Elftes Kapitel
Es war drei Uhr fünf morgens. Ich erschauerte; ich zitterte nicht, sondern erschauerte. Es ist schwierig, den Unterschied zu erklären. Es war auch schwierig festzustellen, wann ein Schauer aufhörte und der nächste begann.
Kälte, Angst, Aufregung. Sie alle leisteten ihren großzügigen Beitrag. Doch das Schlimmste war die Angst. Dabei fiel mir ein Zitat ein – richtig, aus der Bibel. »Aber die Liebe ist die Größte unter ihnen.« Meine Angst entstand aus Liebe. Liebe zu meinen Freunden. Ich wollte sie nicht im Stich lassen. Wenn ich es tat, würden sie sterben.
Ich sah wieder auf die Uhr. Drei Uhr acht. Wir hatten unsere Uhren tatsächlich koordiniert, wie im Film. Ich zog meinen Kinnriemen etwas fester. Ich sah sicherlich albern aus, aber das einzig Nützliche, was ich außer den Zündschlüsseln im Depot gefunden hatte, waren diese Sicherheitshelme. Ich hatte einen aufgesetzt und zusätzlich sechs in den Lastwagen geworfen. Sie würden wahrscheinlich eine Kugel nicht stoppen, aber sie konnten den Unterschied zwischen Tod und bleibendem Gehirnschaden bedeuten. Der Schauer wurde zum Schauder. Es war drei Uhr zehn. Ich drehte den Zündschlüssel.
Der Lastwagen polterte und rüttelte. Ich reversierte vorsichtig, versuchte weder unter jedem Baum noch hinter jedem Fahrzeug Soldaten zu sehen. »Reversiere nie einen Zoll mehr, als du musst.« Das war Dads Stimme. Bei ihm galt das auch fürs Vorwärtsfahren. Ich grinste, schaltete noch einmal und wählte den zweiten Gang. Kuppeln – und ich würgte den Motor ab. Plötzlich war mir heiß und ich schwitzte, statt zu frieren. Das war einer der Schwachpunkte dieses Plans: Ich hatte keine Zeit gehabt, mich an das Fahrzeug zu gewöhnen, zu üben.
Als ich zum Tor hinausfuhr, schaltete ich die Scheinwerfer ein und bog in die Sherlock Road ein. Das war einer der Punkte, über den wir am längsten gestritten hatten. Ich fand noch immer nicht, dass Homer und Robyn Recht hatten, aber wir hatten uns geeinigt und ich hielt mich daran. Homer hatte gesagt: »Es wird sie verwirren. Sie werden glauben, dass es einer ihrer Wagen ist. Das könnte uns einige Sekunden verschaffen.« – »Es wird sie anlocken«, widersprach ich. »Sie werden den Lärm erst in einer Entfernung von ein bis zwei Häuserblocks hören, aber die Lichter werden sie aus einem Kilometer Entfernung sehen.« Der Streit hatte lange gedauert.
Ich kam zur Barker Street und begann einzubiegen. Es war sehr schwierig, das große, schwere, träge Ding um die Ecke zu manövrieren. Ich hatte hundert Meter vor der Ecke damit begonnen, aber nicht einmal das reichte, denn ich machte den Bogen viel zu groß und geriet beinahe in den Rinnstein auf der gegenüberliegenden Seite. Als ich es endlich ausgeglichen hatte und auf die rechte Seite der Straße gelangt war, war ich beinahe bei Robyn und Lee.
Und da waren sie. Lee lehnte mit bleichem Gesicht an einem Telegrafenmast und starrte mich an, als wäre ich ein Geist. Oder war er der Geist? Er hatte einen dicken, weißen Verband um die Wade gewickelt und das verletzte Bein auf eine Mülltonne gestützt. Robyn stand neben ihm, sah mich aber nicht an, sondern spähte scharf in alle Richtungen.
Während ich weiterfuhr, hatte ich die Schaufel bereits so tief hinuntergesenkt wie möglich. Jetzt senkte ich sie noch tiefer und stieg auf die Bremse. Ich hätte es umgekehrt machen sollen, zuerst die Bremse und dann die Schaufel, weil die Schaufel Funken sprühend auf den Boden prallte und den Asphalt etwa zwanzig Meter weit aufpflügte, bis der Lastwagen schwankend zum Stillstand kam und der Motor wieder abstarb. Ich hätte die Schaufel gar nicht so tief senken müssen, denn Lee hätte ohne weiteres hineinsteigen können, aber ich versuchte forsch zu sein, mein Können und meine Geschicklichkeit zur Schau zu stellen. Jetzt musste ich den Motor wieder starten, den Rückwärtsgang einlegen und, als Lee mühsam zur Schaufel hüpfte, diese wieder ein wenig heben und ihm entgegenkommen.
Robyn half ihm in die Schaufel. Sie war so ruhig. Ich beobachtete sie durch die Windschutzscheibe und konzentrierte mich so sehr auf ihre stummen Bemühungen, dass ich alles andere vergaß. Ein Pfeifton war das Erste, was mich darauf aufmerksam machte, dass etwas nicht stimmte. Ich blickte erschrocken auf. Lee war gerade in die Schaufel gestiegen und legte sich hin. Robyn hörte den Pfiff, sah nicht einmal nach, woher er kam, sondern rannte zur Beifahrertür. Ich sah am Ende der Straße einige Soldaten, die auf uns zeigten und uns anstarrten. Ein paar von ihnen ließen sich auf ein Knie nieder und hoben ihre Gewehre. Vielleicht hatten die Scheinwerfer uns einige Sekunden gebracht, denn sie hatten noch nicht geschossen. Obwohl wir uns eine Route zurechtgelegt und uns darauf geeinigt hatten, fand ich, dass ich mich nicht mehr an den Mehrheitsbeschluss halten musste: Die Umstände hatten sich geändert. Ich hob die Schaufel höher und griff dann nach dem Schalthebel. Der Lastwagen knirschte widerwillig in den Rückwärtsgang. »Halt den Schalthebel fest«, bat ich mich selbst. »Stirb nicht ab«, bat ich den Lastwagen. Wir begannen rückwärts zu fahren. »Setz einen Helm auf«, rief ich Robyn zu.
Sie lachte tatsächlich, tat es aber. Die ersten Kugeln prallten auf. Auf dem Stahl des Lastwagens klang das so, als würde ihn ein Riese mit einem Vorschlaghammer bearbeiten. Einige summten wieder fort, in die Dunkelheit hinaus, gewalttätige blinde Moskitos, Querschläger. Ich hoffte, dass sie keinen Unschuldigen treffen würden. Die Windschutzscheibe brach in einem Wasserfall aus Glas zusammen. »Reversiere nie einen Zoll mehr, als du musst.« Wir verwenden jetzt metrische Maße, Dad, falls du es noch nicht bemerkt hast. Der Zoll verschwand zusammen mit den Schaufelraddampfern und dem Schwarzweißfernsehen. Jedenfalls muss man manchmal rückwärts fahren, bevor man vorwärts fahren kann. Bevor man irgendwohin fahren kann. Dennoch fuhren wir viel zu schnell rückwärts. Ich wollte die Ecke im Rückwärtsgang nehmen, da wir keine Zeit haben würden, anzuhalten, den Gang zu wechseln und vorwärts um die Ecke zu biegen. Ich wirbelte das Lenkrad herum und hoffte, dass Lee sich festhielt. Meine geringen Fahrkünste machten es den Soldaten schwer – wir waren ein unberechenbares Ziel. Wir rumpelten über irgendetwas, dann duckte ich mich instinktiv, als irgendetwas anderes über den Lastwagen strich. Es war ein Baum. Ich drehte das Lenkrad noch schneller und die Räder auf der linken Seite verloren die Bodenhaftung.
Robyn verlor ihre Selbstbeherrschung und schrie, dann sagte sie: »Entschuldigung.« Ich konnte nicht glauben, dass sie es gesagt hatte. Irgendwie fiel der Lastwagen nicht um; die Räder kamen wieder auf den Boden und wir torkelten einen Fußweg entlang und legten dabei Zäune und Büsche um. Ich benutzte vor allem die Außenspiegel; die Laderampe blockierte den Blick durch das Hinterfenster oder den hinteren Spiegel. Ich drehte wieder scharf das Lenkrad, so scharf ich es wagte. Entweder wir kippten um oder wir schafften die Ecke.
Während wir die Kurve nahmen, traf uns eine weitere Kugel; sie flog so nahe an mir vorbei, dass mich ein Lufthauch streifte, und zerschmetterte dann das Seitenfenster. Wir plumpsten außer Sichtweite der Patrouille auf die Straße zurück. Im Außenspiegel auf meiner Seite sah ich kurz ein kleines Fahrzeug mit Fernlicht. Ich nehme an, dass es ein Jeep war. Es gab keine Möglichkeit ihn zu verfehlen und wir taten es nicht. Wir prallten mit voller Wucht gegen ihn und fuhren direkt über ihn hinweg. Robyn und ich schlugen mit den Köpfen gegen das Dach des Lastwagens und rechtfertigten damit die Sicherheitshelme. Ich grinste böse bei diesem Gedanken.
Über den Jeep zu fahren fühlte sich genauso an, als würde man mit hoher Geschwindigkeit über einen kleinen Hügel brausen. Ich riss das Lenkrad herum und der Lastwagen beschrieb eine Wendung um 180 Grad. Jetzt fuhren wir endlich in die richtige Richtung. Vor uns war der Wagen, den wir überrollt hatten. Ich sah Körper in ihm, aber der Wagen sah aus, als wäre ein riesiger Felsbrocken auf ihn gefallen. Zwei oder drei Soldaten krochen wie Asseln in die Dunkelheit davon. Ich gab Gas und wir griffen an. Wir wichen dem Jeep aus, versetzten ihm aber trotzdem einen harten Schlag, zuerst mit der Schaufel, dann mit der linken Vorderseite des Lastwagens. Lee tat mir leid: Ich hatte vergessen die Schaufel zu heben. Wir rasten die Sherlock Road hinunter. Man konnte nicht viel sehen. Ich versuchte das Fernlicht einzuschalten, aber nichts passierte: Offenbar hatten wir nur noch das Standlicht. Dann sagte Robyn: »Über dein Gesicht rinnt Blut«, und jetzt begriff ich, dass ich auch aus einem anderen Grund nicht gut sah. Ich hatte angenommen, dass es Schweiß war. »Leg den Sicherheitsgurt an«, sagte ich. Sie lachte wieder, aber sie tat es.
»Glaubst du, dass es Lee gut geht?«
»Ich bete wie wahnsinnig darum.«
In diesem Augenblick bot sich mir der schönste Anblick, den ich je gesehen hatte. Eine magere Hand tauchte aus der Schaufel auf, machte das Siegeszeichen oder ein Friedenszeichen – in der Dunkelheit war es nur schwer zu erkennen – und verschwand wieder. Diesmal lachten wir beide.
»Geht es dir gut?«, fragte Robyn besorgt. »Dein Gesicht?«
»Ich glaube schon. Ich weiß nicht einmal, was passiert ist. Es tut nicht weh, sondern sticht nur.«
Als ich beschleunigte, blies uns der kalte Wind ins Gesicht. Wir waren an der Hochschule vorbei, als Robyn, die zu ihrem Seitenfenster hinaussah, »Sie kommen« sagte.
Ich blickte in den Außenspiegel und sah die Scheinwerfer. Es waren anscheinend zwei Fahrzeuge.
»Wie weit ist es noch?«
»Zwei, vielleicht drei Kilometer.«
»Fang wieder an zu beten.«
»Glaubst du, ich hätte jemals damit aufgehört?«
Ich stieg mit aller Kraft aufs Gas, so dass mein ganzer Rist schmerzte. Aber sie kamen so rasch näher, dass wir genauso gut hätten stillstehen können. Einen Block später waren sie fünfzig Meter hinter uns.
»Sie schießen«, sagte Robyn. »Ich sehe das Aufblitzen.«
Wir donnerten mit 95 km/h an einem Stoppschild vorbei. Einer der Wagen war jetzt dicht hinter uns und seine Scheinwerfer blendeten mich im Seitenspiegel. Dann verschwand der Spiegel. Obwohl ich ihn ansah, hatte ich nicht gemerkt, wie er davonflog. Aber er war eindeutig weg.
Das Stoppschild brachte mich nicht auf die Idee; ich hatte sie bereits als mögliche Taktik in Betracht gezogen. Aber als das Schild gerade in diesem Augenblick auftauchte, erschien es mir wie ein Omen. Ich beschloss seinen Rat zu befolgen und hoffte nur, dass Lee überleben würde.
»Halt dich so gut fest wie möglich!«, rief ich Robyn zu, dann stieg ich mit allem, was ich hatte, auf die Bremsen – die Fuß- und die Handbremse. Der Lastwagen schleuderte, fuhr zur Seite, überschlug sich beinahe. Er schleuderte noch immer, als ich das befriedigende Knirschen vernahm, als der Wagen rechts hinten auf uns prallte und dann unkontrolliert in die Dunkelheit davonwirbelte. Dann überschlug er sich. Wir blieben heftig schwankend stehen. Der Motor starb wieder ab und eine Minute lang waren wir ein ideales Ziel. Ich drehte den Schlüssel so wütend, dass sich das weiche Metall unter meinem Griff tatsächlich verbog. Der zweite Wagen bremste und blieb beinahe stehen, aber etwa hundert Meter hinter uns. Der Lastwagen startete. Ich kuppelte ein. Vom zweiten Wagen blitzten weitere Schüsse auf und plötzlich spürte ich unter mir zwei heftige Schläge. Ich lenkte den Laster auf die Straße und stieg aufs Gas, aber der Wagen neigte sich, bewegte sich schwerfällig hin und her und holperte über die Straße. »Was ist los?«, fragte Robyn. Sie sah erschrocken aus, was bei ihr ungewöhnlich war.
»Sie haben ein paar Reifen erledigt.« Robyns Spiegel war noch vorhanden und ich schaute in ihn. Der zweite Wagen war wieder losgefahren und kam rasch näher. Robyn blickte durch das kleine Rückfenster.
»Was ist dahinten drin?«
»Weiß ich nicht. Hab nicht nachgesehen.«
»Jedenfalls ist etwas drin. Wie betätigt man den Kipper?«
»Ich glaube, mit dem blauen Hebel.« Robyn packte ihn und zog ihn hinunter. Der zweite Wagen versuchte jetzt uns zu überholen. Ich riss den Laster von einer Straßenseite zur anderen, um ihn daran zu hindern, wobei mich die zerschossenen Reifen unterstützten. Dann begann etwas mit einem leise gleitenden Geräusch von der Laderampe zu rutschen. Ich weiß noch immer nicht, was es war, Schotter oder Schlamm oder sonst was. In Robyns Spiegel sah ich, dass der Wagen so scharf bremste, dass er beinahe einen Kopfstand machte. Eine Minute später waren wir auf der Three Pigs Lane.
Ich drehte das Lenkrad herum und blockierte wie vereinbart die Straße mit dem Lastwagen. Einen Augenblick lang sah ich Homer nicht. Mir wurde schlecht. Ich wollte nur noch auf Knien in den Straßenschmutz fallen und kotzen. Doch Robyn besaß den vollkommenen Glauben. Sie sprang aus dem Laster, lief zur Schaufel und half Lee aufzustehen. Dann sah ich Homer, der gefährlich schnell ohne Licht im Rückwärtsgang auf uns zuschoss. Ich sprang aus dem Laster und lief zu ihm, während er einige Meter von mir entfernt den Wagen schwankend im Rinnstein zum Stehen brachte. In dieser Nacht schienen alle zu reversieren, und zwar schlecht. Ich hörte einen Knall und eine weitere Kugel surrte in der Dunkelheit an mir vorüber. Homer war aus dem Wagen gesprungen. Es war ein BMW-Kombiwagen und Homer öffnete Lee die Hintertür und half ihm hinein. Robyn überließ die beiden einander, lief zur Beifahrertür, öffnete sie und die rückwärtige Tür für Homer. Eine Kugel traf den Wagen und riss ein Loch in die hintere Tür. Anscheinend schoss nur eine einzige Person mit einer Handfeuerwaffe auf uns. Homer hatte die Fahrertür offen gelassen und den Motor nicht abgestellt. Ich kletterte aus dem Rinnstein in den Wagen und sah mich um. Lee war drin, Homer stieg gerade ein, Robyn war drin. Das reichte. Ich schaltete, konnte mich nach dem Laster nicht sofort umstellen und gab zu viel Gas. Wir hüpften wie ein Känguru aus dem Rinnstein. Aus dem hinteren Teil des BMW kam ein Schmerzensschrei. Ich schaltete wieder und versuchte es noch einmal, diesmal sanfter, dann verlor ich wieder das Seitenfenster und die Windschutzscheibe an eine Kugel, die offenbar an mir vorübergeflogen war.
Wir hatten Glück gehabt, aber wenn jemand in der Dunkelheit auf ein sich wild bewegendes Ziel schießt, würde das Glück auf Seiten des Ziels sein. Das wusste ich von Jagdausflügen her. Manchmal hatte ich auf einen Hasen oder ein Kaninchen geschossen, das die Hunde jagten. Es war eine Vergeudung von Munition und gefährlich für die Hunde, aber es machte Spaß. Ich hatte ein einziges Mal einen Hasen erlegt und das war ein glücklicher Zufall gewesen. Die Kerle hinter uns hatten sich bei ihren Angriffen auf uns sehr gut gehalten. Wir durften sie nicht unterschätzen. Einige von ihnen waren vielleicht schlecht ausgebildet, wie Mr Clement gesagt hatte, aber sie hatten uns das Leben nicht gerade leicht gemacht.
Der BMW flog. Es war eine Erdstraße, aber sie verlief gerade und war besser als die meisten anderen. »Hübscher Wagen«, sagte ich zu Homer und sah ihn im Rückspiegel an.
Er grinste böse. »Ich habe mir gedacht, dass ich gleich einen guten nehmen kann.«
»Wem gehört er?«
»Ich weiß nicht. Jemandem in einem der großen Häuser beim Golfplatz.«
Robyn, die neben mir saß, drehte sich um und blickte zum Rücksitz.
»Alles okay, Lee?«
Es folgte eine Pause, dann sagte Lees ruhige Stimme, die ich seit Ewigkeiten nicht mehr gehört hatte: »Besser als in dem verdammten Lastwagen.« Alle lachten laut, als hätten wir jede Menge nervöser Energie.
Robyn wandte sich zu mir, nahm mir den Helm ab und untersuchte meine Stirn, während ich fuhr. »Lass es bleiben«, sagte ich. »Lenkt mich zu sehr ab.«
»Aber auf deinem Gesicht und den Schultern ist jede Menge Blut.«
»Ich glaube nicht, dass es schlimm ist.« Ich hatte jedenfalls nichts gespürt. »Wahrscheinlich nur ein Glasstückchen. Kopfwunden bluten immer stark.«
Wir näherten uns bereits der Meldon Marsh Road. Ich wurde langsamer, schaltete die Lichter ab und beugte mich vor, um mich zu konzentrieren. Nachts ohne Licht zu fahren ist entsetzlich schwierig und gefährlich, aber ich nahm an, dass wir das Überraschungsmoment mit dem Lastwagen verloren hatten. Diese Kerle würden Funkgeräte haben. Jetzt mussten wir uns verstecken.
Es hätte vierzig bis fünfzig Minuten gedauert, bis wir bei meinem Haus waren, aber uns blieben noch zwei Stunden Dunkelheit. Als wir bei Robyn unsere Pläne festgelegt hatten, hatten wir uns darauf geeinigt, dass wir diese Zeit ausnützen wollten. Wir konnten nur zwischen zwei Übeln wählen. Wenn wir direkt nach Hause fuhren, machten wir es ihnen zu leicht, uns zu verfolgen. Wenn wir auf der Straße blieben, bedrohten uns die feindlichen Patrouillen. Wir konnten uns irgendwo verstecken und erst in der folgenden Nacht in mein Haus zurückkehren, aber mit jedem Tag, der verging, bekamen diese Leute den Distrikt besser in den Griff. Und nach dem Schaden, den wir ihnen gerade zugefügt hatten, konnten sie sehr wohl in der darauffolgenden Nacht weitere Truppen herbeischaffen.
Außerdem sehnten wir uns verzweifelt danach, zu Fi, Corrie und Kevin und dem Zufluchtsort in der Hölle zurückzukehren. Wir ertrugen den Gedanken nicht, einen weiteren Tag so weit entfernt von ihr zu verbringen. Wir wollten ihr so nahe wie möglich kommen. Es kostete all unsere Selbstbeherrschung, jetzt einen Umweg zu machen.
Während Homer schweigend in dem im Schatten der Three Pigs Lane geparkten BMW gewartet hatte, hatte er eine Route ausgearbeitet und jetzt begann er aufgrund von Bleistiftmarkierungen, die er auf einer Karte gemacht hatte, Anweisungen zu rufen. »So kommen wir an Chris Langs Haus vorbei«, sagte er, als wir die Meldon Marsh Road, so schnell ich es wagte, entlangfuhren. »Wir werden dort die Wagen wechseln. Wenn die Schlüssel nicht in den Wagen sind, weiß ich, wo ich sie finde.«
»Warum wechseln wir die Wagen?«, fragte Lees müde Stimme von hinten. Wahrscheinlich hatte er Angst vor einer weiteren schmerzhaften Übersiedlung.
Homer erklärte es. »Wir haben vor, mit Vierradantrieb zur Hölle hinaufzufahren und uns dort eine Zeit lang zu verstecken. Der beladene Landrover steht bei Ellies Haus bereit. Das bedeutet, dass wir jeden Wagen, den wir benützt haben, um hierherzukommen, loswerden müssen. Wenn nun nach einem oder zwei Tagen eine Patrouille bei Ellies Haus auftaucht und einen zerschossenen BMW findet, nach dem sie den ganzen Distrikt abgesucht hat ... dann könnten Ellies Eltern einige sehr unangenehme Dinge zustoßen.«
Es folgte eine Pause, dann sagte Lee: »Chris' Eltern haben einen Mercedes.«
»Das ist mir auch eingefallen«, gab Homer zu. »Und sie sind in Übersee, so dass der Mercedes vermutlich nicht auf dem Messegelände, sondern in der Garage steht. Ich glaube nicht, dass Chris schon einen Führerschein hat. Wenn wir schon einen Krieg führen müssen, dann wenigstens stilvoll. Bei der nächsten links, El.«
Zehn Minuten später erreichten wir Chris' Haus und rasten direkt daran vorbei zu den etwa hundert Meter entfernten Garagen und Schuppen. Wir wurden allmählich müde, nicht nur, weil wir körperlich erschöpft waren, sondern auch wegen der emotionalen Intensität der letzten Stunden. Wir kletterten steif aus dem Wagen. Die anderen machten sich auf die Suche nach dem Mercedes, während ich zur Rückseite des BMW ging, um mit Lee zu reden. Ich erschrak, als ich sah, wie blass er war; seine Haare waren schwärzer und seine Augen größer als je zuvor. Er roch noch schlechter als wir und auf seinem Verband war ein neuer roter Fleck erschienen.
»Du blutest«, sagte ich.
»Nur ein bisschen. Wahrscheinlich sind ein paar Nähte aufgegangen.«
»Du siehst schrecklich aus.«
»Und ich rieche auch so. Ich würde niemandem empfehlen vierundzwanzig Stunden lang dazuliegen und zu schwitzen.« Es folgte eine Pause, dann sagte er verlegen: »Hör zu, Ellie, danke, dass du mich rausgeholt hast. Jede Minute dieser vierundzwanzig Stunden habe ich die Schritte von Soldaten gehört, die kamen, um mich zu holen.«
»Es tut mir leid, dass die Fahrt im Lastwagen so wild war.«
Er grinste. »Ich konnte es nicht glauben. Gegen das Ende zu, als du auf die Bremsen gestiegen bist, flog ich tatsächlich raus, machte dabei aber eine Art Rolle und landete wieder drinnen. Dabei sind wahrscheinlich die Nähte aufgegangen.«
»Es tut mir leid. Wir mussten einen Wagen loswerden, der uns folgte.« Ich wischte mir das Gesicht ab. »Mein Gott, ich kann nicht glauben, was wir alles getan haben.«
»Einige Kugeln haben die Schaufel getroffen. Sie durchschlugen sie nicht, aber der Lärm, den sie machten! Ich dachte, ich wäre tot. Ich glaube übrigens, dass sie nicht wussten, dass ich da drin war, sonst hätten sie die Schaufel mit Kugeln übersät.« In diesem Moment fuhr Homer im Rückwärtsgang mit einem großen, olivgrünen Mercedes aus der Garage. Lee lachte.
»Homer hat sich nicht verändert.«
»O doch.«
»Wirklich? Das interessiert mich. Er ist ein ganz schön kluger Junge. Hör zu, Ellie, da ist ein Problem. Wenn wir den BMW dort lassen, wo er ist und ihn eine Patrouille findet, werden sie glauben, dass es zwischen uns und Chris' Familie eine Verbindung gibt. Vielleicht werden sie sein Haus niederbrennen, oder wenn Chris zu ihren Gefangenen gehört, könnten sie ihm etwas antun.«
»Du hast Recht.« Ich wandte mich den anderen zu, die aus dem Mercedes stiegen, und wiederholte, was Lee gesagt hatte. Homer hörte zu, nickte und zeigte auf den Staudamm.
»Können wir so was tun?«, fragte ich. »Mit einem hübschen, neuen BMW, der nur ein paar Einschusslöcher hat?«
Anscheinend konnten wir. Ich fuhr ihn zur oberen Seite des Damms, legte den Leerlauf ein, stieg aus und versetzte ihm einen kräftigen Stoß. Es war ein leichter Wagen, der sich mühelos bewegte. Er fuhr die Böschung in einer beinahe geraden Linie hinunter und tauchte direkt ins Wasser. Er trieb einige Meter hinaus, sank immer tiefer, hörte dann auf zu treiben und begann unterzugehen. Mit einem plötzlichen Gurgeln und einer Menge Luftblasen verschwand er. Robyn, Homer und ich jubelten leise.
Und dieses leise Jubeln holte Chris aus seinem Versteck hervor.
Er sah komisch aus, wie er so im Pyjama vor uns stand, sich die Augen rieb und uns anstarrte. Aber wir sahen für ihn wahrscheinlich genauso komisch aus, wie geschockte Vogelscheuchen, die ihn ihrerseits verblüfft anstarrten. Er war aus ihrem alten Schweinestall gekommen, der heute nur noch aus einer Reihe alter Schuppen besteht, die so offensichtlich verlassen und verfallen sind, dass sie sich gut als Versteck eignen.
Die Zeit verging schnell. Wir mussten rasch Entscheidungen treffen. Chris brauchte nicht lange, um sich dafür zu entscheiden, mit uns zu kommen. Er hatte eine Woche lang mit niemandem Kontakt gehabt, sondern nur von einem Baum aus die Ereignisse beobachtet; später tat er das vom Schweinestall aus, während eine Patrouille nach der anderen das Grundstück durchquerte. Die erste Gruppe hatte das gesamte Geld und den Schmuck mitgehen lassen. Danach hatte Chris die wenigen noch vorhandenen Wertgegenstände vergraben, sich aber den Rest der Woche versteckt gehalten, und war nur aufgetaucht, um nach den Tieren zu sehen und sich Lebensmittel aus dem Haus zu holen.
Er erzählte diese Geschichte vom Rücksitz seines Familienmercedes aus, während wir auf Nebenstraßen unterwegs waren, und uns wurde klar, dass wir viel Glück gehabt hatten, weil wir auf keine Patrouillen gestoßen waren. Sein Haus war der Stadt näher als das unsere und auch viel größer und auffallender und er hatte täglich Besuche von Soldaten gehabt.
»Sie haben Angst«, sagte er. »Sie wollen keine Helden sein. Sie bleiben immer dicht beisammen. Während der ersten Tage waren sie wirklich nervös, aber jetzt fühlen sie sich sicherer.«
»Wie hat es angefangen?«, fragte ich. »Das heißt, wann wurde dir klar, dass etwas Merkwürdiges vor sich geht?«
Chris war normalerweise ruhig, aber er hatte so lange nicht gesprochen, dass er jetzt die Unterhaltung allein bestritt.
»Es war an dem Tag, an dem Mum und Dad ihre Reise antraten. Du erinnerst dich doch daran? Deshalb konnte ich den Ausflug nicht mitmachen. Murray, unser Arbeiter, war mit seiner Familie zur Messe gefahren und bot mir an mich mitzunehmen, aber ich hatte keine Lust. Ohne euch wäre es nicht sehr lustig gewesen und ich mag solche Sachen ohnehin nicht.« Chris war ein schlanker Junge mit großen Augen und einer Menge nervöser Angewohnheiten; zum Beispiel in der Mitte jedes Satzes zu husten. Er nahm weder am Gedenktag noch an Holzhacker-Wettbewerben teil, sondern befasste sich mehr mit den Grateful Dead, Hieronymus Bosch und Computern. Man wusste auch, dass er Gedichte schrieb und mehr verbotene Substanzen verwendete, als in einem durchschnittlichen Polizeilabor zu finden waren. Sein Motto war: »Wenn es wächst, rauch es.« Neunzig Prozent der Schüler hielten ihn für verschroben, zehn Prozent hielten ihn für eine Legende und alle fanden, dass er ein Genie war.
»Murray kam jedenfalls in dieser Nacht nicht nach Hause, aber das fiel mir nicht auf, weil ihr Haus ziemlich weit von unserem entfernt ist. Ich bemerkte nichts Ungewöhnliches. Jets der Luftwaffe rasten herum, aber ich dachte, das gehört zum Gedenktag. Dann fiel gegen neun Uhr der Strom aus. Das geschieht so oft, dass ich mich nicht aufregte, sondern nur darauf wartete, dass er wieder eingeschaltet wurde. Doch eine Stunde später gab es noch immer keinen Strom, deshalb rief ich an, um zu fragen, was los sei. Dabei stellte ich fest, dass auch das Telefon nicht funktionierte, was ungewöhnlich ist – es geschieht häufig, dass eins von beiden ausfällt, aber nicht beide zugleich. Deshalb ging ich zu den Murrays hinüber, stellte fest, dass sie nicht zu Hause waren, dachte, sie besuchen jemanden, kam nach Hause, ging mit einer Kerze zu Bett, wachte am Morgen auf und entdeckte, dass noch immer nichts funktionierte. ›Das ist ernst‹, dachte ich, ging wieder zu den Murrays und dort war noch immer niemand. Ich ging die Straße entlang zu den Ramsays – sie sind unsere Nachbarn –, das Haus war leer, ging weiter, fand auch bei den Arthurs niemanden, merkte, dass es keinen Verkehr gab, dachte: ›Vielleicht bin ich der einzige Mensch, der auf diesem Planeten übrig geblieben ist‹, ging um eine Ecke und fand einen zertrümmerten Wagen mit drei Toten drin. Sie waren gegen einen Baum gefahren, aber das hatte sie nicht umgebracht – sie waren erschossen worden. Ihr könnt euch vorstellen, dass ich ausflippte und auf die Stadt zuzulaufen begann. An der nächsten Ecke kam der nächste Schock – Onkel Als Haus, das gesprengt worden war. Es war nur noch ein Haufen rauchender Trümmer. Zwei Fahrzeuge kamen mir entgegen, und statt auf die Straße zu springen und sie aufzuhalten, was ich eine Stunde vorher noch getan hätte, versteckte ich mich und beobachtete sie. Es waren Militärlastwagen voller Soldaten und es waren nicht unsere Leute. Ich dachte: ›Entweder habe ich sehr seltsamen und starken Stoff genommen oder das ist kein typischer Tag im Leben von Wirrawee.‹ Seither ist alles sehr sonderbar. Dass ich mitten in der Nacht aufwache und einen BMW im Stausee treiben sehe, gehört auch dazu.«
Chris brauchte eine gute halbe Stunde, bis er uns erzählt hatte, was ihm zugestoßen war. Dann erzählten wir ihm unsere Geschichte. Lange bevor wir zu meinem Haus kamen, schliefen Homer und Robyn schon tief und fest. Chris, Lee und ich waren die Einzigen, die noch bei Bewusstsein waren. Ich weiß nicht, wie es den beiden ging, aber für mich war es schrecklich mühsam. Ich betupfte mir die Augenlider mit Spucke, was merkwürdig klingt, aber ein wenig half. Ich war sehr erleichtert, als ich sah, wie sich das erste Licht aus dem Osten im Blechdach meines Zuhause spiegelte. Erst da wurde mir klar, dass ich die ganze Zeit über den elegantesten Wagen gefahren hatte, den ich je besitzen würde, und dass ich kein einziges Mal daran gedacht hatte. Was für eine vergeudete Gelegenheit. Ich war ziemlich böse auf mich.