jedoch relativ rasch vorwärts, weil wir weit von den Hauptstraßen entfernt waren. Was nicht heißt, dass Wirrawee viele Hauptstraßen hat. Ich war froh, dass wir uns bewegten; es war das Einzige, was mir half vernünftig zu bleiben. Es war so schwierig, sich gleichzeitig aufs Gehen zu konzentrieren, achtzugeben und sich ruhig zu verhalten. Manchmal verursachte ich ein Geräusch, dann drehten sich die beiden anderen zu mir um und sahen mich böse an. Ich zuckte die Achseln, breitete die Arme aus, verdrehte die Augen. Ich konnte noch immer nicht begreifen, dass es um Leben und Tod ging, dass dies die gefährlichste Sache war, in die ich jemals verwickelt war. Natürlich wusste ich es; nur konnte ich nicht jede Sekunde daran denken. Mein Verstand war nicht so diszipliniert. Und außerdem waren Kevin und Corrie auch nicht so leise, wie sie glaubten.

Das Ganze war schwierig, auch weil es so dunkel war. Schwierig, nicht über Steine zu stolpern, nicht auf knackende Zweige zu treten oder gegen eine Mülltonne zu rennen.

Wir gelangten in die Racecourse Road und fühlten uns ein wenig sicherer, weil es dort so wenige Häuser gibt. Bei Mrs Alexanders Garten blieb ich einen Augenblick stehen und schnupperte an den hohen, alten Rosen, die an ihrem Zaun wachsen. Ich liebte ihren Garten. Sie gab dort alljährlich eine Weihnachtsparty. Es war erst wenige Wochen her, dass ich unter einem ihrer Apfelbäume gestanden hatte, einen Teller mit Keksen in der Hand, und Steve gesagt hatte, dass ich nicht mehr mit ihm gehen wolle. Jetzt hatte ich das Gefühl, dass es fünf Jahre her war. Das Gespräch war mir sehr schwergefallen, und dass Steve so nett reagiert hatte, machte es noch schwerer. Vielleicht war er deshalb so nett gewesen? Oder war ich einfach zynisch?

Wo waren Steve, Mrs Alexander, die Mathers, Mum und Dad und überhaupt alle jetzt? Konnte man uns wirklich angegriffen und besetzt haben? Ich konnte mir nicht vorstellen, was sie empfunden, wie sie reagiert hatten. Sie waren sicherlich entsetzt gewesen, wie betäubt. Einige von ihnen hatten bestimmt versucht zu kämpfen. Manche unserer Freunde gehörten kaum zu den Leuten, die sich hinlegen und damit abfinden, dass ein Haufen Soldaten einmarschiert, um ihnen ihren Besitz und ihre Häuser wegzunehmen.

Mr George zum Beispiel. Vergangenes Jahr kam ein Bauinspektor zu ihm und erklärte ihm, dass er seinen Scherschuppen nicht vergrößern dürfe. Mr George wurde vorgeladen, weil er den Inspektor mit einem Montierhebel bedroht hatte. Dad war übrigens auch ganz schön eigensinnig. Ich hoffte nur, dass es nicht zu Gewalttätigkeiten gekommen war. Ich hoffte, dass sie vernünftig gewesen waren.

Ich stolperte dahin und dachte an Mum und Dad. Die Außenwelt hatte unser Leben kaum beeinflusst. Natürlich hatten wir die Nachrichten im Fernsehen gesehen und hatten uns schlecht gefühlt, wenn man uns Bilder von Kriegen, Hungersnöten und Überschwemmungen zeigte. Gelegentlich versuchte ich mich in die Lage dieser Leute zu versetzen, aber ich konnte es nicht. Der Vorstellungskraft sind Grenzen gesetzt. Die einzige Auswirkung der Außenwelt auf uns waren die Woll- und Viehpreise. Zwei Tausende Kilometer entfernte Länder unterzeichneten auf einem anderen Erdteil einen landwirtschaftlichen Vertrag und ein Jahr danach mussten wir einen Arbeiter entlassen.

Aber trotz unserer Isolation, unseres unromantischen Daseins, liebte ich es, auf dem Land zu leben. Andere Kids konnten es nicht erwarten, in die Stadt zu ziehen. Es schien beinahe, als stünden sie in dem Augenblick, in dem sie die Schule beendet hatten, mit ihrem Gepäck an der Bushaltestelle. Sie wollten Menschenmengen, Lärm, Fast-Food-Läden und riesige Einkaufszentren. Sie wollten Adrenalin in ihren Adern spüren. Ich mochte all das in kleinen Mengen und wusste, dass ich in meinem Leben gern eine längere Zeit in der Stadt verbringen würde. Ich wusste aber auch, wo ich am liebsten war, und das war hier draußen, selbst wenn ich die Hälfte meines Lebens meinen Kopf in den Motor eines Traktors stecken oder ein Lamm aus einem Stacheldrahtzaun holen oder von einer Kuh grün und blau getreten würde, weil ich zwischen sie und ihr Kalb geraten war.

Im Augenblick war ich noch damit beschäftigt, mit dem fertig zu werden, was geschehen war. Das war kein Wunder. Wir wussten so wenig. Wir hatten nur Hinweise, Mutmaßungen, Annahmen. Ich erlaubte mir zum Beispiel die Vorstellung nicht, dass Mum oder Dad – oder irgendjemand anderer – verwundet oder getötet worden war. Mein Verstand wusste zwar, dass solche Dinge die logischen Folgen von Invasionen, Kämpfen und Kriegen sind, aber mein Verstand steckte in einer kleinen Schachtel. Meine Vorstellungskraft war in einer ganz anderen Schachtel und ich ließ die beiden nicht miteinander kommunizieren. Wahrscheinlich kann sich niemand vorstellen, dass seine Eltern einmal sterben werden. Es ist so, als denke man an seinen eigenen Tod.

Meine Gefühle waren wieder in einer ganz anderen Schachtel. Während dieses Marsches versuchte ich verzweifelt, sie dort unter Verschluss zu halten.

Was ich mir vorstellen konnte, war, dass meine Eltern irgendwo gegen ihren Willen festgehalten wurden. Ich sah sie vor mir – Dad, der entmutigt und zornig war wie ein Bulle in einem Verschlag, der sich weigerte das Geschehene zu akzeptieren, der sich weigerte die Autorität eines anderen anzuerkennen. Er würde gar nicht versuchen zu verstehen, was los war, warum diese Leute gekommen waren. Er würde nicht wissen wollen, welche Sprache sie sprachen oder was für Ideen sie hatten oder wie ihre Kultur aussah. Ich wollte trotz meines Schocks und meines Entsetzens immer noch verstehen; ich wollte noch immer Antworten auf diese Fragen.

Mum würde anders sein. Sie würde sich darauf konzentrieren, klar zu denken, um sich geistig nicht überrumpeln zu lassen. Ich stellte mir vor, wie sie über die kahlen Hügel blickte – vielleicht durch den Zaun eines Gefangenenlagers –, sich nicht um die unbedeutenden Ablenkungen, die Stimmen im Hintergrund, die vorsätzlichen Irritationen kümmerte.

Dann wurde mir klar, dass ich mir beide Eltern so vorstellte, wie sie zu Hause waren.

Wir hatten das Ende der Racecourse Road erreicht. Ich war ein wenig hinter Kevin und Corrie zurückgefallen und sie warteten auf mich. Wir bildeten einen kleinen, dunklen, dicht gedrängten Haufen zwischen einem Baum und einem Zaun. Jeder, der uns sah, würde uns für ein fremdartiges Gewächs halten, das aus dem Boden geschossen war. Es wurde ziemlich kalt und ich spürte, wie die beiden zitterten, als wir zusammen dort hockten.

»Jetzt, wo wir so nahe sind, müssen wir besonders vorsichtig sein«, flüsterte Kevin. »Versuch nicht so weit zurückzubleiben, Ellie.«

»Tut mir leid. Ich habe nachgedacht.«

»Also, wie sieht der Plan aus?«, fragte er.

»So nahe heranzukommen, dass wir etwas sehen können«, sagte Corrie. »Wir haben nicht viel Zeit. Am wichtigsten ist, dass wir vorsichtig sind. Wenn wir nichts sehen können, gehen wir einfach zu Robyns Haus zuück. Falls jemand hier ist, wäre das Dümmste, was wir tun können, uns ihnen zu zeigen, so dass sie uns folgen können.«

»Okay, einverstanden.« Kevin wollte aufstehen. Das ärgerte mich. Es war typisch für ihn, mich nicht nach meiner Meinung zu fragen. Ich zog ihn wieder hinunter.

»Was denn?«, sagte Kevin, »Wir müssen weiter, El.«

»Das bedeutet nicht, dass wir losstürmen wie Idioten. Was ist zum Beispiel, wenn man uns sieht? Oder uns jagt? Wir können nicht einfach zu Robyns Haus zurücklaufen. Das würde sie dorthin führen.«

»Wahrscheinlich müssen wir uns trennen. Es wäre für sie schwieriger, drei einzelne Personen zu jagen als eine Gruppe. Wenn wir dann sicher sind, dass uns niemand folgt, schlägt sich jeder für sich zu Robyns Haus durch.«

»Okay.«

»Ist das alles?«

»Nein! Wenn wir streng logisch wären, wie vorher Homer, sollten wir uns nicht zu dritt so nahe an das Messegelände heranschleichen. Einer von uns sollte gehen und die anderen beiden bleiben hier. Weniger wahrscheinlich, dass man uns sieht, und ein geringerer Verlust, wenn einer erwischt wird.«

Corrie schrie leise auf. »Nein! Du bist zu logisch! Ihr seid meine besten Freunde! Ich will nicht so logisch sein!«

Wenn ich richtig nachdachte, wollte ich es eigentlich auch nicht. »Dann okay!«, sagte ich. »Alle für einen und einer für alle. Gehen wir. Die drei Musketiere.«

Wir huschten wie Schatten über die Straße und bogen um die Ecke. Das Licht vom Messegelände reichte sogar bis hierher, zwar schwach, aber man merkte den Unterschied zu völliger Dunkelheit. Wir blieben nervös an seinem Rand stehen.

Es war, als würde uns ein einziger Schritt in dieses Licht für eine ganze Armee von feindlichen Beobachtern sichtbar machen. Es war erschreckend.

Das war der Augenblick, in dem mir klar wurde, was echter Mut ist. Bis dahin war alles irreal gewesen, wie ein nächtliches Anpirsch-Spiel in einem Schulcamp. Um aus der Dunkelheit hinauszutreten, musste man Mut einer Art beweisen, den ich nie zuvor hatte beweisen müssen, von dem ich nichts gewusst hatte. Ich musste meinen Verstand und meinen Körper erforschen, um festzustellen, ob es irgendwo eine neue Seite von mir gab. Ich spürte, dass es in mir einen Teil gab, der das hier tun konnte, aber es war ein Teil, von dem ich nichts gewusst hatte. Wenn ich ihn fand, konnte ich eine Verbindung mit ihm herstellen und dann konnte ich vielleicht, nur vielleicht, beginnen die Angst aufzutauen, die meinen Körper erstarren ließ. Vielleicht konnte ich dann diese gefährliche, schreckliche Sache tun.

Eine einzige, kleine Bewegung war der Schlüssel, durch den ich meinen Mut fand. Etwa vier Schritte links vor mir stand ein Baum tief in der Lichtzone vom Messegelände. Ich brachte mich plötzlich dazu, die Dunkelheit zu verlassen und zu ihm zu gehen, mit vier schnellen, leichten Schritten. Ein Tanz, der mich überraschte, durch den ich aber leicht benommen und ein wenig stolz wurde. ›Das ist es!‹, dachte ich. ›Ich hab's getan!‹ Es war ein Tanz des Mutes. Ich fühlte damals und fühle es noch immer, dass mich diese vier Schritte verändert haben. In diesem Augenblick hörte ich auf, ein unschuldiger Teenager vom Land zu sein, und begann jemand anderer zu werden, eine kompliziertere und fähigere Person, eine Kraft, mit der man rechnen musste, nicht nur ein höfliches, gehorsames Kind. Ich hatte keine Zeit, dieses neue, interessante Ich zu erforschen, aber ich versprach mir, es später zu tun.

Ich war noch immer leicht benommen, als sich Augenblicke später Kevin und dann Corrie zu mir gesellten. Wir sahen einander an und grinsten stolz und aufgeregt und ein bisschen ungläubig. »Okay, was jetzt?«, fragte Kevin. Plötzlich wandte er sich um Anweisungen an mich. Vielleicht erkannte er, wie sehr ich mich in diesen wenigen Sekunden verändert hatte. Aber dann war es bei ihm sicher genauso?

»Geht weiter von Baum zu Baum nach links. Wir müssen zu dem großen Eukalyptusbaum gelangen, dann sind wir gegenüber dem Holzlager. Von dort aus werden wir mehr sehen.«

Ich setzte mich im selben Augenblick in Bewegung, in dem ich zu reden aufhörte, und war so aufgeputscht, dass ich nicht merkte, wie ich Kevin genau das antat, wogegen ich mich ihm gegenüber vor ein paar Augenblicken gewehrt hatte. Von meinem neuen günstigen Beobachtungspunkt aus sah ich drei Männer in Uniform, die langsam aus dem Schatten hinter der Haupttribüne auftauchten und den Kreis des Drahtzauns abgingen. Sie trugen irgendwelche Waffen, vielleicht Gewehre, aber die Entfernung war so groß, dass man es nicht klar erkennen konnte. Trotz aller Beweise, die wir bis jetzt gesammelt hatten, war dies die erste Bestätigung dafür, dass sich eine feindliche Armee in unserem Land befand und es beherrschte. Es war unglaublich, entsetzlich. Ich fühlte, wie Angst und Zorn in mir aufstiegen. Ich wollte ihnen zuschreien: »Verschwindet!«, und ich wollte davonlaufen und mich verstecken. Ich konnte meinen Blick nicht von ihnen abwenden.

Nachdem sie hinter den Ställen der Traber verschwunden waren, hörte ich das rasche Geräusch von leichten Füßen, als Kevin und Corrie mich erreichten.

»Habt ihr die Männer gesehen?«, fragte ich.

»Ja und nein«, flüsterte Corrie. »Es waren nicht lauter Männer. Es war mindestens eine Frau dabei.«

»Wirklich? Bist du sicher?«

Sie zuckte die Achseln. »Willst du wissen, was für eine Farbe ihre Knöpfe hatten?«

Ich verstand. Corrie hat sehr scharfe Augen.

Wir gingen weiter, indem wir von Baum zu Baum huschten, bis wir endlich keuchend hinter dem großen Eukalyptusbaum versammelt waren. Von dort spähten wir vorsichtig hinüber. Corrie kniete und sah von rechts um den Baum herum; Kevin hockte und blickte durch eine niedrige Gabelung; ich stand auf der anderen Seite und schaute um den Stamm herum. Wir befanden uns an einer guten Stelle, etwa sechzig Meter vom Zaun entfernt und überblickten ein Drittel des Messegeländes. Das Erste, was mir auffiel, war eine Anzahl großer Zelte im Oval. Sie hatten alle möglichen Farben und Formen, aber alle waren groß. Das Zweite waren zwei bewaffnete Soldaten, die auf der Trabrennbahn standen. Sie taten überhaupt nichts, standen einfach dort; einer sah zu den Zelten, der andere zu den Pavillons hinüber. Sie waren offensichtlich Wachposten, die vermutlich das bewachten, was sich in den Zelten befand. Einer von ihnen war eine Frau; Corrie hatte Recht gehabt.

Das Messegelände war noch immer für die Landwirtschaftsmesse eingerichtet, obwohl man alles schon vor vier Tagen hätte wegräumen müssen. Aber die Riesenräder und Schaubuden, die ausgestellten Traktoren und Wohnwagen, die Baumstämme für das Wett-Holzhacken und die Schnellimbiss-Wagen waren noch an Ort und Stelle. Links von uns befand sich ein stummer Ozean von geparkten Autos; die meisten sahen wie dunkle, reglose Tiere aus, einige glänzten im künstlichen Licht. Irgendwo dazwischen war auch unser Wagen. In manchen Wagen hatte es sicher Hunde gegeben. Ich versuchte nicht daran zu denken, was für einen entsetzlichen Tod sie gestorben waren, wie die Hunde in unserem Haus. Vielleicht hatten die Soldaten Mitleid mit ihnen gehabt und sie gerettet, als die Kämpfe vorbei waren. Vielleicht hatten sie Zeit dafür gehabt.

Wir waren acht Minuten lang auf unserem Beobachtungsposten – ich stoppte die Zeit –, bis endlich etwas geschah. Gerade als Kevin sich herüberneigte, mir »Wir müssen gehen« zuflüsterte und ich nickte, trat ein Mann aus einem der Zelte. Er hatte die Hände an den Kopf gelegt und blieb stehen. Die Posten erwachten sofort zum Leben, einer ging schnell zu dem Mann hin, der andere richtete sich auf und wandte sich ihm zu. Der Posten und der Mann sprachen kurz miteinander, dann ging der Mann – noch immer mit erhobenen Händen – zum Toilettenblock und verschwand in ihm. In der letzten Sekunde, als ihm die Lampe oberhalb der Waschraumtür ins Gesicht schien, erkannte ich ihn: Es war Mr Coles, mein Grundschullehrer im vierten Schuljahr.

Jetzt wussten wir es. Mir wurde kalt; ich bekam eine Gänsehaut. Das war die neue Realität in unserem Leben. Ich begann ein wenig zu zittern, aber dafür hatten wir keine Zeit. Wir mussten verschwinden. Wir glitten durch das Gras zurück und bewegten uns wieder von Baum zu Baum. Ich erinnerte mich daran, dass es vor zwei Jahren zu einer großen Auseinandersetzung gekommen war, weil der Stadtrat vorgeschlagen hatte, diese Bäume zu fällen, um einen größeren Parkplatz zu schaffen. Die Empörung war so groß gewesen, dass die Idee aufgegeben werden musste. Ich grinste in der Dunkelheit, aber ohne Fröhlichkeit. Zum Glück hatten die Guten gewonnen. Aber niemand hätte sich jemals vorstellen können, wie nützlich die Bäume für uns werden würden.

Ich erreichte den letzten Baum und streichelte zärtlich seinen Stamm. Ich empfand sehr viel Zuneigung für ihn. Corrie war dicht hinter mir, dann drängte sich Kevin dazu. »Beinahe in Sicherheit«, sagte ich und brach wieder auf. Ich hätte auf Holz klopfen sollen, bevor ich es tat. In dem Augenblick, in dem ich meine Nase zeigte, knatterten hinter mir Gewehrschüsse. Kugeln zischten an uns vorbei und hackten große Stücke Holz aus einem Baum zu meiner Linken. Corrie keuchte und Kevin schrie auf. Es war, als hätte ich vor Angst den Boden unter den Füßen verloren. Einen Augenblick lang hatte ich keinen Kontakt mit der Erde mehr. Es war ein seltsames Gefühl, als hätte ich aufgehört zu existieren. Dann stürzte ich zur Straßenecke, rollte durch das Gras und wand mich wie ein Ohrwurm in Sicherheit. Ich drehte mich sofort um und wollte Kevin und Corrie rufen, aber in diesem Augenblick landeten sie schon auf mir und nahmen mir den Atem.

»Gib Gas«, sagte Kevin und zog mich hoch. »Sie kommen.«

Obwohl ich keine Luft in der Lunge hatte, begann ich irgendwie zu rennen. Hundert Meter lang waren die einzigen Geräusche, die ich hörte, das Rasseln meiner Lunge und der dumpfe Aufschlag meiner Füße auf dem Fahrdamm. Obwohl wir vorher sehr logisch beschlossen hatten uns zu trennen, wenn man uns jagte, wusste ich jetzt, dass ich es nicht tun würde. In diesem Augenblick hätte mich nur eine Kugel von diesen zwei Menschen trennen können. Plötzlich waren sie zu meiner Familie geworden.

Kevin schaute die ganze Zeit zurück. »Runter von der Straße«, keuchte er, gerade als ich wieder etwas Luft bekam. Wir bogen in irgendeine Auffahrt ein. Gleichzeitig hörte ich jemanden schreien. Ein Feuerstoß ließ wie ein plötzlicher kurzer Sturm mit ungeheurer Gewalt Kugeln durch die Zweige schlagen. Mir wurde klar, dass wir Mrs Alexanders Auffahrt entlangrannten. »Ich kenne diesen Platz«, sagte ich zu den anderen. »Folgt mir.« Ich hatte zwar keinen Plan, aber ich wollte niemandem durch die Dunkelheit folgen, der nicht wusste, wo er hinging. Ich handelte noch immer in reiner Panik. Ich führte sie über den Tennisplatz und versuchte verzweifelt zu denken. Es genügte nicht, dass wir rannten. Diese Leute waren bewaffnet, sie würden schnell sein, sie konnten mühelos Unterstützung anfordern. Unser einziger Vorteil war, dass sie nicht wussten, ob wir bewaffnet waren oder nicht. Vielleicht nahmen sie sogar an, dass wir sie in einen Hinterhalt führten. Hoffentlich taten sie das. Ich hätte sie sehr gerne in einen Hinterhalt geführt.

Wir gelangten zur Hinterseite des Hauses, wo es dunkler war. Erst jetzt wurde mir klar, dass ich zwar über Hinterhalte nachdachte, Kevin und Corrie aber gleichzeitig in eine Falle führte. Es gab keinen hinteren Zaun und kein hinteres Tor, nur eine Reihe alter Gebäude. Im vorigen Jahrhundert waren sie die Unterkünfte der Dienerschaft, eine Küche und eine Waschküche gewesen. Jetzt wurden sie als Garagen, Schuppen für Gartengeräte und Lagerräume verwendet. Ich hielt die beiden auf. Ich erschrak fürchterlich, weil sie so absolut geschockt aussahen – ich musste natürlich genauso aussehen. Ihre Zähne und Augen schimmerten und ihr unbeherrschtes Keuchen schien die Nacht zu erfüllen wie ein dämonischer Wind. Mein Gehirn versagte den Dienst. Mein einziger Gedanke war, dass uns meine Überheblichkeit das Leben kosten konnte, denn indem ich so sicher war, den Weg zu kennen, hatte ich den anderen keine Wahl gelassen, als mir zu folgen. Ich wusste nicht, ob den anderen meine Dummheit überhaupt bewusst war. Ich zwang mich zu sprechen, obwohl meine Zähne klapperten. Ich wusste nicht einmal, was ich ihnen sagen sollte, und meine Wut auf mich entlud sich als Zorn über sie. Ich bin nicht besonders stolz auf mein Verhalten in dieser Nacht. »Haltet den Mund! Haltet den Mund und hört mir zu«, sagte ich. »Um Himmels willen. Wir haben nur zwei Minuten. Dieser Garten ist sehr groß. Sie werden in der Dunkelheit nicht in ihm herumrennen. Sie sind uns gegenüber ein wenig unsicher.«

»Ich habe mir das Bein verletzt«, stöhnte Corrie.

»Was, du bist doch nicht angeschossen worden?«

»Nein, ich bin dahinten gegen etwas gerannt.«

»Das ist ein fahrbarer Rasenmäher«, sagte Kevin. »Ich konnte ihm gerade noch ausweichen.«

Eine Gewehrsalve unterbrach uns. Sie war erschreckend laut. Wir sahen das Aufblitzen des Mündungsfeuers. Während wir sie zitternd beobachteten, erkannten wir ihre Taktik. Sie blieben zusammen, bewegten sich durch den Garten und feuerten auf alles, wo eine Person sich verstecken konnte: ein Busch, ein Holzkohlengrill, ein Komposthaufen. Wahrscheinlich hatten sie gemerkt, dass wir keine Waffen besaßen, aber sie waren noch immer vorsichtig.

Ich bemühte mich Luft zu bekommen und zu atmen. Endlich begann ich wieder zu denken. Aber mein Gehirn arbeitete wie meine Lunge, in großen, keuchenden Ausbrüchen. »Ja, Benzin ... wir könnten ihn rollen ... nein, dadurch würden sie Zeit gewinnen ... aber wenn er dort bleibt ... Streichhölzer ... ein Meißel oder etwas Ähnliches ...«

»Was zum Teufel redest du da, Ellie?«

»Sucht Streichhölzer oder ein Feuerzeug. Und einen Meißel. Und einen Hammer. Rasch. Rasch. Versucht es mit den Schuppen.«

Wir trennten uns und liefen zu den dunklen Gebäuden. Corrie hinkte. Ich landete in einer Garage. Ich tastete herum, fand die glatten, kalten Linien eines Wagens und ging schnell zur Beifahrertür. Die Tür war nicht versperrt; wie die meisten Bewohner von Wirrawee machte sich Mrs Alexander nicht die Mühe, ihre Autos zu versperren. Jeder vertraute jedem. Das war etwas, was sich nun für immer ändern würde. Als ich die Tür öffnete, ging zu meinem Entsetzen die Innenbeleuchtung an. Ich fand den Schalter, drehte sie ab, blieb dann stehen und wartete darauf, dass Kugeln die Wände des Gebäudes durchschlugen. Nichts geschah. Ich öffnete das Handschuhfach, das ebenfalls beleuchtet war, aber das Licht war schwach; ich brauchte es trotzdem. Und da lag sie glücklicherweise – eine Streichholzschachtel. Gott sei Dank war Mrs Alexander Kettenraucherin. Ich schnappte die Streichhölzer, schlug das Handschuhfach zu und rannte aus der Garage. In meiner Aufregung vergaß ich, dass die Soldaten draußen auf mich warten könnten. Aber sie taten es nicht, nur Kevin stand vor mir.

»Ich habe Hammer und Meißel.«

»O Kevin, ich liebe dich.«

»Das habe ich gehört«, flüsterte Corrie aus der Dunkelheit.

»Bringt mich zu dem Rasenmäher«, sagte ich.

Vorher hatten ihn zwei Leute gefunden, als sie es nicht wollten. Jetzt wollten drei Leute ihn finden und keiner konnte es. Zwei qualvolle Minuten vergingen. Meine Haut wurde immer kälter. Es war, als würden eisige Insekten darüberkriechen. Schließlich dachte ich: »Das ist hoffnungslos. Wir müssen aufgeben.«

Aber wie eine eigensinnige Idiotin sah ich mich noch immer um.

Dann flüsterte Corrie wieder: »Hier herüber.«

Kevin und ich kamen gleichzeitig an. In diesem Augenblick leuchtete irgendwo in der Nähe der Veranda eine Taschenlampe auf. »Sie kommen«, sagte ich. »Schnell. Helft mir, ihn zu schieben. Aber leise.«

Wir schafften ihn an den Rand der Auffahrt in die Nähe der Ziegelmauer von Mrs Alexanders Atelier.

»Wozu brauchst du Hammer und Meißel?«, flüsterte Kevin eindringlich.

»Um ein Loch in den Benzintank zu machen«, sagte ich. »Aber ich glaube, es wird zu viel Lärm machen.«

»Wozu brauchst du ein Loch?«, fragte Kevin. »Warum schraubst du nicht einfach den Tankdeckel ab?«

Ich kam mir schrecklich dumm vor. Später wurde mir klar, dass ich noch viel dümmer gewesen war, denn Hammer und Meißel hätten einen Funken verursacht, der uns alle in die Luft gejagt hätte.

Kevin hatte begriffen, was ich wollte, und schraubte den Deckel ab.

»Wir müssen hinter der Mauer sein«, flüsterte ich. »Und wir brauchen eine Benzinspur zur Mauer.« Er nickte, zog sein T-Shirt aus und schob es in den Tank, damit es sich voll sog. Dann verschloss er den Tank wieder und verwendete sein Shirt, um eine flüssige Fährte bis zur Mauer zu legen. Wir hatten nur noch Sekunden. Wir hörten das Knirschen des Schotters unter leisen, drohenden Füßen und gelegentlich eine gemurmelte Bemerkung. Ich konnte eine männliche und eine weibliche Stimme unterscheiden. Die Taschenlampe leuchtete wieder auf, genau an der Ecke der Auffahrt.

Kevins Stimme atmete in mein Ohr. »Wir müssen sicher sein, dass sie alle zusammen sind.«

Ich nickte. Mir war dieses Problem auch gerade bewusst geworden. Ich konnte nur zwei dunkle Gestalten ausmachen, aber ich nahm an, dass wir von den drei patrouillierenden Posten gejagt wurden, die wir vorher gesehen hatten. Kevin bestätigte es mir, indem er in mein Ohr hauchte: »Ich habe drei auf der Straße gesehen.«

Ich nickte wieder, dann holte ich tief Luft und gab ein kurzes, schwaches Stöhnen von mir. Die Wirkung auf die beiden Soldaten war dramatisch. Sie wandten sich uns zu, als hätten sie Antennen. Ich keuchte leise und schluchzte kurz. Einer der Soldaten, der Mann, rief etwas in einer Sprache, die ich nicht kannte, und einen Augenblick später kam der dritte Soldat durch die Baumreihe und schloss sich ihnen an. Sie sprachen einen Augenblick miteinander und deuteten in unsere Richtung. Inzwischen mussten sie wissen, dass wir unbewaffnet waren, sonst hätten wir mittlerweile sicherlich einige Schüsse abgefeuert. Sie verteilten sich ein wenig und kamen langsam auf uns zu. Ich wartete und wartete, bis sie etwa drei Meter vom Mäher entfernt waren. Das kleine, niedrige, dunkle Gerät schien sie förmlich aufzufordern, es zu beachten. Ich sah ihre Gesichter zum ersten Mal. Dann entzündete ich das Streichholz.

Es brannte nicht.

Meine Hand, die bis dahin sehr ruhig gewesen war, begann zu zittern. ›Wir werden gleich sterben, nur weil ich kein Streichholz anzünden konnte‹, dachte ich. Das war unfair, beinahe lächerlich. Ich versuchte es wieder, zitterte aber zu sehr. Die Soldaten waren schon fast am Mäher vorbei. Kevin packte mich am Handgelenk. »Tu es«, murmelte er wild in mein Ohr. Die Soldaten hatten Kevin offenbar gehört, denn ihre angespannten Gesichter wandten sich wieder in unsere Richtung. Ich versuchte es zum dritten Mal und war so gut wie sicher, dass nicht mehr genügend Schwefel darauf war, um es zu entzünden. Aber es flammte auf, machte ein kratzendes Geräusch und ich warf es auf den Boden. Ich warf es zu schnell; ich weiß nicht, wieso es nicht ausging. Eigentlich hätte es ausgehen müssen und tat es auch fast. Einen Augenblick lang erstarb es zu einem kleinen Lichtpunkt und wieder dachte ich: »Wir sind tot und es ist allein meine Schuld.« Dann begann das Benzin zu brennen.

Die Flammen liefen stolpernd und ruckartig die Benzinspur entlang wie eine stotternde Schlange, aber sehr schnell. Die Soldaten sahen es natürlich. Sie drehten sich um, schauten, schienen zurückzuzucken. Aber in ihrer Überraschung bewegten sie sich zu langsam, genau wie es bei mir der Fall gewesen wäre. Einer hob den Arm, als wolle er auf etwas zeigen. Der zweite beugte sich beinahe in Zeitlupe zurück. Das ist das letzte Bild, das ich von ihnen habe, denn Kevin zog mich zurück hinter die Ziegelwand und einen Augenblick später wurde der Mäher zu einer Benzinbombe. Die Nacht schien zu explodieren. Die Mauer schwankte, dann kam sie wieder zur Ruhe. Ein kleiner, orangefarbener Feuerball schoss in die Dunkelheit hinauf, während kleine, brennende Leuchtspur-Geschosse davonflogen. Der Lärm war schrill, laut und angsteinflößend. Er tat meinen Ohren weh. Ich sah Schrapnellreste, die in die Bäume rasten, und ich hörte und spürte den Aufprall kleiner Splitter auf der Mauer, hinter der wir uns versteckten. Dann zupfte Kevin an mir und sagte: »Lauf, lauf!«

Gleichzeitig begannen auf der anderen Seite der Mauer die Schreie.

Wir liefen zwischen den Obstbäumen hindurch, dann schräg über den Hang, an dem Hühnerstall vorbei und erreichten Mrs Alexanders vorderen Gartenzaun an der Ecke, wo er an den Nachbargarten stößt. Die Schreie hinter uns zerrissen die Nacht. Ich hoffte, dass die Schreie leiser werden würden, je schneller und je weiter wir rannten, aber das taten sie nicht. Ich wusste nicht, ob ich sie nur in meinen Ohren oder auch in meinem Gehirn hörte.

»Wir haben gerade noch Zeit«, keuchte Corrie hinter mir.

Ich brauchte eine Minute, um zu begreifen, was sie meinte: Zeit, um die anderen zu treffen.

»Wir können direkt hingehen«, rief Kevin.

»Wie geht es deinem Bein, Corrie?«, fragte ich und vesuchte erfolglos in die normale Welt zurückzukehren.

»Okay«, antwortete sie.

Uns kamen Scheinwerfer entgegen und wir duckten uns in einen Garten, während ein Lastwagen mit hoher Geschwindigkeit vorüberfuhr. Es war ein offener Lastwagen aus einem Geschäft in Wirrawee, aber statt Gartengeräten waren Soldaten auf ihm. Allerdings nur zwei.

Wir liefen weiter, erreichten die Warrigle Street, liefen dann die steile Auffahrt zu den Mathers hinauf und trafen überhaupt keine Vorsichtsmaßnahmen. Wir kämpften jetzt um Atem. Meine Beine fühlten sich müde und langsam an. Sie schmerzten wirklich. Ich blieb stehen und wartete auf Corrie, dann gingen wir gemeinsam weiter und hielten uns dabei an den Händen. Wir konnten nichts mehr tun, nicht schneller gehen oder gegen noch jemanden kämpfen.

Homer und Fi waren da; sie waren von sieben Fahrrädern umgeben. Die mühsamen Zeiten waren vorbei, aber ironischerweise gab es jetzt, da wir genügend Fahrräder hatten, nur fünf, die mit ihnen fahren konnten. Denn es gab kein Zeichen von Lee und Robyn. Es war drei Uhr fünfunddreißig und vom Hügel aus sahen wir, wie Fahrzeuge das Messegelände verließen; sie fuhren alle zur Racecourse Road. Eines davon war die Wirrawee-Ambulanz. Wir konnten nicht mehr warten. Mit ein paar müde gemurmelten Worten – vor allem um zu erfahren, dass auch Fis Haus leer gewesen war – stiegen wir auf die Fahrräder und strampelten den Hügel hinunter. Ich weiß nicht, wie es den anderen ging, aber ich hatte den Eindruck, dass ich nicht vom Fleck kam. Ich stand auf und zwang meine Beine zu beschleunigen. Als uns wärmer wurde, wurden alle schneller. Ich weiß nicht, woher wir die Energie nahmen, aber das einfache Bedürfnis mit den anderen Schritt zu halten, nicht zurückgelassen zu werden, zwang mich dazu, mein Tempo zu steigern. Als wir endlich an dem Schild Willkommen in Wirrawee vorüberkamen, waren wir so schnell unterwegs wie Fledermäuse aus der Hölle.