Siebzehntes Kapitel

Robyn, Kevin, Corrie und Chris strahlten. Es war nicht schwer zurückzustrahlen. Es war so eine Erleichterung, so eine Freude, sie wiederzusehen. Ich umarmte sie verzweifelt; erst jetzt wurde mir bewusst, welche Angst ich um sie gehabt hatte. Aber diesmal schien alles gut gegangen zu sein. Es war wunderbar.

Sie hatten Homer und Fi nicht viel erzählt, weil sie müde waren und für Lee und mich nicht alles wiederholen wollten. Sie sagten nur, dass sie niemanden von unseren Familien gesehen hatten, aber man hatte ihnen gesagt, dass sie in Sicherheit und auf dem Messegelände waren. Diese Nachricht war eine solche Erleichterung, dass ich mich rasch hinsetzte, als hätte sie mich umgehauen. Lee lehnte an einem Baum und hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Alles andere war für uns unwichtig. Wir hatten unzählige Fragen, aber wir sahen, wie erschöpft sie waren, und ließen sie deshalb zuerst frühstücken, bevor sie uns mehr erzählten. Nach dem ausgiebigen Frühstück – sogar mit ein paar frischen, schnell und gefährlich auf einem sofort wieder gelöschten kleinen Feuer gekochten Eiern – machten sie es sich, voll von Essen und Adrenalin, bequem und begannen zu erzählen. Robyn redete am meisten. Als sie aufbrachen, war Robyn bereits die inoffizielle Führerin der Gruppe gewesen und es war interessant zu sehen, wie fest sie jetzt alles in der Hand hatte. Lee und ich saßen Händchen haltend auf einem Baumstamm, Fi saß zwischen Homers ausgestreckten Beinen und Kevin lag auf dem Boden und hatte den Kopf in Corries Schoß gebettet. Und obwohl ich mich noch immer fragte, ob ich vielleicht Lust gehabt hätte, mit Fi zu tauschen, war ich ziemlich glücklich. Es war zu schade, dass Chris und Robyn sicherlich kein Paar werden würden, sonst wäre es die perfekte Gruppe gewesen.

Chris hatte einige Päckchen Zigaretten und zwei Flaschen Portwein mitgebracht, als Souvenir, wie er es nannte. Er saß auf dem Baumstamm neben mir, bis er sich eine Zigarette anzündete und ich ihn höflich bat zu übersiedeln. Ich fragte mich unwillkürlich, wie weit er mit dieser Souvenir-Idee gehen würde. Ich dachte an alles, worüber ich in der letzten Nacht nachgedacht hatte. Wenn wir vorhatten, die Gesetze des Landes außer Acht zu lassen, mussten wir stattdessen unsere eigenen Richtlinien festlegen. Die Gesetze, die wir bereits gebrochen hatten, waren für mich kein Problem – bis jetzt hätte man uns Diebstahl, Fahren ohne Führerschein, vorsätzliche Sachbeschädigung, tätlichen Angriff, fahrlässige Tötung, vielleicht sogar Mord, Missachtung von Verkehrszeichen, Fahren ohne Licht, Einbruch und was weiß ich noch alles zur Last legen können. Und es schien, als würden wir demnächst auch das Alkoholverbot für Jugendliche verletzen – nicht zum ersten Mal in meinem Leben, wie ich zugeben muss. Auch das störte mich nicht – ich fand immer, dass dieses Gesetz typisch für die Dummheit der meisten Gesetze ist. Die Vorstellung, dass man mit siebzehn Jahren, elf Monaten und neunundzwanzig Tagen zu unreif ist, Alkohol anzurühren, sich einen Tag später aber hemmungslos besaufen kann, ist nicht gerade gescheit. Trotzdem gefiel es mir nicht, dass Chris immer und überall Alkohol und Zigaretten mitgehen lassen würde, wenn er Lust dazu hatte. Wahrscheinlich kam es daher, dass sie nicht so lebenswichtig waren wie die Dinge, die wir mitgenommen hatten. Ich gebe zu, dass ich bei den Grubers Schokolade eingesteckt hatte, was keinen großen Unterschied macht, außer dass wir früher bei Ausflügen Schokolade bekommen hatten, um bei Kräften zu bleiben. Man konnte also über Schokolade wenigstens etwas Gutes sagen. Bei Portwein oder Nikotin war das nicht der Fall.

Ich fragte mich, was passieren würde, wenn Chris etwas Stärkeres in die Hölle mitbrachte oder versuchte hier Rauschgift oder etwas Ähnliches anzubauen. Aber inzwischen begann Robyn mit ihrer großen Rede, deshalb hörte ich auf über Moral nachzudenken und konzentrierte mich auf sie.

»Okay, Jungs und Mädels«, begann sie. »Alle bereit fürs Geschichtenerzählen? Wir haben zwei höchst interessante Tage hinter uns. Obwohl«, fügte sie hinzu und sah Lee und mich sowie Homer und Fi an, »ihr offenbar auch zwei interessante Tage hattet. Es ist vielleicht nicht gut, euch noch einmal allein hier zurückzulassen.«

»Komm schon, Mum, erzähl weiter«, sagte Homer.

»In Ordnung, aber ich beobachte euch, vergesst das nicht. Wo soll ich anfangen? Wir haben bereits erzählt, dass wir niemanden von unseren Familien gesehen haben, aber wir haben von ihnen gehört. Die Leute, mit denen wir gesprochen haben, haben geschworen, dass es allen gut geht. Angeblich ist jeder auf dem Messegelände gut in Schuss. Was wir neulich so scherzhaft dahingesagt haben, ist tatsächlich wahr: Sie haben jede Menge Essen. Sie haben das Teegebäck, die verzierten Torten, die Biskuitkuchen, das selbst gebackene Brot, die pikanten Eier und die neu kreierten Torten gegessen ... Habe ich etwas ausgelassen?«

»Die Obstkuchen«, sagte Corrie, die eine Expertin auf diesem Gebiet war. »Die Marmeladen, das Eingemachte, das Eingepökelte. Die Kekse.«

»Okay, okay«, sagten ungefähr drei Zuhörer gleichzeitig.

»Und«, fuhr Robyn fort, »sie essen sich durch den Viehbestand. Es ist wirklich eine Schande, weil es einige der besten Exemplare im ganzen Distrikt sind. Die Fressalien müssen einsame Spitze sein. Sie backen jeden Morgen in den Frühstücksräumen Brot – dort stehen zwei Backöfen. Eine Zeit lang waren sie knapp an Gemüse, nachdem sie die Produkte der Jungfarmer aufgegessen hatten. Ich hatte noch am Tag vor unserem Ausflug beim Aufbau mitgeholfen.«

»Du bist kein Jungfarmer«, warf ich ein.

»Nein, aber Adam ist einer.« Sie wirkte leicht verlegen.

Als unsere unreifen Pfiffe und tierischen Geräusche verstummt waren, fuhr sie unerschrocken fort.

»Aber es hat ein paar Entwicklungen gegeben. Jetzt verlassen jeden Tag Arbeitsgruppen das Messegelände. Jede Gruppe umfasst acht bis zehn Personen und wird von drei oder vier Wächtern begleitet. Sie säubern die Straßen, begraben die Leichen, holen Lebensmittel – einschließlich Gemüse – und helfen im Krankenhaus.«

»Das Krankenhaus ist also in Betrieb? Das haben wir uns gedacht.«

»Ja. Ellie hat dafür gesorgt, dass sie was zu tun haben.«

Sie hatte kaum zu Ende gesprochen, als sie es auch schon bedauerte.

»Was? Hast du etwas erfahren?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nein, nichts.«

»Komm schon, Robyn, red weiter. Was hast du gehört?«

»Es ist unwichtig, Ellie. Es hat ein paar Opfer gegeben. Das weißt du.«

»Was hast du also gehört?«

Robyn war verlegen. Ich wusste, dass es mir leidtun würde, aber ich war zu weit gegangen, um jetzt nachzugeben. »Robyn! Hör auf, mich wie ein kleines Kind zu behandeln. Erzähl's mir einfach.«

Sie verzog das Gesicht, aber sie erzählte es mir. »Die drei Soldaten, die der fahrbare Rasenmäher erwischt hat – angeblich sind zwei von ihnen gestorben. Und zwei von den Leuten, die wir überfahren haben.«

»Oh«, sagte ich. Sie hatte ruhig und emotionslos gesprochen, aber es war trotzdem ein furchtbarer Schock. Mein Gesicht war schweißnass und mir wurde schwindlig. Lee drückte fest meine Hand, aber ich spürte es kaum. Corrie setzte sich an meine andere Seite und hielt mich fest.

Nach einer Minute sagte Chris: »Es ist anders als im Kino, nicht wahr?«

»Ja«, sagte ich. »Ich bin okay. Mach weiter, Robyn.«

»Bist du sicher?«

»Ich bin sicher.«

»Im Krankenhaus gab es noch ein paar andere Verletzte. An den ersten beiden Tagen wurde viel gekämpft und zahlreiche Menschen wurden verwundet oder getötet. Soldaten und Zivilisten. Nicht auf dem Messegelände – die Überraschung war so vollständig, dass sie die ganze Anlage innerhalb von zehn Minuten einnahmen – aber in der Stadt und im Distrikt kämpften Leute, die nicht auf die Messe gegangen waren. Und es geht immer noch weiter – es gibt ein paar Guerilla-Gruppen, Leute wie du und ich, die sich herumtreiben und Patrouillen angreifen, wenn sie Gelegenheit dazu haben. Aber die Stadt an sich ist ruhig. Anscheinend haben sie alle aus ihren Verstecken gescheucht und sind überzeugt davon, die Lage unter Kontrolle zu haben.«

»Behandeln sie die Leute gut?«

»Meistens. So wurden zum Beispiel die Patienten, die am Tag der Invasion im Krankenhaus waren, dortbehalten und betreut. Die Leute, mit denen wir gesprochen haben, sagen, dass die Soldaten darauf bedacht sind sich nichts zu Schulden kommen zu lassen. Sie wissen, dass früher oder später die Vereinten Nationen und das Rote Kreuz auftauchen werden, und wollen nicht unbedingt Schwierigkeiten mit ihnen bekommen. Sie sprechen noch immer von einer sauberen Invasion. Sie glauben, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Länder wie Amerika sich einmischen, geringer ist, wenn nicht von Konzentrationslagern, Foltern, Vergewaltigungen und solchen Sachen geredet wird.«

»Ganz schön schlau«, sagte Homer.

»Ja. Aber trotzdem hat es allein um Wirrawee herum etwa vierzig Tote gegeben. Zum Beispiel Mr Althaus. Die ganze Francis-Familie. Mr Underhill. Mrs Nasser. John Leung. Und etliche Leute sind verprügelt worden, weil sie Befehle nicht befolgt haben.«

Geschockte Stille trat ein. Mr Underhill war der einzige Tote, den ich gut gekannt hatte. Er war der Juwelier der Stadt. Er war ein so sanfter Mensch, dass ich mir nicht vorstellen konnte, womit er die Soldaten verärgert haben sollte. Vielleicht hatte er versucht sie an der Plünderung seines Ladens zu hindern.

»Mit wem habt ihr also gesprochen?«, fragte Lee.

»Dazu wollte ich gerade kommen. Ich erzähle wild durcheinander. Es passierte also Folgendes. Wir gelangten in der ersten Nacht problemlos in die Stadt. Gegen ein Uhr dreißig erreichten wir das Haus meiner Musiklehrerin. Der Schlüssel lag an der üblichen Stelle. Es ist ein gutes Versteck, wie ich schon sagte, weil es so viele Türen und Fenster gibt, durch die man hinauskann. Eine gute Fluchtroute führt zum Beispiel durch ein oberes Fenster, so dass man übers Dach gehen und von dort auf einen dicken Ast steigen kann, und Sekunden später ist man beim Nachbarhaus. Außerdem kann man als Wachposten die Straße und die Auffahrt überblicken und niemand kommt ohne Panzer über den hinteren Zaun. Das war also okay. Nachdem wir das Haus unter die Lupe genommen hatten, suchten wir uns eine Art Ausrüstung zusammen und errichteten das vorgetäuschte Lager unter der Masonic Hall. Das machte ziemlichen Spaß – wir legten ein paar Zeitschriften, Fotos und Teddybären hin, damit es echt aussah. Dann übernahm Kevin die erste Wache und wir Übrigen gingen zu Bett.

Gegen elf Uhr vormittags stand ich Wache und sah auf der Straße plötzlich einige Leute. Es waren ein Soldat und zwei unserer Leute. Einer von ihnen war Mr Keogh, der früher am Postamt gearbeitet hat.«

»Du meinst den alten Mann ohne Haare?«

»Ja. Ich glaube, er ist vergangenes Jahr in Pension gegangen. Wie ihr euch vorstellen könnt, weckte ich natürlich rasch die anderen und wir beobachteten sie, während sie die Straße abklapperten. Es waren insgesamt drei Soldaten und sechs unserer Leute. Sie hatten einen Lieferwagen und einen Lastwagen mit und es sah so aus, als würden sie aus jedem Haus irgendwelche Sachen herausholen. Es gingen immer zwei in das Haus, während die Soldaten draußen herumlungerten. Die Leute waren etwa zehn Minuten in jedem Haus und kamen dann mit vollen Müllsäcken wieder. Manche Säcke warfen sie direkt auf den Lastwagen, aber andere wurden von den Soldaten überprüft und auf den Lieferwagen gelegt.

Als sie in unsere Nähe kamen, versteckten wir uns an verschiedenen Plätzen des Hauses und warteten auf sie. Ich war in der Küche, in einem Besenschrank. Ich hatte etwa zwanzig Minuten gewartet, als Mr Keogh hereinkam. Er öffnete die Kühlschranktür und fing an, den stinkenden, verfaulten Inhalt auszuräumen. Bei unserem Eintreffen um ein Uhr dreißig waren wir nicht im Stande gewesen, diese Arbeit auf nüchternen Magen zu erledigen.

›Mr Keogh‹, flüsterte ich. ›Ich bin Robyn Mathers.‹ Er blinzelte nicht einmal. Dieser Kerl ist vielleicht cool, dachte ich. Dann fiel mir ein, dass er fast vollkommen taub ist. Er hatte mich nicht gehört. Also öffnete ich die Tür des Besenschranks, schlich hinter ihn und klopfte ihm auf die Schulter. Na ja. Chris hat vorher gesagt, dass der Krieg nicht so ist wie im Kino, aber hier war er es. Er zuckte zusammen, als hätte er einen Strom führenden Draht berührt. Ich musste ihn beruhigen. Ich dachte: ›Hilfe, hoffentlich bekommt er keinen Herzanfall.‹ Aber er beruhigte sich. Dann sprachen wir sehr schnell. Er musste arbeiten, während wir redeten – wenn er zu lange brauchte, würden die Soldaten misstrauisch werden und hereinkommen. Seine Aufgabe war es, die Häuser wieder bewohnbar zu machen, indem er verfaultes Essen und tote Haustiere wegschaffte und Wertgegenstände, zum Beispiel Schmuck, einsammelte. Er erzählte mir von unseren Familien und all dem anderen Zeug. Die Arbeitsgruppen würden sehr bald auch aufs Land gehen, sich um das Vieh kümmern und die Farmen wieder in Gang bringen. Sie wollen das ganze Land mit ihren eigenen Leuten besiedeln, alle Farmen werden zwischen ihnen aufgeteilt werden und wir werden nur niedrige Arbeiten verrichten dürfen, zum Beispiel Klos putzen, nehme ich an. Dann musste er gehen, aber er sagte mir, dass sie nach der Barrabool Avenue die West Street machen würden, und wenn ich dort in ein Haus hineinkonnte, würden wir mehr miteinander reden können. Und weg war er.

Als das Haus wieder leer war, hielten wir rasch eine Konferenz ab. Kevin hatte mit einer Mrs Lee gesprochen, die in das Schlafzimmer gekommen war, in dem er sich versteckt hatte, und von ihr hatte er weitere Informationen erhalten. Wir einigten uns also darauf, in die West Street zu gehen und es wieder zu versuchen. Wir gelangten mühelos hin, indem wir durch die Gärten der Leute gingen, und versuchten es bei einigen Häusern. Die ersten zwei waren noch zugesperrt, aber das dritte war offen, also verteilten wir uns dort. Ich verschwand unter dem Bett im Schlafzimmer. Chris stand Wache und meldete es uns, als sie nahe waren, was beinahe zwei Stunden dauerte. Es war ganz schön langweilig. Wenn ihr wissen wollt, wie die Lattenroste der Leute in der West Street 28 aussehen, kann ich es euch sagen. Aber schließlich kam jemand herein. Es war eine Frau, die ich nicht kannte, aber sie hatte einen grünen Sack, ging zum Frisiertisch und begann Zeugs aus den Laden zu schaufeln. Ich flüsterte: ›Entschuldigen Sie, ich heiße Robyn Mathers‹, und sie flüsterte, ohne sich umzusehen: ›Oh, gut, Mr Keogh sagte mir, ich solle auf euch junge Leute achten.‹ Wir redeten einige Minuten, während ich noch immer unter dem Bett lag und nur den Kopf hinaussteckte. Sie sagte, sie hasse diese Arbeit, aber die Soldaten überprüften nachher gelegentlich die Häuser, und wenn sie irgendetwas Wertvolles zurückgelassen hatten, wurden sie bestraft. ›Manchmal verstecke ich etwas in dem Raum, wenn es wie ein Familien-Erbstück aussieht‹, erklärte sie, ›aber ich weiß nicht, ob das auf lange Sicht eine Rolle spielen wird.‹ Sie erzählte mir auch, dass sie für die Arbeitsgruppen die am wenigsten gefährlichen Leute aussuchten – hauptsächlich alte Leute und Kinder –, und diese wussten, dass ihre Familien am Messegelände bestraft werden würden, wenn jemand zu fliehen versuchte oder sonst etwas Verbotenes tat. ›Deshalb will ich nicht lange mit dir reden, Liebes‹, sagte sie. Sie war ein lieber alter Schatz. Sie erzählte mir auch, dass der von Cobblers Bay ausgehende Highway der Schlüssel zu allem ist. Deshalb haben sie diesen Distrikt so hart und so früh angegriffen. Sie bringen den Nachschub per Schiff nach Cobblers Bay und schicken ihn dann per Lastwagen über den Highway.«

»Genau wie ich gesagt habe«, warf ich ein. Ich hatte mich nie für ein militärisches Genie gehalten, aber es freute mich, dass ich hier Recht behalten hatte.

Robyn fuhr fort. »Jedenfalls plauderten wir miteinander wie alte Bekannte. Sie erzählte mir sogar, dass sie halbtags in der Apotheke als Putzfrau gearbeitet hat, wie viele Enkel sie hat und wie sie heißen. Anscheinend hatte sie vergessen, dass sie nur kurz mit mir reden wollte. Noch zwei Minuten und sie hätte mich in die Küche geführt und mir eine Tasse Tee angeboten, aber plötzlich wurde mir klar, dass leise kleine Schritte durch den Korridor kamen. Ich zog den Kopf ein wie eine Schildkröte, aber ich sage euch, ich habe mich schneller bewegt als jede Schildkröte. Und als Nächstes waren diese Militärstiefel dicht neben dem Bett. Schwarze Schuhe, aber sehr schmutzig und abgenutzt. Es war ein Soldat und er war durch den Korridor geschlichen, um sie zu ertappen. ›Was soll ich bloß tun?‹, dachte ich. Ich versuchte mich an alle asiatischen Kampfsportarten zu erinnern, von denen ich je gehört hatte, aber mir fiel nur ein, dass ich auf die Leistengegend zielen musste.«

»Sie denkt bei keinem Kerl an etwas anderes«, sagte Kevin.

Robyn ignorierte ihn. »Ich hatte solche Angst, weil ich dieser netten alten Dame keine Schwierigkeiten bereiten wollte. Ich wusste nicht einmal, wie sie heißt. Ich weiß es noch immer nicht. Und ich wollte auch nicht, dass man mich tötet. In dieser Hinsicht bin ich komisch. Aber ich war so gelähmt, dass ich mich nicht rühren konnte. Ich hörte den Kerl sehr misstrauisch etwas wie ›du sprechen‹ sagen. Ich wusste, dass ich jetzt wirklich in Schwierigkeiten steckte, rollte über den Boden auf die andere Seite des Bettes und kroch unter der Bettdecke hinaus. Ich lag in diesem etwa einen Meter breiten Spalt zwischen Bett und Wand. Die alte Dame lachte nervös und sagte: ›Mit mir selbst. Im Spiegel.‹ Für mich klang das schwach und für den Soldaten anscheinend auch. Ich konnte mich nur auf mein Gehör und meine Vermutungen verlassen. Ich wusste, dass er den Raum durchsuchen würde und dass er damit beginnen würde, die Bettdecke hochzuheben und unters Bett zu schauen. Dann würde er um das untere Bettende herumgehen und entweder zu den Einbaumöbeln gehen oder in den kleinen Spalt hineinschauen, in dem ich lag. Es gab keine anderen Plätze in diesem Raum, wo jemand sich verstecken konnte. Es war ein kahler, nicht besonders schöner Raum. Ich lauschte auf das leise Geräusch, wenn er die Bettdecke hochheben würde, und es war so still im Zimmer, dass ich es tatsächlich hörte. Es war so still, dass ich die Herzschläge der alten Dame zu hören glaubte. Ich hörte auch mein Herz schlagen. Ich konnte kaum glauben, dass der Soldat es nicht hörte. Das Problem war aber, dass ich das zweite leise Geräusch nicht hören konnte, das er eigentlich machen sollte, wenn er die Bettdecke wieder niedersinken ließ. Ich durchlitt Höllenqualen, weil ich nicht wusste, ob er noch immer unter das Bett starrte oder ob er zu meiner Seite hinüberging. Ich lauschte so angestrengt, dass ich meine Ohren wachsen spürte. Ich hatte das Gefühl, auf beiden Seiten meines Kopfes eine Satellitenschüssel zu haben.«

»Was ja auch stimmt«, sagte Kevin, der nie eine Gelegenheit ausließ.

»Und ich hörte etwas – ein winziges Knarren seiner Schuhe – und es schien um das untere Ende des Bettes herumzugehen. Ich konnte mein Herz nicht mehr hören – es stand still. Ich dachte: ›Ich kann nicht hier liegen bleiben und darauf warten, dass er mich erschießt. Ich muss das Risiko eingehen.‹ Also rollte ich wieder unter das Bett. Eine Sekunde später sah ich seine Stiefel in der Spalte, die ich gerade verlassen hatte. Die Fransen am Rand der Bettdecke bewegten sich noch leicht, weil ich sie berührt hatte, und es war schrecklich, dazuliegen und mich zu fragen, ob er es bemerken würde, und zu denken, dass er es bemerken musste. Sie kamen mir so unübersehbar, so auffallend vor. Er schien ewig dort zu stehen. Ich weiß nicht, was er sich ansah – es gab nicht viel zu sehen, nur das Bild einer langen Brücke über eine Schlucht, in der Schweiz oder irgendwo. Dann drehten sich die Schuhe um und ich hörte ihn deutlicher; er ging zu den Schränken, öffnete und durchsuchte sie. Dann sagte er zu der Frau: ›Komm weiter, nächstes Haus‹, und sie gingen fort. Ich blieb sehr lange liegen, weil ich dachte, dass es vielleicht eine Falle war. Aber schließlich kam Kevin, fand mich und erzählte mir, dass sie gegangen waren. Trotzdem fühlte ich mich scheußlich – ich muss euch ja nicht erzählen, wie das ist.

Corrie sprach auch mit jemandem, in der Küche, nicht wahr?«, fragte sie und sah Corrie an, die leicht nickte. »Hast du dabei etwas von den Opfern bei unseren beiden Kämpfen erfahren?«

»Ja«, sagte Corrie. »Es war eine kleine Sensation. Ich sprach mit einem komischen kleinen Mann, der etwa fünfzig war. Ich weiß auch nicht, wie er heißt. Er wollte nicht lange mit mir reden. Er hatte solche Angst, dass man uns überraschen würde. Aber er erzählte mir, dass es Guerilla-Aktivitäten gab. Er hatte auch diese Theorie von der sauberen Invasion.«

»So«, sagte Robyn, »das war das Ende unserer geheimen Plaudereien mit den Arbeitsgruppen. Wir kehrten in unser Versteck zurück und blieben bis zur Dunkelheit dort.« Als sie weitersprach, sah sie Homer an. Es war, als fühlten sie sich ein wenig schuldig, aber sie waren auch auf eine trotzige Art stolz darauf, wie sie alles erledigt hatten. »Ich weiß«, sagte sie, »dass wir all diese sorgfältig ausgearbeiteten Pläne hatten mit Kev und Corrie, die ein wenig auf dem Messegelände herumspionieren sollten und so weiter, aber wenn man dort ist, sieht alles anders aus. Während der ganzen Zeit, die wir in Wirrawee waren, wollten wir einander nicht aus den Augen verlieren.«

»Junge Liebe«, sagte ich. »Wie schön.«

Robyn fuhr fort, als hätte ich nichts gesagt. »In dieser Nacht blieben wir also zusammen. Wir gingen zunächst zum Highway, um zu sehen, was dort los war. Er wird voll ausgenützt. Wir blieben eine Stunde dort und sahen in dieser Zeit zwei Konvois. Einer bestand aus vierzig Fahrzeugen, der zweite aus neunundzwanzig. Die alte kleine Landstraße ist also groß ins Geschäft eingestiegen. Nach dem Surfer-Karneval ist das sicher das Aufregendste, was sie je erlebt hat. Danach kehrten wir in die Stadt zurück und gingen zum Messegelände. Das war verdammt schaurig, wahrscheinlich wegen allem, was euch bei eurem Besuch zugestoßen ist. Es war ziemlich mutig von Corrie und Kev, überhaupt noch einmal dorthin zu gehen. Und glaubt mir, es ist ein gefährlicher Ort. Sie haben dort ihr Hauptquartier und ihre Baracken, dazu noch unsere Leute, deshalb bewachen sie es so gründlich. Auf dem Parkplatz haben sie die meisten Bäume gefällt, so dass wir keine Deckung fanden. Wahrscheinlich haben sie sie deshalb gefällt. Und sie haben in einer Entfernung von fünfzig Metern zum Hauptzaun Drahtrollen rings um das Gelände gezogen. Ich wusste gar nicht, dass es in Wirrawee so viel Stacheldraht gibt. Und sie sind mit neuen Lichtern, Flutlichtern, ausgerüstet, die das Gelände taghell beleuchten. Eine Menge sehr verwirrter Vögel fliegt dort herum. Wir konnten nur von der Racecourse Road aus hinüberspähen und das taten wir eine Stunde lang. Wir hatten viel zu viel Angst, um noch näher heranzugehen, aber ich glaube ehrlich nicht, dass es dort viel zu sehen gibt, nur eine Menge Wachposten und Patrouillen, die herummarschieren. Falls einer von euch auf die Idee kommen sollte, dort im Kampfanzug aufzutauchen, sich den Weg hinein freizuschießen und alle Gefangenen zu befreien, kann er wieder schlafen gehen. Fantasyland ist was fürs Fernsehen. Das hier ist das wirkliche Leben.«

Um ehrlich zu sein – was ich mir streng vorgenommen habe –, verfiel jeder von uns gelegentlich solchen Selbsttäuschungen. Es waren nur Tagträume, aber es waren großartige Tagträume: unsere Familien befreien, alles in Ordnung bringen, Helden sein. Aber auf eine heimliche, schuldbewusste Weise, für die ich mich schämte, fühlte ich mich erleichtert, dass dieser Tagtraum so entschieden zermalmt wurde. In Wirklichkeit war die Vorstellung, so etwas zu tun, so entsetzlich und erschreckend, dass ich mich krank fühlte, wenn ich nur daran dachte. Wir würden bestimmt sterben, wenn wir es versuchten, sterben mit zerschossenen Eingeweiden, die im Schmutz des Parkplatzes am Messegelände verstreut wären, und Schmeißfliegen würden sich von uns ernähren, während wir im Sonnenschein verfaulten. Es war ein Bild, das mir nicht aus dem Kopf ging; wahrscheinlich kam es von all den toten Schafen, die ich im Lauf der Jahre gesehen hatte.

»Wir waren ziemlich froh, von dort fortzukommen«, fuhr Robyn fort. »Wir kehrten in die Stadt zurück und flitzten wie kleine Fledermäuse herum, die versuchen mit Zahnärzten oder sonst wem Kontakt aufzunehmen. Was mich daran erinnert«, sagte sie und lächelte Lee liebevoll an, »dass es an der Zeit ist, deine Nähte zu entfernen.« Lee sah nervös aus. Ich versuchte mir den herumflitzenden Kevin vorzustellen. Das konnte man sich nur schwer ausmalen. »Doch wir fanden niemanden«, sagte Robyn. »Keine Menschenseele. Wahrscheinlich sind noch immer ein paar Leute dort, aber sie verhalten sich ruhig.« Sie grinste und entspannte sich. »Und damit ist unser Bericht an die Nation abgeschlossen. Danke und gute Nacht.«

»He, wir könnten damit selbst die Nation werden«, sagte Kevin. »Wir sind vielleicht die Einzigen, die noch frei sind, also wären wir die Regierung und alles Übrige, oder? Ich werde Premierminister sein.«

»Ich werde Polizeichef sein«, sagte Chris. Jeder von uns wählte sich einen Job oder bekam ihn zugewiesen. Homer war Verteidigungsminister und Chef des Generalstabs. Lee war wegen seines Beins Rentner des Jahres. Robyn wollte Gesundheitsministerin werden, wurde stattdessen aber Erzbischöfin. Corrie sagte: »Ich werde Ministerin für Kevin sein.« Manchmal konnte sie wirklich ekelhaft sein. Fi war Justizministerin, wegen ihrer Eltern. Ich wurde zum Poeta Laureatus ernannt, was mich wirklich freute.

Vielleicht setzte sich dadurch in Robyns Kopf die Idee fest, dass ich all dies niederschreiben sollte.

»Jetzt seid jedenfalls ihr an der Reihe«, meinte Chris irgendwann. »Was habt ihr Lieben hier getan, außer eure Bräune zu pflegen?«

Sie hatten bereits den Hühnerhof bewundert und die Eier gekostet. Aber wir erzählten ihnen den Rest, vor allem von der Hütte des Einsiedlers, die unserer Ansicht nach eine großartige Reservebasis für uns abgeben würde.

»Ich will an der Rückseite der Hölle einen Weg hinaus zum Holloway-Fluss finden«, sagte ich. »Ich bin sicher, dass dieser Bach dorthin fließt. Und wenn wir einen zweiten Weg hinaus zur Verfügung hätten, wäre unsere Lage noch sicherer. Sobald wir im Holloway sind, können wir in das gesamte Risdon-Gebiet gelangen.«

Lee und ich erzählten ihnen nichts von der Metallkassette mit den Papieren des Einsiedlers. Es gab keinen bestimmten Grund dafür. Wir hatten es nicht einmal abgesprochen. Es kam uns einfach zu persönlich vor.

»Hört mal«, sagte Kevin. »Ich habe gedacht, dass wir neben den Hühnern auch andere Tiere halten könnten. Ich bin kein Vegetarier und ich will mein Fleisch. Und ich glaube, ich habe die Lösung.«

Alle sahen ihn erwartungsvoll an. Er beugte sich vor und sagte feierlich, beinahe ehrfürchtig ein einziges Wort.

»Frettchen.«

»O nein«, kreischte Corrie. »Igitt! Sie sind widerlich. Ich hasse sie.«

Kevin war durch die Illoyalität der einzigen Person, auf die er sich normalerweise verlassen konnte, verletzt. »Sie sind nicht widerlich«, sagte er betroffen. »Sie sind sauber, sie sind intelligent und sie sind sehr freundlich.«

»Ja, so freundlich, dass sie dein Hosenbein hinaufklettern«, sagte Homer.

»Was sind sie?«, fragte Fi. »Isst man sie?«

»Ja, zwischen zwei Scheiben Brot. Und ohne sie vorher zu töten. Man isst sie lebend, während sie sich im Sandwich winden und quieken. Sie sind die frischeste Nahrung der Welt.« Das war Kevin, wenn er lustig sein wollte. Er belehrte Fi weiterhin über Frettchen, wobei sich herausstellte, dass er auch nicht viel über sie wusste.

Homer sagte: »Es stimmt, dass einige der alten Kerle um Wirrawee, pensionierte Bergleute, sich ein paar Frettchen halten und von den Kaninchen leben. Sie besitzen kein einziges Pfund, deshalb sorgen sie auf diese Weise für ihren Fleischbedarf.«

»Na also, siehst du?«, fragte Kevin und setzte sich auf die Fersen.

Es war eine ziemlich gute Idee. Ich wusste auch nicht viel über sie, außer dass man Netze brauchte, die man über alle Löcher spannte; die Kaninchen rannten dann hinein und waren gefangen. Und obwohl es hier in den Bergen nicht viele Kaninchen gab, herrschte im Distrikt nie Mangel an ihnen.

Dann fand Chris ein Haar in der Suppe. »Werden nicht alle tot sein? Die Frettchen? Wenn ihre Besitzer gefangen oder tot sind, gibt es niemanden, der sich um sie kümmert und sie am Leben erhält.«

Kevin sah selbstgefällig drein. »Für gewöhnlich ja«, sagte er. »Aber mein Onkel, der nach der Abzweigung bei Stratton wohnt, lässt sie frei herumlaufen. Er hat Massen von ihnen und er hat sie darauf dressiert zu kommen, wenn er pfeift. Sie sind wie Hunde. Wenn sie dieses Signal hören, wissen sie, dass sie etwas zu fressen bekommen. Ein paar verliert er, weil sie verwildern, aber er hat so viele, dass es ihm nichts ausmacht.«

Wir nahmen die Frettchen in die Liste der Dinge auf, die wir kaufen, tun oder untersuchen sollten.

»Holen wir uns ein bisschen Schlaf.« Homer stand auf, streckte sich und gähnte. »Vielleicht kann Ellie nach dem Mittagessen noch eine Führung zur Hütte des Einsiedlers veranstalten – für alle, die an dieser einmaligen und interessanten historischen Erfahrung teilhaben wollen. Dann stimme ich dafür, dass wir am Nachmittag Kriegsrat abhalten und unseren nächsten Schachzug besprechen.«

»Gut, du bist der Verteidigungsminister«, sagte ich.