Neuntes Kapitel

Fi weckte mich gegen elf. Darauf hatten wir uns geeinigt, aber es war wesentlich einfacher, eine Übereinkunft zu treffen, als sich daran zu halten. Ich fühlte mich schwer, dumm und langsam. Es war eine Qual, auf den Baum zu klettern. Ich stand vor dem Stamm und sah fünf Minuten lang zu ihm hinauf, bevor ich die nötige Energie aufbrachte.

Manche Leute wachen schnell auf und manche langsam. Ich wache tot auf. Aber ich weiß aus Erfahrung, dass die Energie nach und nach wiederkommt, wenn ich eine halbe Stunde durchhalte. Deshalb hockte ich lethargisch im Baumhaus, beobachtete die ferne Straße und wartete geduldig darauf, dass ich wieder zu funktionieren begann.

Sobald ich mich daran gewöhnt hatte, dort zu sitzen, war alles okay. Ich konnte kaum glauben, dass es erst zwanzig Stunden her war, seit wir aus dem Busch in diese neue Welt getreten waren. So schnell kann sich ein Leben ändern. Eigentlich hätten wir an Veränderungen gewöhnt sein müssen. Wir hatten selbst ein paar erlebt. Dieses Baumhaus zum Beispiel. Corrie und ich hatten viele Stunden unter seinem schattigen Dach verbracht, Teepartys abgehalten, das gesellschaftliche Leben unserer Puppen organisiert, Schule gespielt, die Scherer beobachtet und getan, als wären wir festgehaltene Gefangene. Alle unsere Spiele waren Nachahmungen der Rituale und des Lebens der Erwachsenen gewesen, obwohl uns das damals natürlich nicht klar war. Dann kam der Tag, an dem wir aufhörten zu spielen. Wir hatten zwei Monate lang nicht gespielt, aber nach den ersten Ferientagen holte ich meine Puppen heraus und versuchte wieder anzufangen. Doch es war vorbei. Der Zauber wirkte nicht mehr. Ich konnte mich kaum noch daran erinnern, wie wir es gemacht hatten, aber ich versuchte die Stimmung, die Geschichten, die Art, wie die Puppen sich bewegt, gedacht, gesprochen hatten, wieder einzufangen. Es war, als läse ich ein sinnloses Buch. Ich war entsetzt, weil alles so schnell vorbei gewesen war, traurig, weil ich so viel verloren hatte, und ein wenig ängstlich, weil ich nicht darauf gefasst gewesen war und nicht wusste, wie ich meine Stunden jetzt ausfüllen sollte.

Von unten kam plötzlich ein Geräusch, ich sah hinunter und erblickte Corries roten Kopf; sie begann den Baum hinaufzuklettern. Ich rutschte nach links, um Platz für sie zu machen, und einen Augenblick später schwang sie sich neben mich.

»Ich konnte nicht schlafen«, erklärte sie. »Ich musste über zu viel nachdenken.«

»Ich habe geschlafen, aber ich weiß nicht, wie.«

»Hast du schreckliche Träume gehabt?«

»Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nie an meine Träume.«

»Da war ein gewisser Theo in der Schule ganz anders. Jeden Morgen erzählte er uns detailliert, was er in der Nacht geträumt hatte. Es war schrecklich langweilig.«

»Er ist einfach langweilig. Punkt.«

»Wo jetzt wohl alle sein mögen«, sagte Corrie. »Hoffentlich sind sie auf dem Messegelände. Hoffentlich geht es ihnen gut. Das ist alles, woran ich denken kann. Ich erinnere mich an all die Erzählungen, die wir in Geschichte über den Zweiten Weltkrieg und Kambodscha und so gelesen haben, und mein Kopf ist einfach mit Entsetzen überlastet. Und dann denke ich daran, wie diese Soldaten auf uns geschossen haben und wie sie schrien, als der Mäher in die Luft flog.«

Sie zupfte unglücklich an einem Stückchen Rinde. »Ich kann einfach nicht glauben, dass das alles geschieht, Ellie. Invasionen finden nur in anderen Ländern und im Fernsehen statt. Auch wenn wir das hier überleben sollten, werde ich mich nie mehr sicher fühlen.«

»Ich habe an die Spiele gedacht, die wir hier spielten.«

»Ja, ja. Die Teepartys. Und wie wir die Puppen aufgeputzt haben. Erinnerst du dich, wie wir alle mit Lippenstift bemalt haben?»

»Dann haben wir das Interesse daran verloren.«

»Mmh, es verging einfach, nicht wahr. Wir wurden eben älter, denke ich. Und hatten andere Interessen, Jungs zum Beispiel.«

»Es war eine so unschuldige Zeit. Als wir in die Highschool gingen, blickte ich manchmal zurück und dachte: ›Gott, war ich damals naiv.‹ Der Weihnachtsmann und die Zahnfee und wie Mum unsere Malereien auf den Kühlschrank klebte, weil es Meisterwerke waren. Aber ich habe jetzt etwas gelernt, Corrie. Wir waren noch immer naiv. Genau bis gestern. Wir glaubten zwar nicht mehr an den Weihnachtsmann, aber wir glaubten an andere Hirngespinste. Du hast es gesagt. Du hast den Finger draufgelegt. Wir glaubten, dass wir sicher waren. Das war das Riesenhirngespinst. Jetzt wissen wir, dass wir es nicht sind, dass wir uns nie mehr sicher fühlen werden, also sagen wir der Naivität Lebewohl. Es war schön, sie zu kennen, aber jetzt ist es vorbei.«

Wir blickten von unserem Platz aus über die Koppeln zu dem dunklen Stück Straße in der Ferne, das wie eine dünne, schwarze Schlange in der Landschaft lag. Dort würden Leute auftauchen, wenn sie auf der Suche nach uns hierherkamen. Aber nichts bewegte sich, nur die Vögel gingen ihrem immer gleichen Trott nach.

»Glaubst du, dass sie kommen werden?«, fragte Corrie.

»Wer? Die Soldaten? Ich weiß nicht, aber Homer hat etwas gesagt ... dass sie nicht über genügend Menschenpotenzial verfügen, um den ganzen Distrikt zu durchsuchen. Darin liegt sehr viel Wahrheit. Nach meiner Theorie benutzen sie dieses Tal als Korridor zu den großen Städten. Ich nehme an, dass sie in Cobblers Bay gelandet sind und Wirrawee vor allem ruhig halten wollen, damit sie ungehindert in den Rest des Landes vordringen können. Cobblers Bay ist ein großer Hafen, und erinnere dich, als wir aus der Hölle herauskamen, konnten wir die Bucht wegen der Wolkendecke nicht sehen. Sie ist bestimmt voller Schiffe und der Verkehr strömt jetzt über den Highway dort hinunter. Ich glaube aber nicht, dass Wirrawee für jemanden ein wichtiges Ziel ist. Wir haben keine geheimen Raketenbasen und keine Atomkraftwerke. Zumindest hatten wir sie nicht, als ich das letzte Mal nachgeschaut habe.«

»Ich weiß nicht«, sagte Corrie zweifelnd. »Man kann nie wissen, was Mrs Norris im Chemielabor in der Schule ausbrütet.«

»Ihr Kinder kommt jetzt sofort vom Baum herunter!«, sagte eine Stimme von unten. Wir mussten nicht nachsehen, wer es war. »Ihr seid verdammt schlechte Wachposten«, sagte Homer und kletterte zu uns herauf. »Und ich habe gehört, was ihr über Mrs Norris, meine Lieblingslehrerin, gesagt habt. Das erzähle ich ihr, wenn wir wieder in die Schule gehen.«

»Ja, in zwanzig Jahren.«

»Du bist einmal zum Fenster hinaus und die Regenrinne hinuntergeklettert – war das nicht während Mrs Norris' Stunde?«, fragte ich.

»Könnte gewesen sein«, gab Homer zu.

»Was?«, sagte Corrie lachend.

»Na ja, es wurde ein wenig langweilig«, erklärte Homer. »Sogar noch langweiliger als sonst. Deshalb beschloss ich zu verschwinden. Das Fenster war näher als die Tür, und als sie sich umdrehte und etwas an die Tafel schrieb, kletterte ich über das Fensterbrett und die Regenrinne hinunter.«

»Und dann kam Miss Maxwell daher«, mischte ich mich ein.

»Und fragte: ›Was tust du hier?‹«

»Eine berechtigte Frage«, sagte ich.

»Worauf ich ihr erzählte, dass ich die Rohrleitungen überprüfe«, schloss Homer und senkte den Kopf, als erinnere er sich an den Sturm, der darauf folgte. Wir lachten so sehr, dass es uns schwerfiel, uns an den Ästen festzuhalten.

»Du hast wirklich nicht alle beisammen«, sagte Corrie.

Ein vertrautes Geräusch unterbrach uns. Wir hörten zu reden auf, verrenkten uns den Hals und suchten den Himmel ab. »Da ist er.« Corrie deutete hin. Ein Jet kreischte so niedrig über die Hügel, dass wir sein Hoheitszeichen sehen konnten. »Einer von uns«, brüllte Homer aufgeregt. »Wir sind noch im Geschäft!«

Der Jet stieg ein wenig, um die Berge zu überfliegen, bog nach links ab und raste in Richtung Stratton weiter. »Dort!«, rief Corrie. Drei weitere Jets, dunkel und bedrohlich, verfolgten den ersten. Sie flogen etwas höher, jedoch auf gleichem Kurs. Der Lärm war durchdringend, zerriss den friedlichen Himmel und das stille Land. Homer sank in seinen Sitz in der Gabelung des Stammes zurück. »Drei gegen einen«, sagte er. »Ich hoffe, dass er es schafft.«

»Er oder sie«, murmelte ich geistesabwesend.

Der lange Tag ging weiter. Als alle wach waren, aßen wir spät zu Mittag und sprachen endlos über Lee und Robyn, wo sie sein mochten, was geschehen sein konnte. Nach einer Weile wurde uns klar, dass wir uns im Kreis bewegten. Homer hatte seit etwa zehn Minuten geschwiegen, und als unsere Stimmen verstummten, merkten wir, dass wir ihn ansahen. Vielleicht geschieht das immer, wenn jemand eine Zeit lang still ist. Vielleicht geschah es, weil wir dabei waren, Homers Führung anzuerkennen. Er schien es nicht zu bemerken, sondern fing von selbst zu sprechen an, als hätte er sich alles zurechtgelegt.

»Was sagt ihr zu Folgendem?«, begann er. »Ihr wisst, was ich davon halte, dass wir alle aneinanderkleben. Das ist vielleicht nett für unsere Gefühle, aber letzten Endes idiotisch. Wir müssen zäher werden, und zwar schnell. Wir sind gern zusammen, aber das ist überhaupt nicht mehr wichtig. Versteht ihr, was ich meine? Deshalb schlage ich vor, dass zwei von uns nach Wirrawee fahren und Lee und Robyn suchen. Wenn bis Mitternacht keiner von beiden auftaucht, schlagen sie sich bis zu Lees Haus durch und sehen nach, ob die zwei sich dort verkrochen haben und vielleicht verwundet sind.«

»Ich dachte, du glaubst nicht mehr an Freundschaft«, sagte Kevin. »Kommt mir verdammt gefährlich vor, Lees Haus aufzusuchen, wenn wir uns unbedingt selbst retten wollen.«

Homer sah ihn kalt an und sogar Corrie verdrehte die Augen.

»Ich tue es nicht nur aus Freundschaft«, sagte Homer. »Es ist ein kalkulierbares Risiko. Sieben Leute sind besser als fünf, deshalb gehen wir ein Risiko ein, um unsere Zahl wieder auf sieben aufzustocken.«

»Und es könnte damit enden, dass wir nur noch drei sind.«

»Es könnte damit enden, dass es keinen mehr gibt. Von nun an ist alles ein Risiko, Kev. Solange diese Geschichte nicht vorbei ist, werden wir nirgends und nie in Sicherheit sein. Wir können uns nur weiterhin unsere Chancen ausrechnen. Und wenn es lange genug so weitergeht, werden sie uns kriegen. Aber wenn wir nichts unternehmen, kriegen sie uns umso früher. Das größte Risiko ist, kein Risiko einzugehen. Oder verrückte Risiken einzugehen. Wir müssen uns irgendwo zwischen diesen beiden Extremen bewegen. Selbstverständlich müssen die beiden, die Lee und Robyn suchen, unglaublich vorsichtig sein. Aber ich bin sicher, dass sie mit dem Problem selbst fertig werden können.«

»Und was tun die übrigen drei?«, fragte Kevin. »Sich zurücklehnen, essen und schlafen? Eine Schande, dass nichts im Fernsehen ist.«

»Nein«, sagte Homer. Er beugte sich vor. »Ich schlage Folgendes vor: Die drei beladen Corries Toyota mit allem Nützlichen, das sie finden können. Dann fahren sie zu Kevins Haus und tun dort dasselbe. Und zu mir und Ellie, falls sie noch Zeit dazu haben. Sie nehmen bei Kevins Haus den Landrover und laden ihn ebenfalls voll. Ich spreche von Lebensmitteln, Kleidung, Benzin, Gewehren, Werkzeug, allem. Im Morgengrauen wollen wir zwei voll getankte, bis zum Dach beladene, abfahrbereite Fahrzeuge hier haben.«

»Abfahrbereit wohin?«, fragte Kevin.

»In die Hölle«, antwortete Homer.

Das war Homers Talent. Er verband Handeln mit Denken und plante im Voraus. Er spürte wahrscheinlich, dass Untätigkeit unser Feind war. Jemand, der uns in diesem Augenblick sah, hätte nie geglaubt, dass wir uns in der verzweifeltsten Lage unseres Lebens befanden. Alle hatten sich gespannt aufgerichtet, gerötete Gesichter und leuchtende Augen. Wir hatten etwas zu tun, etwas Sinnvolles, klar Umrissenes. Es schien plötzlich so selbstverständlich, dass, wenn wir eine Zukunft hatten, sie in der Hölle wäre. Und wir begannen zu begreifen, dass es vielleicht noch immer ein Leben für uns gab.

»Wir machen Listen«, sagte Fi. »Wir brauchen Kugelschreiber und Papier, Corrie.«

Wir brauchten beinahe eine Stunde, um unsere Listen aufzustellen. Sie enthielten alle möglichen Dinge, zum Beispiel, wo die Schlüssel zu den Benzintanks aufbewahrt wurden, wie wir eine Fußpumpe für Autoreifen finden konnten, welches Öl wir für den Landrover verwendeten und welchen meiner Teddys ich mitnehmen wollte – Alvin. Als Verpflegung nahmen wir hauptsächlich Reis, Nudeln, Konserven, Tee, Kaffee, Marmelade, Brotaufstrich, Kekse und Käse mit. Kevin wirkte etwas deprimiert, als ihm klar wurde, dass er im Begriff war, Vegetarier zu werden. Aber es gab in Küchen und Hühnerställen sicherlich Berge von Eiern. Als Bekleidung wählten wir das übliche Zeug, aber mit einem Augenmerk auf Wärme, für den Fall, dass das Wetter umschlug oder wir lange Zeit im Busch bleiben mussten – und einem Augenmerk auf dumpfen Farben, die einen gut tarnten. Die meiste Zeit brauchten wir für die Extras. Eine Menge von dem Zeug war seit unseren fünf Tagen in der Hölle noch im Landrover, es musste aber überprüft werden. Und uns fielen immer wieder neue Dinge ein oder Dinge, die ergänzt werden mussten. Seife, Bürsten und Spülmittel, Feueranzünder, Kugelschreiber, Papier, Landkarten des Distrikts, Kompasse, Bücher, ein Transistorradio – falls eine Station wieder auf Sendung ging – und Batterien, Taschenlampen, Insektenschutzmittel, Verbandskästen, Rasierapparate, Tampons, Kartenspiele, ein Schachspiel, Streichhölzer, Kerzen, Sonnencreme, Feldstecher, Kevins Gitarre, Klopapier, Wecker, Kameras und Filme, Familienfotos. Homer machte zu den Familienfotos keine Bemerkung, aber als auch andere Familienschätze in die Liste aufgenommen wurden, mischte er sich ein.

»Solche Sachen können wir nicht mitnehmen«, sagte er, als Corrie die Tagebücher ihrer Mutter nannte.

»Warum nicht? Sie sind so wichtig für sie. Sie hat immer gesagt, dass sie als Erstes die Tagebücher retten würde, wenn das Haus brennt.«

»Wir wollen kein Picknick veranstalten, Corrie. Wir müssen anfangen uns als Guerillas zu sehen. Wir nehmen bereits Teddybären und Gitarren mit. Das reicht.«

»Wenn wir Familienfotos mitnehmen können, können wir auch die Tagebücher meiner Mutter mitnehmen«, sagte Corrie eigensinnig.

»Genau so wird es schließlich enden«, sagte Homer. »Du wirst sagen: ›Wenn die Fotos mitkommen, dann auch die Tagebücher‹, und ein anderer wird sagen: ›Wenn ihre Tagebücher mitkommen, dann auch die Footballtrophäen meines Vaters‹, und dann brauchen wir bald zwei Anhänger.«

Das war nur eine der vielen Auseinandersetzungen an diesem Nachmittag. Wir waren müde und nervös und hatten Angst um Lee und Robyn und unsere Familien. Diesen Streitpunkt löste Fi, die einen jener Vorschläge machte, die so einfach sind, dass sich jeder fragt, warum es so lange gedauert hat, bis jemand draufgekommen ist.

»Du kannst doch alle Wertsachen einpacken«, sagte sie zu Corrie. »Den Schmuck deiner Mutter und alles andere. Dann versteck es irgendwo. Vergrab es im Gemüsegarten.«

Die Idee war so gut, dass ich hoffte, ich würde später Zeit haben, das Gleiche zu tun.

Inzwischen versuchte Kevin zusätzliche Dinge auf die Liste zu schmuggeln, vor allem Kondome. Corrie strich sie genauso schnell durch, wie er sie aufschrieb, bis es auf der Liste ebenso viele Streichungen wie Einzelposten gab. Doch als es zu den Waffen kam, wurde er ernst. »Wir haben zwei Gewehre und eine Schrotflinte. Ein Gewehr hat nur Kaliber .22, aber das andere hat .222. Die Flinte ist ein Prunkstück, Kaliber zwölf. Ein Haufen Munition für die Gewehre, weniger für die Flinte. Es sei denn, Dad hätte welche gekauft, während wir fort waren, was ich bezweifle. Er sprach davon, aber ich glaube, dass er nur am Feiertag in die Stadt fuhr, und da waren die Sportgeschäfte geschlossen.« Davon abgesehen gab es nur noch zwei Pistolen.

Ich erklärte den anderen gerade, wo wir unsere Munition aufbewahrten, und hatte mir bereits vorgenommen eine der beiden zu sein, die in die Stadt fuhren. Plötzlich hörten wir ein fernes, beunruhigendes Geräusch. Es klang wie ein Flugzeug, aber lauter und holpriger, und es kam sehr rasch näher. »Es ist ein Hubschrauber«, sagte Corrie erschrocken. Wir rannten zu den Fenstern. »Weg von den verdammten Fenstern«, brüllte Homer, dann sagte er zu mir: »Wir haben vergessen eine Wache aufzustellen.« Er rasselte eine Reihe von Befehlen herunter. »Geh ins Wohnzimmer, Kevin; Fi ins Badezimmer; Corrie in dein Schlafzimmer; Ellie in den Wintergarten. Schaut vorsichtig zu den Fenstern hinaus, um zu sehen, ob jemand die Straße herauf oder über die Koppeln kommt. Berichtet mir im Büro darüber. Ich hole das .22er.«

Wir machten, was er sagte. Er hatte vier Räume gewählt, die uns zusammen einen Überblick von 360 Grad boten. Ich krabbelte wie eine große, erschrockene Küchenschabe über den Boden des Wintergartens, stellte mich dann hinter die Vorhänge, wickelte mich in sie ein und lugte hinaus. Ich konnte den Helikopter nicht sehen, aber ich hörte ihn, laut und grob und drohend. Ich musterte sorgfältig die Umgebung, entdeckte aber nichts. Dann geriet etwas in mein Blickfeld. Es war Flip, die kleine Corgi-Hündin, die über den Hof watschelte. Mir wurde schlecht. Sie mussten den Hund aus der Luft gesehen haben und was würden sie daraus schließen? Ein gesunder, glücklicher Hund, der um ein Haus herumlief, das angeblich seit einer Woche verlassen war? Sollte ich sie rufen, falls die Leute im Hubschrauber sie noch nicht entdeckt hatten? Aber wenn sie zu begeistert auf meinen Ruf reagierte, würden sie noch misstrauischer werden. Ich beschloss nichts zu tun und in diesem Augenblick kam der Hubschrauber um die Ecke auf meine Seite des Hauses. Er war groß, hässlich, dunkel, wie eine mächtige Wespe, die summte und starrte und hungrig darauf war zu töten. Ich verkroch mich wieder im Vorhang und hatte Angst, den Leuten in der Maschine ins Gesicht zu schauen. Ich hatte das Gefühl, dass sie durch die Wände des Hauses sehen konnten. Ich hockte mich hin, dann zog ich mich entlang der Zimmerwand zurück, um die nächste Wand und floh durch den Korridor hinunter ins Büro, wo die anderen warteten.

»Also?«, fragte Homer.

»Keine Soldaten«, sagte ich, »aber Flip wandert draußen herum. Sie müssen sie gesehen haben.«

»Das könnte genügen, um sie misstrauisch zu machen«, sagte Homer. »Sie sind bestimmt darin geschult, alles Ungewöhnliche zu bemerken.« Er fluchte. »Wir haben eine Menge zu lernen, vorausgesetzt, wir kommen hier lebend heraus. Wie viele Soldaten sind im Hubschrauber?«

Er bekam verschiedene Antworten. »Schwer zu sagen«, »Vielleicht drei«, »Das habe ich nicht gesehen«, »Drei oder vier, vielleicht sitzen hinten noch welche.«

»Wenn sie tatsächlich landen, werden sie sich vermutlich zerstreuen.« Homer dachte laut nach. »Ein .22er wird uns nicht viel nützen. Der Toyota steht noch immer oben beim Scherschuppen. Ich kann es nicht glauben, dass wir so dumm gewesen sind. Es ist sinnlos, wenn wir versuchen dorthin zu gelangen. Geht in die gleichen Räume zurück und beobachtet, was sie tun. Und versucht die Soldaten zu zählen. Aber gebt ihnen nicht die geringste Chance, euch zu entdecken.«

Ich lief in den Wintergarten zurück, aber der Hubschrauber war nicht zu sehen. Sein hässliches, zorniges Geräusch schien meinen Kopf, das ganze Haus zu erfüllen. Es war in jedem Raum. Ich lief ins Büro zurück. »Er ist jetzt auf der Westseite«, sagte Kevin. »Er schwebt dort, ohne zu landen.«

»Hört zu, Leute«, sagte Homer. »Wenn er landet, haben wir nur zwei Möglichkeiten. Wir können uns auf der dem Landeplatz gegenüberliegenden Seite hinausschleichen und die Bäume benutzen, um in den Busch zu flüchten. Die Fahrräder nützen uns nichts und der Toyota ist außer Reichweite. Wir würden zu Fuß unterwegs sein und müssten uns auf unseren Verstand und unsere Fitness verlassen. Die zweite Möglichkeit wäre, uns zu ergeben.«

Grimmige, angsterfüllte Stille folgte. Wir hatten in Wirklichkeit nur eine Möglichkeit, wie Homer wusste.

»Ich will keine tote Heldin sein«, sagte ich. »Wir müssen uns ergeben.«

»Ich bin der gleichen Meinung«, sagte Homer rasch, als wolle er unbedingt eingreifen, bevor jemand anderer Ansicht war.

Der Einzige, der sich wahrscheinlich anders entscheiden würde, war Kevin. Wir vier sahen ihn an. Er zögerte, dann schluckte er und nickte: »In Ordnung.«

»Gehen wir ins Wohnzimmer zurück«, sagte Homer. »Sehen wir nach, ob er noch immer dort ist.«

Wir liefen durch den Korridor, dann manövrierte sich Kevin in den Raum und schob sich zum Fenster. »Noch immer hier«, berichtete er. »Sie tun nichts, beobachten nur. Nein, wartet ... er bewegt sich ... geht etwas tiefer ...« Fi stieß einen Schrei aus. Ich sah sie an. Sie war den ganzen Nachmittag über sehr ruhig gewesen und sah jetzt aus, als würde sie sofort ohnmächtig werden. Ich packte ihre Hand und sie drückte meine so stark, dass ich dachte, ich würde vielleicht diejenige sein, die das Bewusstsein verlor. Kevin berichtete weiter. »Sie starren genau auf mich. Aber ich kann nicht glauben, dass sie mich sehen.«

»Beweg dich nicht«, sagte Homer. »Bewegungen verraten einen.«

»Das weiß ich«, maulte Kevin. »Glaubst du, ich führe einen Stepptanz auf?«

Wir standen weitere zwei Minuten lang wie Schaufensterpuppen da. Der Raum schien immer dunkler zu werden. Als Kevin wieder sprach, flüsterte er, als wären die Soldaten im Korridor.

»Er bewegt sich ... kann es nicht sagen ... ein wenig seitlich, ein wenig höher, noch höher. Vielleicht will er das Haus überfliegen und sich die andere Seite ansehen.«

»Das wird die Entscheidung sein, so oder so«, sagte Homer. »Sie werden nicht mehr lange hier herumlungern.« Fi packte meine Hand noch fester, was ich nicht für möglich gehalten hätte. Es war schlimmer, als einen Haufen Plastik-Einkaufstaschen mit Hundefutter zu schleppen. Kevin redete weiter, als hätte er Homer nicht gehört.

»Bewegt sich noch immer zur Seite ... noch ein bisschen hinauf ... nein, er fliegt ein Stück weg. Komm schon, zieh dich schön zurück. Ja, er zieht sich jetzt zurück und beschleunigt auch. O ja, mach es wie ein Eishockey-Spieler, Süßer, bring den Puck weg von hier. Ja! Ja! Flieg weg, flieg nach Hause.« Er drehte sich zu uns um und zuckte lässig die Achseln.

»Na also! Ich musste nur meinen Charme einsetzen.« Corrie griff nach dem nächstbesten Gegenstand und warf ihn nach Kevin, während der Hubschrauber immer mehr wie eine ferne Kettensäge klang. Der Gegenstand war eine kleine Marienstatue, die Kevin zu Corries Glück fing. Fi brach in Tränen aus. Homer lächelte unsicher, dann wurde er wieder aktiv.

»Verschwinden wir!«, sagte er. »Wir haben Glück gehabt. Wir können es uns nicht leisten, noch einmal so viele Fehler zu machen.« Er trieb uns alle ins Wohnzimmer und durch die Vordertür hinaus. »Diese Besprechung halten wir im Freien ab, wo wir die Straße beobachten können. Ich werde euch jetzt sagen, was ich denke. Wenn größere Schwachpunkte drin sind, sagt es mir. Wenn nicht, tun wir es einfach, okay? Wir haben keine Zeit für lange Debatten.

Also, fangen wir mit den Hunden an. Flip und der andere in meinem Haus, wie heißt er noch?»

»Millie«, warf ich ein.

»Ja. Millie. Wir müssen sie im Stich lassen. Legt das gesamte Trockenfutter für Hunde hinaus, aber das ist alles, was ihr tun könnt. Zweitens: die Milchkuh. Ich habe sie mir angesehen, Corrie. Sie hat nicht nur eine Euterentzündung, sondern das Euter ist brandig geworden. Wir müssen sie erschießen. Es wäre zu grausam, sie leiden zu lassen.« Ich warf Corrie einen Blick zu. Sie nahm es ohne eine Träne zur Kenntnis. Homer fuhr fort. »Drittens: der Toyota. Wir können ihn jetzt nicht benützen. Sie haben ihn bestimmt aus der Luft gesehen, und wenn er nicht mehr da ist, wird es ihnen vielleicht auffallen. Die drei Leute, die die Fahrzeuge beladen, müssen alles, was sie mitnehmen können, auf den Fahrrädern verstauen, zu Kevs Haus fahren und dort als Ergänzung zum Landrover einen Wagen mit Vierradantrieb nehmen.« Er sah Kevin an, um festzustellen, ob das möglich war.

Kevin nickte. »Der Ford ist noch da.«

»Gut. Ich hatte gehofft, dass wir aus dem Garten von Corries Mutter eine Menge Gemüse mitnehmen können, aber ich glaube jetzt, dass wir dafür keine Zeit haben werden, es sei denn, wir machen es bei Dunkelheit. Wir sollten uns jetzt bis zum Abend in den Busch zurückziehen. Nehmt die Fahrräder und alles, was absolut lebensnotwendig ist, und macht euch auf die Beine, für den Fall, dass sie Truppen aus der Stadt schicken. Ich bin sicher, dass sie nach Einbruch der Dunkelheit nicht hierherkommen werden, aber bis dahin ist es riskant.

Schließlich zu heute Abend.« Er sprach sehr schnell, aber wir bekamen alles mit. »Ich glaube, dass Ellie und ich in die Stadt fahren sollten. Ein Fahrer muss hierbleiben und Kevin und Ellie sind unsere besten Fahrer. Und es wäre nicht fair, eine reine Mädchen- und eine reine Jungengruppe zu bilden. Wenn ihr es bis Morgengrauen zu Ellies Haus schafft, treffen wir euch dort. Wenn wir nicht kommen, wartet morgen bis Mitternacht dort auf uns und macht euch dann auf den Weg zur Hölle. Versteckt den einen Wagen bei Ellies Haus und den anderen irgendwo oben, in der Nähe von Tailors Stitch, und geht hinunter ins Lager. Wenn wir können, schlagen wir uns zu euch durch.«

Während Homer sprach, hatte er nervös die Straße beobachtet. Jetzt wandte er sich uns ganz zu. »Ich habe wegen des Hubschraubers wirklich Angst. Gehen wir sofort los und heben wir uns das Plündern bis heute Abend auf. Ich treffe euch beim Scherschuppen. Wir werden alle Fahrräder mitnehmen müssen. Wir brauchen sie.«

Er griff nach dem Gewehr, zog die dichten braunen Augenbrauen hoch und sah Corrie an. Sie zögerte, dann murmelte sie: »Tu du es.« Sie kam mit uns mit, während Homer allein zu den Bäumen am Ende der Hauskoppel ging, wo die Kuh unruhig dastand. Der Schuss folgte einige Minuten später, während wir zu den Quartieren der Schafscherer liefen. Corrie wischte sich die Augen mit der linken Hand. Mit der anderen hielt sie Kevin an der Hand. Ich klopfte ihr auf den Rücken und fühlte mich unzulänglich. Ich wusste, was sie empfand. Man hängt an seinen Milchkühen. Ich hatte gesehen, wie Dad Arbeitshunde erschoss, die zu alt waren, Kängurus, die sich in den Zäunen verheddert hatten und zu schwach waren, um aufzustehen, Schafe, die auf dem Markt nicht anzubringen waren. Ich wusste, dass Millies Tage gezählt waren. Aber wir hatten nie eine Milchkuh erschossen.

»Hoffentlich nehmen uns Mum und Dad nicht übel, dass wir so etwas getan haben«, schniefte Corrie.

»Sie hätten es dir übel genommen, wenn du die Statue zerbrochen hättest«, versuchte ich sie aufzuheitern.

»Ein Glück, dass ich ein guter Fänger bin«, sagte Kevin.

Wir gelangten zu den Quartieren der Scherer und Homer kam wenige Minuten später nach. Gerade rechtzeitig. Vielleicht neunzig Sekunden später kam ein schwarzer Jet, schnell und tödlich, niedrig von Westen her. Er klang wie alle Zahnarztbohrer, die ich je gehört hatte, aber tausendfach verstärkt. Wir beobachteten ihn durch das kleine Fenster im Schlafraum der Scherer; wir waren zu fasziniert und hatten zu viel Angst, um uns zu bewegen. Er hatte etwas Diabolisches, Bedrohliches an sich. Er flog zielstrebig, überlegt und kaltblütig. Als er die Straße überquerte, schien er kurz anzuhalten und erschauerte leicht. Unter jedem Flügel kam ein kleiner Pfeil hervor, zwei schreckliche, schwarze Dinge, die größer wurden, während sie näher kamen. Sie kamen entsetzlich schnell. Corrie stieß einen Schrei aus, den ich nie vergessen werde – wie ein verwundeter Vogel. Eine Rakete traf das Haus und mehr brauchte es nicht. Das Haus löste sich in Zeitlupe auf. Es schien in der Luft zu hängen, als wäre es der Bastelsatz eines Hauses, ein Legosatz, der im Begriff war, zusammengebaut zu werden. Dann begann eine riesige orangefarbene Blume im Haus zu erblühen. Sie wuchs sehr schnell, bis sie keinen Platz mehr hatte und die Teile des Hauses aus dem Weg schieben musste, um sich entfalten zu können. Und plötzlich explodierte alles. Ziegel, Holz, verzinktes Blech, Glas, Möbel, die scharfen, orangefarbenen Blütenblätter der Blume, alles brach in sämtliche Richtungen auseinander, bis das Haus über die ganze Koppel verstreut war, in Bäumen hing, sich an Zäune klammerte, auf dem Boden lag. Wo das Haus gestanden hatte, war jetzt nur Schwarz: keine Flammen, nur Rauch, der langsam aus dem Fundament emporstieg. Der Lärm rollte wie Donner über die Koppeln und hallte in den Hügeln wider. Kleine Trümmer prasselten wie Hagel auf das Dach des Scherschuppens. Ich konnte es nicht glauben, wie lange sie fielen und, nachdem das Rattern der schweren Bruchstücke leiser wurde, wie lange die weichen Schneeflocken brauchten, um herunterzuschweben: die Papierstücke, die Materialstückchen, die Bruchstücke von Hartfaserplatten, die sich sanft und friedlich über die Gegend verstreuten.

Die zweite Rakete schlug in den Berghang hinter dem Haus ein. Ich weiß nicht, ob sie für die Scherschuppen bestimmt war oder nicht. Sie verfehlte uns nur knapp. Sie schlug so heftig in den Hügel ein, dass alles rundherum zu erbeben schien; es folgte eine Pause, dann kam die Explosion und einen Augenblick später brach ein ganzer Teil des Hügels einfach weg.

Der Jet wendete steil und flog über der Koppel am Fluss einen Kreis, wahrscheinlich damit sie die Show beobachten und genießen konnten. Dann wendete er wieder und beschleunigte in die Ferne, zurück zu seinem abscheulichen Lager.

Corrie lag auf dem Boden, hatte Schluckauf und wand sich wie ein Fisch an der Angel. Ihre Augen waren so verdreht, dass man die Pupillen nicht mehr sah. Nichts konnte sie beruhigen. Wir bekamen Angst. Homer rannte davon und kam mit einem Eimer Wasser zurück. Wir spritzten ihr welches ins Gesicht. Es schien sie ein wenig zu beruhigen. Ich ergriff den Eimer und schüttete ihr das Wasser über den Kopf. Der Schluckauf hörte auf und sie schluchzte nur noch, den Kopf auf die Knie gelegt, die Knöchel mit den Händen umfasst und triefend vor Nässe. Wir ribbelten sie trocken und schlossen sie in die Arme, aber es dauerte Stunden, bis sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie uns wenigstens ansehen konnte. Wir mussten einfach hierbleiben und warten, hoffen, dass die Flugzeuge nicht zurückkommen würden, hoffen, dass sie keine Soldaten in Lastwagen schicken würden. Corrie wollte nicht weg und wir konnten nicht weg, bis sie so weit war.