Viertes Kapitel
Am nächsten Tag unternahmen wir nicht sehr viel. Keiner stand vor zehn oder elf Uhr auf. Das Erste, was wir fanden, war ein Säckchen mit Keksen, das wir übersehen hatten, als wir die Lebensmittel einpackten. Es war leer. Durch uns war jetzt ein dankbares Tier wesentlich fetter.
Unser Frühstück ging in den Lunch über und dauerte bis in den Nachmittag hinein. Im Grunde genommen lagen wir einfach herum und fraßen uns dick und rund. Kevin und Corrie veranstalteten auf Kevins Schlafsack eine leidenschaftliche kleine Session; Fi und ich ließen unsere Füße in den kalten Bach hängen und machten Pläne für unser Leben, wenn wir die Schule und Wirrawee verlassen hatten. Lee las ein Buch, Im Westen nichts Neues. Robyn hatte ihren Walkman eingeschaltet. Homer probierte alles Mögliche aus: kletterte auf einen Baum, suchte im Bach nach Gold, trug einen Haufen Brennholz zusammen, versuchte ein paar Schlangen aufzuscheuchen. Als ich wieder ein bisschen Energie hatte, begleitete ich ihn, um zu sehen, ob der Weg weiterging. Aber wir fanden keine Spur von ihm. In jeder Richtung gab es nur dichtes Gebüsch. Seltsamerweise sahen wir auch keine Spur einer Hütte, einer Höhle, eines Zufluchtsortes – etwas, das der alte Kerl gehabt haben musste, falls er wirklich hier unten gelebt hatte. Als wir schließlich genug davon hatten, uns unseren Weg durch teilnahmsloses Gestrüpp zu bahnen, gaben wir auf und kehrten zur Lichtung zurück. Als wir dort eintrafen, fand Homer eine Schlange. Es war sechs Uhr und der Boden kühlte allmählich ab. Homer ging zu seinem Schlafsack, zog die Schuhe aus und streckte sich dann bequem mit einer Packung Kartoffelchips aus. »Das ist ein großartiger Ort«, sagte er. »Einfach vollkommen.« In diesem Augenblick muss sich die Schlange, die in seinen Schlafsack gekrochen war, unter ihm bewegt haben, denn Homer sprang auf und rannte mindestens zehn Meter weit weg. »Herr im Himmel!«, brüllte er. »Da ist etwas drin. In meinem Schlafsack ist eine Schlange!«
Sogar Kevin und Corrie hörten mit dem auf, was sie taten, und kamen herübergerannt. Es entwickelte sich eine wilde Debatte. Zuerst darüber, ob Homer sich das alles einbildete, und dann, als wir alle sahen, dass die Schlange sich bewegte, darüber, wie wir sie ohne Verlust an Menschenleben herausholen konnten. Kevin wollte den Schlafsack in den Bach legen und mit Steinen beschweren, bis die Schlange ertrunken war; Homer war nicht gerade begeistert. Er mochte seinen Schlafsack. Wir waren nicht allzu sicher, dass die Schlange den Sack nicht durchbeißen konnte; als ich noch ein Kind war, hatte mir ein Scherer eine entsetzliche Geschichte erzählt, in der sein Sohn durch die Decke gebissen worden war, als er schlafend im Bett lag. Ich weiß nicht, ob die Geschichte wahr war, aber ich vergaß sie nie.
Wir beschlossen allen Experten zu vertrauen, die uns seit unserer Kindheit versicherten, dass Schlangen mehr Angst vor Menschen haben als Menschen vor Schlangen. Wir nahmen an, dass wir nur an einem Ende des Schlafsacks warten mussten, bis die Schlange am anderen Ende herauskriechen würde. Dann würde sie wahrscheinlich in die entgegengesetzte Richtung, direkt in den Busch, gleiten. Also holten wir zwei kräftige Stöcke; Robyn und Kevin hielten je einen von ihnen, schoben sie unter den Schlafsack und begannen ihn langsam hochzuheben. Es war eine fesselnde Szene, besser als Fernsehen. Eine Minute lang geschah nichts, obwohl sich die Schlange deutlich unter dem gespannten Stoff abzeichnete. Sie war ziemlich groß. Robyn und Kevin versuchten den Schlafsack zu kippen, damit die Schlange durch die Öffnung herausfiel. Sie machten es sehr gut; perfektes Teamwork. Der Schlafsack war in Schienbeinhöhe, dann in Kniehöhe und stieg noch immer. Dann gerieten die Stöcke irgendwie zu weit auseinander. Corrie rief etwas; die beiden begriffen und begannen die Stöcke zu korrigieren, aber Robyn ließ einen Augenblick lang los. Dieser Augenblick genügte. Der Schlafsack glitt zu Boden, als wäre er lebendig geworden, und eine sehr wütende Schlange schoss heraus. Der einzige Gedanke, der mir in diesem Augenblick durch den Kopf schoss, war, dass Kevin vor Schlangen offensichtlich genauso viel Angst hatte wie vor Insekten. Er stand einfach da, weiß im Gesicht, zitternd, und sah aus, als würde er sofort zu weinen anfangen. Er war so gelähmt, dass er gewartet hätte, bis die Schlange an seinem Bein hinaufkroch und ihn biss. Es war komisch, wenn man bedachte, wie mutig er gewesen war, als er den Stock hielt, den Schlafsack hob und annahm, dass er in Sicherheit war. Aber in diesem Stadium meines Lebens hatte ich nicht viel Zeit oder Platz für rationale Überlegungen: Mein irrationaler Verstand hatte das Kommando übernommen. Er sagte mir, ich solle in Panik geraten; ich geriet in Panik. Er sagte mir, ich solle rennen; ich rannte. Er sagte mir, ich solle mich um niemanden kümmern; ich kümmerte mich um niemanden. Es dauerte einige Zeit, bis ich mich umsah, um festzustellen, ob die anderen okay waren ... und um festzustellen, wo die Schlange war.
Kevin stand noch immer an der gleichen Stelle; Robyn war einige Meter vor mir und tat das Gleiche wie ich: stehen, schauen, keuchen, zittern. Fi stand im Bach; ich hatte keine Ahnung warum; Lee war auf einen Baum geklettert, hatte sich sechs Meter hinaufgearbeitet und stieg noch immer weiter; Corrie stand intelligenterweise am Feuer und benützte es als Schutz; Homer war nirgends zu sehen. Genau wie die Schlange.
»Wo ist sie?«, brüllte ich.
»Sie ist dorthin gekrochen.« Corrie zeigte in den Busch. »Sie hat mich verfolgt, aber als ich hierherkam, sprang ich über das Feuer und sie bog ab.«
Für jemanden, der gerade von einer wütenden Schlange verfolgt worden war, wirkte sie sehr ruhig.
»Wo ist Homer?«, fragte ich.
»Er ist dorthin gegangen.« Corrie zeigte in die entgegengesetzte Richtung. Das klang sicher genug, sogar für Homer. Ich hörte allmählich auf panisch zu sein und ging zum Feuer. Lee, der verlegen grinste, begann den Baum wieder hinunterzuklettern. Sogar Homer tauchte irgendwann aus einem dichten Gestrüpp auf.
»Warum hast du im Bach gestanden?«, fragte ich Fi.
»Natürlich um der Schlange zu entkommen.«
»Aber Fi, Schlangen können schwimmen.«
»Nein, das können sie nicht ... können sie? O mein Gott. O mein Gott. Ich hätte sterben können. Danke, dass ihr es mir gesagt habt.«
Damit waren die größten Aufregungen für diesen Tag vorbei, es sei denn, man zählt die Überraschungswurst mit, die Homer und Kevin zum Tee servierten. Sie war tatsächlich voller Überraschungen und wie die Schlange gehörte sie zu der Art von Unterhaltung, auf die ich verzichten kann. Wir gingen sehr zeitig schlafen. Es war einer jener Tage, an denen alle vom Nichtstun erschöpft waren. Ich kletterte gegen halb zehn in den Schlafsack, nachdem ich ihn sorgfältig kontrolliert hatte und sicher war, dass er leer war. Zu diesem Zeitpunkt waren nur noch Homer und Fi wach und sprachen am Feuer leise miteinander.
Ich schlief sehr tief, sehr fest und diese Nacht war typisch. Einmal wachte ich auf, aber ich hatte keine Ahnung, wie spät es war, vielleicht drei oder vier Uhr. Es war eine kalte Nacht; ich musste aufs Klo, vergeudete aber zehn Minuten damit, es aufzuschieben. Es war einfach zu grausam, aus dem behaglichen Schlafsack zu kriechen. Ich ermahnte mich streng: »Komm schon, du weißt, dass du gehen musst, du wirst dich besser fühlen, wenn du es getan hast, hör auf, so ein Schwächling zu sein, je rascher du es tust, desto rascher bist du wieder in deinem warmen Schlafsack.« Irgendwann wirkte es; ich kämpfte mich verbissen hinaus und stolperte zehn Meter weiter zu einem geeigneten Baum.
Einige Minuten später blieb ich auf dem Rückweg stehen. Ich glaubte ein fernes Summen zu hören, war aber unsicher und wartete, bis es lauter und deutlicher wurde. Seltsam, wie sehr sich künstliche von natürlichen Geräuschen unterscheiden. Sie sind gleichmäßiger. Hier handelte es sich eindeutig um ein künstliches Geräusch; es musste ein Flugzeug sein. Ich wartete und blickte zum Himmel hinauf.
Etwas, das hier anders ist, ist der Himmel. Diese Nacht war genauso wie alle klaren Nächte in den Bergen: Am Himmel funkelte eine unglaubliche Anzahl Sterne. Manche waren stark und hell, andere winzige, schwache Nadelköpfe, manche flackerten, manche waren von einem verschwommenen Leuchten umgeben. Von den meisten derartigen Szenerien bekomme ich irgendwann genug, aber nie von dem Nachthimmel in den Bergen, nie. Ich kann mich in ihm verlieren.
Plötzlich wurde das laute Summen zu einem Dröhnen. Ich konnte nicht glauben, wie schnell es sich verändert hatte.
Wahrscheinlich entstand es durch die hohen Felswände, die unser Lager umgaben. Wie schwarze Fledermäuse, die vom Himmel herabschrien und die Sterne auslöschten, raste eine V-förmige Formation von Düsenflugzeugen über uns hinweg, sehr tief über uns hinweg. Dann kam noch eine, dann noch eine, bis insgesamt sechs Gruppen über den Himmel ober mir gestürmt waren. Ihr Lärm, ihre Geschwindigkeit, ihre Dunkelheit ängstigten mich. Ich merkte, dass ich mich duckte, als hätte man mich geschlagen. Ich stand auf. Anscheinend waren sie fort. Der Lärm verklang schnell, bis ich ihn nicht mehr hören konnte. Aber etwas blieb. Die Luft wirkte nicht mehr so klar, so rein. Es war eine neue Atmosphäre. Die Süße war fort, die süße, brennende Kälte war durch eine neue Feuchtigkeit ersetzt worden. Ich konnte den Treibstoff riechen. Wir hatten geglaubt, dass wir unter den ersten Menschen waren, die in dieses Becken eindrangen, aber die Menschen waren überall in alles eingedrungen. Sie mussten einen Ort nicht betreten, um in ihn einzudringen. Nicht einmal die Hölle war vor ihnen sicher.
Ich kehrte zu meinem Schlafsack zurück und Fi sagte schlaftrunken: »Was war das für ein Lärm?« Obwohl ich es kaum glauben konnte, war sie anscheinend die Einzige, die wach war.
»Flugzeuge«, antwortete ich.
»Mmmm, das dachte ich mir«, sagte sie. »Wahrscheinlich sind sie vom Gedenktag zurückgekehrt.«
›Natürlich‹, dachte ich. ›Das ist es.‹
Ich trieb in eine Art von Schlaf, der unruhig und voller wilder Träume war. Mir war noch nicht bewusst, dass Dutzende Flugzeuge, die nachts schnell und tief und ohne Licht fliegen, ein wenig seltsam sind. Dass sie unbeleuchtet gewesen waren, wurde mir überhaupt erst viel später klar.
Am Morgen fragte Robyn beim Frühstück: »Hat noch jemand die Flugzeuge gehört?«
»Ja«, antwortete ich. »Ich war wach. Ich war auf dem Klo.«
»Sie haben einfach nicht aufgehört«, sagte Robyn. »Es müssen Hunderte gewesen sein.«
»Es waren sechs Gruppen«, sagte ich. »Nahe nebeneinander und wirklich tief. Aber ich hatte angenommen, dass ihr es im Schlaf nicht merken würdet. Fi war die Einzige, die etwas sagte.«
Robyn starrte mich an. »Sechs Gruppen? Es waren Dutzende und Aberdutzende, die ganze Nacht lang. Fi schlief. Das dachte ich auch von dir. Lee und ich zählten sie, aber alle Übrigen schnarchten einfach weiter.«
»Du meine Güte.« Mir wurde etwas klar. »Ich muss andere Gruppen gehört haben als du.«
»Ich habe nichts gehört.« Kevin riss die Verpackung von seinem zweiten Mars auf. Er behauptete, dass er zum Frühstück immer zwei Mars hatte und bis jetzt hatte er seinen Fahrplan eingehalten.
»Wahrscheinlich ist es der Anfang des Dritten Weltkriegs«, sagte Lee. »Wahrscheinlich sind wir überfallen worden und wissen es nicht einmal.«
»Ja«, stimmte Corrie von ihrem Schlafsack aus zu. »Wir sind hier vollkommen abgeschnitten. In der Außenwelt könnte alles Mögliche passieren und wir würden nie davon erfahren.«
»Das ist meiner Ansicht nach gut«, sagte Kevin.
»Stellt euch vor, dass wir nach ein paar Tagen hinauskommen und es hat einen Atomkrieg gegeben, nichts ist übrig und wir sind die einzigen Überlebenden«, sagte Corrie. »Kann uns einer von euch einen Müsli-Riegel rüberreichen, bitte?«
»Äpfel, Erdbeeren, Aprikosen?«, fragte Kevin.
»Äpfel.«
»Wenn es einen Atomkrieg gegeben hat, würden wir ihn nicht überleben«, meinte Fi. »Der Fallout könnte jetzt langsam auf uns herabsinken. Wie sanfter Regen vom Himmel. Wir würden es nicht einmal wissen.«
»Hast du letztes Jahr in Englisch dieses Buch gelesen?«, fragte Kevin. »X oder so was?«
»Z? Z für Zacharias?«
»Ja, das. Das war gut. Das einzige anständige Buch, das ich je gelesen habe.«
»Seid jetzt mal ernst«, mischte sich Robyn ein. »Was haben diese Flugzeuge eurer Meinung nach zu bedeuten?«
»Sie sind vom Gedenktag zurückgekehrt«, antwortete Fi genau wie in der Nacht. »Ihr wisst doch, dass sie all diese Kunststücke und Gruppenflüge und das Zeug machen.«
»Wenn sie ein Land überfallen wollten, wäre dieser Tag eine gute Gelegenheit«, sagte Lee. »Alle sind fort und feiern. Das Heer, die Flotte, die Luftwaffe zeigen, was sie können, und geben an. Wer regiert das Land?«
»Ich würde es zu Weihnachten tun«, warf Kevin ein. »Mitten am Nachmittag, wenn alle schlafen.«
Es war eins unserer typischen Gespräche, aber aus irgendeinem Grund ging es mir auf die Nerven. Ich stand auf und ging zum Bach, wo ich Homer fand. Er saß auf einer Schotterbank und wühlte mit einem flachen Stein im Geröll herum.
»Was machst du da?«, fragte ich.
»Gold suchen.«
»Hast du eine Ahnung, wie man das macht?«
»Nein.«
»Hast du etwas gefunden?«
»Ja, haufenweise. Ich verstecke es hinter den Bäumen, damit die anderen es nicht sehen.«
»Du bist ganz schön egoistisch.«
»Ja, so bin ich eben. Du weißt es.«
In einem hatte er Recht. Ich kannte ihn gut. Er war wie ein Bruder. Wir waren Nachbarn und miteinander aufgewachsen. Und obwohl er eine Menge unangenehmer Angewohnheiten hatte, war er nicht egoistisch.
»He, El?«, sagte er, nachdem ich einige Minuten lang zugesehen hatte, wie er den Schotter begutachtete. »Ja?«
»Was hältst du von Fi?«
Ich fiel beinahe in den Bach. Wenn jemand diese Frage in diesem Ton stellt, kann sie nur eines bedeuten. Aber ausgerechnet Homer! Die einzigen Frauen, die Homer bewunderte, waren die aus den Zeitschrifen. Echte Frauen behandelte er wie Bohnensäcke.
Und ausgerechnet Fi!
Trotzdem wollte ich seine Frage beantworten, ohne ihn zu entmutigen.
»Ich liebe Fi, das weißt du. Sie wirkt manchmal so ... vollkommen.«
»Ja, weißt du, du könntest Recht haben.«
Er wurde verlegen, weil er so weit gegangen war, und kratzte noch einige Minuten lang nach Gold.
»Wahrscheinlich hält sie mich nur für ein Großmaul, was?«, fragte er schließlich.
»Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung, Homer. Aber ich glaube nicht, dass sie dich hasst. Gestern Abend habt ihr miteinander geplaudert, als wärt ihr alte Freunde.«
»Ja, ich weiß.« Er räusperte sich. »Da habe ich zum ersten Mal ... als mir klar wurde ... Ja also, es war das erste Mal, dass ich sie wirklich beachtete. Jedenfalls seit der Zeit, als ich noch ein kleiner Junge war. Ich hielt sie immer für einen hochnäsigen Snob. Aber das ist sie nicht. Sie ist wirklich nett.«
»Das hätte ich dir sagen können.«
»Ja, aber du weißt doch, sie lebt in diesem großen Haus und sie spricht wie Mrs Hamilton und dann denk an mich und meine Familie. Ich meine, für Leute wie sie sind wir einfach griechische Bauern.«
»Fi ist nicht so. Du solltest ihr eine Chance geben.«
»Natürlich will ich ihr eine Chance geben. Das Problem ist, dass ich nicht weiß, ob sie mir eine geben wird.«
Er starrte bedrückt auf den Schotter, seufzte und stand auf. Plötzlich veränderte sich sein Gesicht. Er wurde rot und begann seinen Kopf verlegen zu winden, als hätte sein Hals nach all den Jahren genug davon, seinen Kopf mit dem Körper zu verbinden. Ich sah mich um, um festzustellen, was daran schuld war. Fi kam zum Bach herunter, um ihre vollkommenen Zähne zu putzen. Es fiel mir schwer, nicht zu lächeln. Ich hatte Menschen gesehen, die die Liebe wie ein Blitzschlag getroffen hatte, aber ich hätte nie gedacht, dass es Homer zustoßen würde. Und wenn ich daran dachte, dass es Fi war, stockte mir der Atem. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, was sie denken oder wie sie reagieren würde. Am ehesten nahm ich an, dass sie es für einen großartigen Spaß halten, ihn sanft und rasch abweisen und dann zu mir kommen und mit mir darüber kichern würde. Sie würde bestimmt nicht aus Grausamkeit lachen; es war einfach so, dass niemand Homer ernst nahm. Er hatte die Leute immer in der Meinung bestärkt, dass er kein Herz hatte – er pflegte zu sagen: »Ich habe ein Radium-Herz, das fünftausend Jahre braucht, um zu schmelzen.« Er saß in der Klasse in der letzten Bank und ermutigte die Mädchen ihn zu kritisieren. »Ja, ich bin gefühllos – was noch? Sexistisch? Kommt schon, fällt euch sonst nichts ein? Das könnt ihr doch besser! Ach, Sandra, jetzt mach schon ...« Sie wurden immer wütender, während er sich lächelnd zurücklehnte und sie verspottete. Sie wussten, was er tat, konnten sich aber nicht wehren.
Nach einer Weile begannen wir daher ihm zu glauben, wenn er sagte, er sei zu zäh für Gefühle. Es war komisch, dass Fi, das zierlichste Mädchen in unserem Jahrgang, anscheinend diejenige sein würde, die ihn schaffte – wenn das die richtige Art ist, es auszudrücken.
Ich ging den Weg bis zur letzten Satansstufe zurück. Die Sonne hatte die große Granitwand bereits erwärmt; ich lehnte mich mit halb geschlossenen Augen dagegen, dachte an unsere Wanderung, an den Weg und den Mann, der ihn gemacht hatte, und an diesen Ort, der Hölle genannt wurde. ›Warum haben die Menschen ihn Hölle genannt?‹, fragte ich mich. All die Wände und Felsen und die Vegetation wirkten tatsächlich wild. Aber Wildnis bedeutet nicht Hölle. Wildnis ist faszinierend, schwierig, wunderbar. Es gibt keinen Ort, der die Hölle ist, kein Ort konnte das sein. Die Menschen haben diese Schlucht als Hölle bezeichnet und nur das macht sie dazu. Die Menschen versehen Orte einfach mit Namen und deshalb sieht niemand sie mehr richtig. Jedes Mal, wenn sie die Orte sehen oder an sie denken, sehen sie ein großes Schild, auf dem Wohnungsamt oder Privatschule oder Kirche oder Moschee oder Synagoge steht. Sobald sie diese Schilder entdeckt haben, hören sie auf zu schauen.
Genauso war es mit Homer; er hatte all die Jahre ein großes Schild um den Hals hängen und wie eine Idiotin las ich es immer wieder. Tiere sind klüger. Sie können nicht lesen. Hunde, Pferde, Katzen machen sich nicht die Mühe, irgendein Schild zu lesen. Sie verwenden ihren eigenen Verstand, ihre eigene Urteilsfähigkeit.
Nein, die Hölle hat nichts mit Orten zu tun, sie hat nur mit Menschen zu tun. Vielleicht sind die Menschen die Hölle.