Achtzehntes Kapitel

Der Verteidigungsminister saß auf einem Felsblock und hielt die Füße ins Wasser. Kevin lag tatsächlich im kalten Wasser und ließ es über seinen großen, behaarten Körper fließen. Fi saß oberhalb von Homers Kopf auf einem anderen Felsblock und sah wie eine kleine Göttin aus. Sie war so leicht, dass es mich nicht überrascht hätte, wenn sie plötzlich regenbogenfarbene Flügel bekommen hätte und davongeflattert wäre. Robyn lag am Ufer auf dem Rücken und las Meine glänzende Karriere. Chris saß einige Meter von mir entfernt unter einem Baum und hatte seine Zigaretten neben sich liegen.

Obwohl ich nicht wusste, ob ich sie wirklich seine Zigaretten nennen sollte.

Er betrachtete die hohen, steinigen Klippen, die wir durch die Bäume hindurch in der Ferne sehen konnten.

Corrie saß neben Robyn. Sie hatte wieder ihr Radio herausgeholt. Sie hatten neue Batterien mitgebracht, die sie in Wirrawee gefunden hatten, und Corrie probierte sie aus. Eine der Frauen, mit denen sie gesprochen hatten, hatte erwähnt, dass ein paar Piratensender gelegentlich sendeten – Nachrichten brachten und Ratschläge erteilten. Corrie versuchte es auch mit den Kurzwellen-Frequenzen, aber es war schwierig, sie bei Tag hereinzubekommen, und für Radioempfang war der Platz ohnehin ungünstig.

Ich hatte mich zusammengerollt, drückte mich an Lee und vergrub den Kopf wie ein Baby an seiner Brust. Wir hatten den größten Teil des Nachmittags damit verbracht, einander leidenschaftlich zu umarmen, zu küssen und zu berühren, bis ich das Gefühl hatte mich aufzulösen, als verschwänden die Fasern, die meinen Körper zusammenhielten. Homer hatte mich körperlich stärker angezogen. Ursprünglich waren es Lees Verstand, sein kluges, sensibles Gesicht und die Sicherheit, die er mir bot, gewesen, die mich angezogen hatten. Homer strahlte nicht gerade Sicherheit aus. Aber unter Lees ruhigem Äußeren verbarg sich ein zutiefst leidenschaftlicher Mensch. Ich war noch Jungfrau und ich wusste, dass das auch für Lee galt; eigentlich glaube ich, dass wir alle es waren, außer vielleicht Kevin. Ich bin ziemlich sicher, dass er und Sally Noack es während ihrer langen Beziehung im vergangenen Jahr regelmäßig miteinander getrieben haben. Aber wenn wir an diesem heißen Tag auf der Lichtung in der Hölle allein gewesen wären, dann hätten Lee und ich unsere Unschuld gleichzeitig verloren. Ich klammerte mich an ihn und drückte mich an ihn, als wolle ich meinen gesamten Körper in ihn hineinpressen, und mir gefiel die Art, wie ich ihn dazu bringen konnte zu stöhnen, zu keuchen und zu schwitzen. Ich mochte es, ihm Lust zu verschaffen, obwohl schwer zu sagen war, was Lust und was Schmerz war. Ich neckte ihn, berührte ihn und sagte: »Tut das weh? Das? Das?«, und er keuchte und sagte: »O Gott ... nein, ja, nein.« Aber er rächte sich. Ich bin nicht sicher, wer zuletzt lachte – oder weinte. Wenn ich normalerweise außer Kontrolle gerate, wenn ich mitgerissen werde, sei es durch Kicheranfälle oder wenn ich den Blues habe oder einen meiner berühmten Wutanfälle bekomme, kann ich noch immer neben mir stehen und lächeln und denken: ›Was für eine Verrückte.‹ Ein Teil meines Verstandes kann sich absondern, kann beobachten, was ich tue, kann darüber nachdenken und sich dessen bewusst sein. Aber nicht an diesem Nachmittag mit Lee. Ich ging irgendwo in den Stromschnellen meiner Gefühle verloren. Wenn das Leben ein Kampf gegen Gefühle ist, verlor ich ihn gerade. Es war fast erschreckend. Ich war tatsächlich erleichtert, als Homer brüllte, wir müssten mit unserer Beratung beginnen.

»Gutes Buch?«, fragte ich Robyn.

»Ja, es ist in Ordnung. Wir müssen es für Englisch lesen«, erwiderte sie.

Wir hatten uns noch immer nicht an die Tatsache gewöhnt, dass die Schule nicht an dem üblichen Tag beginnen würde. Wahrscheinlich hätten wir bei dem Gedanken, nicht zur Schule zu gehen, begeistert sein müssen, aber wir waren es nicht. Ich wollte meinen Verstand wieder verwenden, mit neuen Ideen und schwierigen Theorien ringen. Damals beschloss ich Robyns Beispiel zu folgen und einige der schwierigeren Bücher zu lesen, die wir mitgenommen hatten. Eines mit dem Titel Der scharlachrote Buchstabe sah spannend aus.

»Wir müssen weitere Entscheidungen treffen, Freunde«, begann Homer. »Ich habe alle fünf Minuten zum Himmel hinaufgeschaut und darauf gewartet, dass die Amerikaner mit ihren großen grünen Helikoptern landen, aber noch ist keine Spur von ihnen zu sehen. Und Corrie hat noch keine neuen Kurzmeldungen gehört, laut denen vielleicht Hilfe unterwegs ist. Wir werden also noch etwas länger allein durchhalten müssen.

So wie ich es sehe, haben wir jetzt, da wir ein bisschen mehr über das Ganze wissen, folgende Möglichkeiten. Erstens: Wir können hier sitzen bleiben und nichts tun. Das hat nichts mit Feigheit zu tun und es gibt vieles, was dafür spricht. Wir sind für solche Sachen nicht ausgebildet und es ist für uns, für unsere Familien und sogar für unser Land wichtig, dass wir am Leben bleiben. Zweitens: Wir könnten versuchen unsere Familien und vielleicht auch andere Leute aus dem Messegelände herauszuholen. Das ist schwierig und übersteigt unsere Möglichkeiten vermutlich bei weitem. Ich meine, wir haben Gewehre und Schrotflinten, aber im Vergleich zu dem, was diese aufgeblasenen Kerle verwenden, sind das Knallbüchsen. Drittens: Wir können etwas tun, um den Guten zu helfen. Die Guten sind wir, sollte ich vielleicht hinzufügen – falls irgendjemand nicht mitkommt.« Er grinste Robyn an. »Wir könnten uns irgendwie daran beteiligen und so dazu beitragen, dass wir den Krieg gewinnen und unser Land zurückbekommen. Es gibt natürlich noch mehr Dinge, die wir tun können, andere Alternativen, wie zum Beispiel einen anderen Standort suchen oder uns ergeben, aber die liegen so fern, dass sie keine Diskussion wert sind, obwohl wir natürlich darüber reden können, wenn jemand das will.

So sieht es aus, das ist die Realität, das ist, was ich glaube. Drei Wahlmöglichkeiten und ich glaube, es ist an der Zeit, uns für eine davon zu entscheiden und dabeizubleiben.« Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und steckte die Füße wieder ins Wasser.

Es blieb lange still, dann kam Robyn seiner Aufforderung nach.

»Ich weiß noch immer nicht, was an dieser Sache richtig oder falsch ist«, sagte sie. »Aber ich glaube nicht, dass ich monatelang hier herumsitzen kann, ohne etwas zu tun. Das ist rein emotional – ich könnte es nicht. Ich stimme mit Homer darin überein, dass das Messegelände außerhalb unserer Reichweite liegt, aber ich habe das Gefühl, dass wir hinausgehen und etwas unternehmen müssen. Andererseits möchte ich nicht, dass wir herumgehen und einen Haufen Menschen töten. Ich habe Bücher über Vietnam gelesen, wie Gefallene Engel, wo diese Frau eine Mine in der Kleidung ihres eigenen Kindes versteckt, es einem Soldaten zum Halten gibt und beide in die Luft sprengt. Ich habe noch immer Albträume davon. Ich habe bereits Albträume wegen der Menschen, die wir mit dem Lastwagen überfahren haben. Aber ich nehme an, dass meine Albträume ein kleines Leiden sind im Vergleich zu dem, was andere Menschen leiden. Meine Albträume sind einfach der Preis, den ich bezahlen muss, ich weiß.

Trotz allem, was diese Leute über eine saubere Invasion sagen, finde ich alle Kriege schmutzig, gemein und niederträchtig. Es war nichts Sauberes daran, Corries Haus in die Luft zu sprengen oder die Francis-Familie zu töten. Ich weiß, dass das jetzt vielleicht ein wenig anders klingt als das, was ich vorher gesagt habe, aber das stimmt nicht. Ich kann verstehen, warum diese Leute uns überfallen haben, aber ich mag nicht, was sie tun, und ich glaube nicht, dass viel Moralisches an ihnen ist. Dieser Krieg wurde uns aufgezwungen und ich habe nicht den Mut, ein Kriegsdienstverweigerer zu sein. Ich hoffe nur, dass wir es vermeiden können, zu viel zu tun, was schmutzig, gemein und niederträchtig ist.«

Eine Zeit lang hatte dem niemand etwas hinzuzufügen. Dann sagte Fi, die blass und elend aussah: »Ich weiß logischerweise, dass wir dieses und jenes tun sollten. Aber alles, was ich weiß, ist, dass die Vorstellung, etwas zu tun, bei mir Nasenbluten hervorruft. Eigentlich will ich nur eins: zur Hütte des Einsiedlers gehen und mich unter seinem verschimmelten alten Bett verstecken, bis alles vorbei ist. Ich kämpfe wirklich mit mir, um es nicht zu tun. Wahrscheinlich werde ich, wenn es so weit ist, alles tun, was ich tun muss, aber der Hauptgrund, warum ich es tun werde, ist der Druck, mit euch mitzuhalten. Ich will euch nicht im Stich lassen. Ich würde mich schrecklich schämen, wenn ich nicht in allem, wofür wir uns entscheiden werden, mit euch mithalten kann. Ich glaube nicht, dass wir unseren Familien im Augenblick irgendwie helfen können, deshalb ist für mich am wichtigsten, dass ich euch gegenüber nicht mein Gesicht verliere. Und mich quält, dass ich nicht garantieren kann, unter Druck nicht davonzulaufen. Das Problem ist, dass ich im Augenblick solche Angst habe, dass alles passieren kann. Ich habe Angst, dass ich einfach stehen bleibe und schreie.«

»Gruppendruck unter Gleichrangigen«, sagte Lee, lächelte Fi jedoch mitfühlend an. Er hatte eine der Lieblingsphrasen unserer Klassenlehrerin Mrs Gilchrist verwendet.

»Natürlich bist du die Einzige, der es so geht«, sagte Homer. »Der Rest von uns kennt das Wort Angst nicht. Kevin kann es nicht einmal buchstabieren. Wir haben keine Gefühle. Wir sind Androiden, Terminatoren, Robocops. Wir haben einen Auftrag von Gott. Wir sind Superman, Batman und Wonder Woman.« Er fuhr ernster fort. »Nein, es ist ein großes Problem. Keiner von uns weiß, wie er reagieren wird, wenn es hart auf hart geht. Ich weiß, wie mir bis jetzt zu Mute war, wo ich nur kleine Sachen machte, wie zum Beispiel das Warten im Auto in der Three Pigs Lane. Meine Zähne klapperten so laut, dass ich den Mund zusammenpressen musste, um sie drinzubehalten. Ich weiß nicht, wieso ich nicht gekotzt habe. Ich war absolut davon überzeugt, dass ich sterben würde.«

Wir sprachen von dem Thema, über das Thema und um das Thema herum. Nach Fi waren die am wenigsten Begeisterten Chris und seltsamerweise Kevin. Bei Chris konnte ich es beinahe verstehen. Er lebte die meiste Zeit in seiner eigenen Welt, seine Eltern waren in Übersee, er hatte nicht viele Freunde. Ich glaube überhaupt, dass er Menschen nicht besonders mag. Wahrscheinlich hätte er recht glücklich in der Hütte des Einsiedlers gelebt, während Fi nach einem halben Tag verrückt geworden wäre. Aber ich hatte den Eindruck, dass Chris, genau wie Fi, bei allem mitmachen würde, was wir beschlossen. Der Grund bei ihm war, dass er weder die Energie noch die Entschlusskraft besaß, sich gegen die Gruppe zu stellen. Kevin war eher ein Rätsel, weil sich seine Haltung von einem Tag zum anderen änderte. Es gab Zeiten, in denen er blutrünstig, und Zeiten, in denen er feige wirkte. Ich fragte mich, ob es davon abhing, wie lange er nichts Gefährliches mehr unternommen hatte. Vielleicht wurde er ein bisschen stiller, wenn er vor kurzem in Aktion getreten war, suchte Deckung. Aber wenn es eine Zeit lang ruhig gewesen war, kehrte seine Aggressivität wieder.

Was mich betrifft, so herrschte in mir ein Durcheinander der verschiedensten Gefühle. Ich wäre gern fähig gewesen, ruhige, logische Entscheidungen zu treffen, das Für und Wider auf einem Stück Papier einander gegenüberzustellen, aber ich konnte meine Gefühle nicht genügend unterdrücken, um das zu tun. Wenn ich an die Kugeln und den fahrbaren Rasenmäher und die Fahrt mit dem Lastwagen dachte, schüttelte es mich und mir wurde schlecht und ich wollte schreien. Genau wie Fi und Homer und alle anderen. Ich wusste nicht, wie ich damit fertig werden würde, wenn all das wieder passierte. Vielleicht würde es leichter sein. Vielleicht schwerer.

Dennoch waren wir alle der Meinung, dass wir etwas unternehmen sollten, schon allein deshalb, weil die Vorstellung, nichts zu tun, so erschreckend war, dass wir nicht einmal daran denken konnten. Also kamen wir mit einigen Ideen daher. Allmählich sprachen wir immer öfter über die Straße, die von Cobblers Bay ausging. Anscheinend spielte sich dort am meisten ab. Wir beschlossen, in der nächsten Nacht, wenn Homer, Fi, Lee und ich uns auf den Weg machen würden, unsere Aufmerksamkeit auf diesen Punkt zu konzentrieren.

Ich verließ die Besprechung, ließ alle, auch Lee, sitzen und ging ein gutes Stück den Weg hinauf. Schließlich saß ich am heißen Spätnachmittag auf einer der Satansstufen. Ich hörte den Bach, der oberhalb von mir über eine Felsstufe floss. Ich hatte etwa zehn Minuten dort gesessen, als eine Libelle nahe bei meinen Füßen landete. Ich musste inzwischen zu einem Teil der Landschaft geworden sein, denn sie schien mich zu ignorieren. Als ich sie ansah, bemerkte ich, dass sie etwas im Maul hatte. Was es auch war, es zappelte noch immer und seine kleinen Flügel flatterten. Ich beugte mich langsam vor und sah es mir näher an. Die Libelle ignorierte mich noch immer. Jetzt sah ich, dass sie einen Moskito gefangen hatte und ihn nun bei lebendigem Leib fraß. Bissen für Bissen wurde der noch immer wild kämpfende Moskito zerkaut. Ich sah fasziniert zu, bis er gänzlich verschwunden war. Die Libelle blieb noch eine Minute sitzen und flog dann davon.

Ich lehnte mich wieder an den Felsen. So ging es in der Natur also zu. Der Moskito litt und geriet in Panik, aber die Libelle wusste nichts von Grausamkeit. Sie besaß nicht genügend Vorstellungskraft, um sich an die Stelle des Moskitos zu versetzen. Sie genoss einfach ihre Mahlzeit. Die Menschen würden es als böse bezeichnen, dass die große Libelle den Moskito vernichtete und sich nicht um die Leiden des kleinen Insekts kümmerte. Aber die Menschen hassen auch die Moskitos, bezeichnen sie als bösartig und blutrünstig. All diese Worte wie schlecht und bösartig bedeuten nichts für die Natur. Ja, das Böse ist eine menschliche Erfindung.