Vierzehntes Kapitel

Am Montagmorgen zog ein dunkler Strom aus Flugzeugen eine Stunde oder noch länger über uns hinweg. Leider waren es nicht unsere. Ich hatte noch nie so viele Flugzeuge auf einmal gesehen. Sie sahen wie große, dicke Transportflugzeuge aus und wurden von niemandem behelligt, obwohl eine halbe Stunde später sechs unserer Luftwaffenjets auf der gleichen Route vorbeipfiffen. Wir winkten ihnen optimistisch zu.

Wir waren zeitig in der Früh in meinem Haus gewesen und brachten eine weitere Ladung mit: Lebensmittel, Werkzeug, Kleidung, Toilettenartikel, Bettzeug und ein paar Dinge, die wir vorher vergessen hatten, wie Grillgeräte, Tupperware, eine Uhr und, wie ich beschämt zugeben muss, Wärmflaschen. Robyn hatte um eine Bibel gebeten. Ich wusste, dass wir irgendwo eine hatten, fand sie schließlich, staubte sie ab und fügte sie unserer Sammlung hinzu.

Es war schwierig, weil wir nicht so viel mitnehmen durften, dass Patrouillen merkten, dass da jemand auf Beute aus war. Also fuhren wir zu den etwa einen Kilometer entfernten Grubers und holten uns weitere Lebensmittel. Ich nahm aus Mr Grubers Schuppen auch Samen und Sämlinge mit. Ich fing an genauso zu denken wie Homer und auf lange Sicht zu planen.

Als Letztes besorgten wir uns ein halbes Dutzend Hühner – unsere besten Leghennen –, etwas Munition, Zaundraht und Pfähle. Im Morgengrauen ratterten wir den Weg hinauf, während sich hinten die Hühner neugierig miteinander unterhielten. Ich ließ diesmal Homer fahren, weil ich annahm, dass er Übung brauchte. Um Fi zu unterhalten, schloss ich die Augen, schlug die Bibel auf gut Glück auf, zeigte auf eine Stelle, sagte dabei gleichzeitig: »Durch meinen übersinnlichen Finger werde ich einen Satz finden, der für uns gilt«, öffnete die Augen und las den Vers vor. Ich stieß auf folgenden Text: »Ich hasse sie mit vollkommenem Hass; ich zähle sie zu meinen Feinden.«

»Donnerwetter«, sagte Fi. »Ich habe geglaubt, dass die Bibel voller Liebe und Vergebung und all dem Zeug ist.«

Ich las weiter. »Schütze mich, o Herr, vor bösen Menschen; bewahre mich vor gewalttätigen Männern, die in ihren Herzen Böses planen und ständig Kriege entfachen.«

Die anderen waren tatsächlich beeindruckt. Mir ging es genauso, aber ich ließ es mir nicht anmerken. »Ich habe euch ja gesagt, dass ich einen übersinnlichen Finger habe.«

»Versuch es mit einer anderen Seite«, sagte Homer. Aber ich hatte nicht vor, meinen Ruf so bedenkenlos wegzuwerfen.

»Nein, du hast die Worte der Weisheit gehört«, wehrte ich ab. »Das ist alles für heute.«

Fi griff nach der Bibel und versuchte es mit dem gleichen Ritual. Beim ersten Mal traf sie den leeren Absatz am Ende eines Kapitels. Beim zweiten Mal las sie: »Dann beförderte der König Schadrach, Meschach und Abed-Nego in der Provinz Babylon.«

»Es hat keinen Sinn«, sagte ich. »Man muss den übersinnlichen Finger haben.«

»Vielleicht kann das Zitat, das du gelesen hast, Robyn hinsichtlich des Niederschießens von Soldaten beruhigen«, sagte Homer zu mir.

»Hmmm, ich habe die Seite markiert. Ich werde es ihr zeigen, sobald sie zurückkommt.« Niemand erwähnte die Möglichkeit, dass sie vielleicht nicht zurückkommen würde. Ich glaube, dass die Menschen immer so sind. Sie glauben, dass sie nur etwas Böses sagen müssen, damit es wie durch Zauberei auch geschieht. Ich glaube nicht, dass Worte so viel Macht besitzen.

Wir erreichten den Kamm, versteckten den Landrover und brachten die Hühner und alles, was wir sonst noch tragen konnten, in die Hölle. Wir mussten bis zum Einbruch der Dunkelheit warten, bevor wir das restliche Zeug holen konnten. Es war zu gefährlich, oben am Tailors Stitch zu sein, wenn es hell wurde und so viele Flugzeuge unterwegs waren. Und es sah aus, als würde es ein glühend heißer Tag werden. Sogar unten in der Hölle, wo es normalerweise kühl war, wurde die Luft heiß wie in einem Hochofen. Zu unserer Überraschung lehnte Lee auf der anderen Seite der Lichtung an einem Baum, statt zwischen den Felsen zu liegen. »Heiliger Strohsack!«, sagte ich. »Du bist von den Toten auferstanden.«

»Ich hätte mir einen kühleren Morgen aussuchen sollen«, sagte er grinsend. »Aber es macht mich krank, immer nur herumzusitzen. Nachdem ich mich endlich von der Lastwagenfahrt erholt habe, fand ich, es wäre Zeit für ein wenig Bewegung.« Er grinste und war offensichtlich sehr zufrieden mit sich, doch er schwitzte. Ich spülte ein Handtuch im Bach und wischte ihm das Gesicht ab.

»Bist du sicher, dass du das tun sollst?«, fragte ich.

Er zuckte die Achseln. »Es fühlt sich richtig an.«

Ich erinnerte mich daran, wie oft sich unsere kranken oder verletzten Tiere irgendwo in einem Loch verkrochen hatten – die Hunde bevorzugten den Raum unter dem Scherschuppen – und tagelang unten blieben, bis sie entweder starben oder munter wedelnd und geheilt wieder hervorkamen. Vielleicht ging es Lee genauso. Seit er angeschossen worden war, hatte er zwischen den Felsen gelegen und seinen stillen Gedanken nachgehangen. Er wedelte zwar noch nicht, aber die Energie war in sein Gesicht zurückgekehrt.

»An dem Tag, an dem du von einem Ende dieser Lichtung zum anderen laufen kannst«, sagte ich, »werden wir einem Huhn den Kopf abhacken und zum Abendessen Hühnchen servieren.«

»Wenn Robyn aus Wirrawee zurückkommt, kann sie die Nähte entfernen«, sagte er. »Sie waren lang genug drinnen.« Ich half ihm zu einem schattigen Platz neben dem Bach, wo wir zusammen in einem feuchten, dunklen Felsbecken sitzen konnten – an diesem Tag wahrscheinlich der kühlste Platz in der Hölle.

»Ellie«, sagte er und räusperte sich nervös. »Ich wollte dich schon immer etwas fragen. An dem Tag bei deinem Haus, im Heuschober, als du zu mir gekommen bist und dich neben mich gelegt hast und wir ...«

»Schon gut, schon gut«, unterbrach ich ihn. »Ich weiß, was wir gemacht haben.«

»Ich dachte, du hättest es vielleicht vergessen.«

»Glaubst du vielleicht, ich mache so was so oft, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann? Es war nicht gerade ein alltägliches Ereignis für mich.«

»Du hast mich seither jedenfalls kein einziges Mal angesehen. Du hast sogar kaum mit mir gesprochen.«

»Ich war einige Tage lang ziemlich erledigt. Ich habe nur geschlafen und geschlafen.«

»Ja, aber seither.«

»Seither?« Ich seufzte. »Seither bin ich verwirrt. Ich weiß nicht, was ich denke.«

»Wirst du jemals wissen, was du denkst?«

»Wenn ich diese Frage beantworten könnte, würde ich wahrscheinlich alles wissen.«

»Habe ich etwas gesagt, das dich durcheinandergebracht hat? Oder etwas getan?«

»Nein, nein. Es liegt nur an mir. Ich weiß die halbe Zeit nicht, was ich tue, deshalb tue ich manches und meine nicht immer, was ich zu meinen glaube. Verstehst du, was ich meine?«, fragte ich hoffnungsvoll, weil ich selber nicht sicher war.

»Du sagst also, dass es nichts bedeutet.«

»Ich weiß es nicht. Damals hat es etwas bedeutet und es bedeutet auch heute etwas, aber ich weiß nicht, ob es das bedeutet, was du anscheinend möchtest, dass es bedeutet. Sagen wir einfach, dass ich eine Schlampe bin, und belassen es dabei.«

Er sah wirklich verletzt aus und es tat mir leid, dass ich das gesagt hatte. Ich hatte es nicht einmal gemeint.

»Es ist ein bisschen schwierig, hier unten zu sitzen«, sagte er. »Wenn du mich loswerden willst, musst du diejenige sein, die weggeht.«

»Ach, Lee, ich will dich nicht loswerden. Ich will niemanden loswerden. Wir alle müssen weiß Gott wie lange weiter an diesem Ort leben.«

»Ja«, sagte er. »An diesem Ort: der Hölle. Manchmal scheint er wirklich die Hölle zu sein. Zum Beispiel jetzt.«

Ich wusste nicht, warum ich so redete. Das alles kam zu unerwartet. Es war ein Gespräch, für das ich noch nicht bereit war. Wahrscheinlich habe ich die Dinge gern unter Kontrolle und Lee hatte mir dieses Gespräch zu einer Zeit und an einem Ort aufgezwungen, die er gewählt hatte. Ich wünschte, Corrie wäre hier gewesen, damit ich zu ihr gehen und mit ihr darüber reden konnte. Lee war so intensiv, dass er mir Angst machte, aber gleichzeitig fühlte ich etwas Starkes, wenn er in der Nähe war – ich wusste nur nicht, was es war. Ich war immer sehr wach, wenn ich ihm nahe war. Meine Haut fühlte sich wärmer an, ich beobachtete ihn aus den Augenwinkeln, richtete meine Bemerkungen an ihn, nahm seine Reaktionen wahr, hörte mehr auf seine Worte als auf die jedes anderen. Wenn er einer Meinung Ausdruck verlieh, dachte ich genauer darüber nach, maß ihr mehr Gewicht bei als zum Beispiel den Ansichten von Kevin oder Chris. Ich dachte nachts in meinem Schlafsack oft über ihn nach, und weil ich auch beim Einschlafen an ihn dachte, neigte ich dazu, von ihm zu träumen. Es kam so weit – das klingt jetzt dumm, ist aber wahr –, dass ich ihn mit meinem Schlafsack in Verbindung brachte. Wenn ich den einen ansah, dachte ich an den anderen. Das bedeutet nicht unbedingt, dass ich ihn in meinem Schlafsack haben wollte, aber im Geist gehörten sie für mich zusammen. Ich lächelte beinahe, als ich daran dachte, und fragte mich, was für ein Gesicht er machen würde, wenn er plötzlich meine Gedanken lesen könnte.

»Denkst du noch immer oft an Steve?«, fragte er.

»Nein, nicht an Steve. Das heißt, ich denke genauso an ihn wie an viele andere Leute, frage mich, ob es ihnen gut geht, und hoffe, dass es der Fall ist, aber ich denke nicht so an ihn, wie du es meinst.«

»Wenn ich dich also nicht beleidigt habe und du nicht mehr mit Steve zusammen bist – wo bleibe ich dann?«, fragte er aufgebracht. »Magst du mich einfach als Mensch nicht?«

»Nein«, antwortete ich, entsetzt von dieser Idee, aber gleichzeitig auch ein wenig verärgert, weil er mich in eine Beziehung drängen wollte. Das tun Jungs immer. Sie wollen endgültige Antworten – vorausgesetzt, es sind die richtigen –, und sie glauben, dass sie nur hartnäckig genug sein müssen, um ihr Ziel zu erreichen.

»Hör mal«, sagte ich. »Es tut mir leid, dass ich dir keine Liste meiner Gefühle für dich geben kann, nach Punkten geordnet und in alphabetischer Reihenfolge. Aber ich kann es einfach nicht. Ich bin vollkommen verwirrt. Der Tag im Heuschober war kein Zufall. Es bedeutete etwas. Ich versuche noch immer herauszufinden, was.«

»Du sagst, dass du nichts gegen mich hast«, sagte er langsam, als versuche er zu verstehen. Er sah mich nicht an und war sehr nervös, aber er steuerte offensichtlich auf eine wichtige Frage zu. »Heißt das also, dass du mich magst?«

»Ja, Lee, ich mag dich sehr. Aber im Augenblick machst du mich wahnsinnig.« Es war komisch, wie oft ich daran gedacht hatte, dass wir dieses Gespräch führen würden, aber jetzt, wo es so weit war, wusste ich nicht, ob ich das sagte, was ich sagen wollte.

»Ich habe bemerkt, dass du Homer – irgendwie besonders ansiehst, seit wir hier sind. Hast du etwas für ihn übrig?«

»Wenn dem so wäre, würde es nur mich etwas angehen.«

»Weil ich glaube, dass er nicht der Richtige für dich ist.«

»Ach, Lee, du bist heute so lästig. Vielleicht hättest du nicht versuchen sollen mit diesem Bein zu gehen. Ich glaube wirklich, dass es dein Gehirn angegriffen hat. Schieben wir es darauf oder aufs Wetter oder sonst was, weil ich nicht dein Eigentum bin und du kein Recht hast zu entscheiden, wer für mich gut oder schlecht ist, vergiss das nicht.« Ich stürmte wütend auf die andere Seite der Lichtung, wo Fi und Homer ein Gehege für die Hühner angelegt hatten. Die Hühner waren bereits darin und wirkten entsetzt, vielleicht wegen meines Wutanfalls, wahrscheinlich aber, weil sie sich fragten, was zum Teufel sie dort zu suchen hatten.

Ich sah den Hühnern eine Zeit lang zu, dann ging ich über die Lichtung zu der Stelle, an der der Bach sich im dichten Busch verliert und in einem dunklen Tunnel aus Unterholz verschwindet. Ich hatte schon einige Tage lang daran gedacht, hier ein bisschen herumzuforschen, auch wenn es so aussah, als wäre das unmöglich. Jetzt war der richtige Augenblick, es zu versuchen. Ich konnte meinen Zorn abreagieren und mich mit etwas anderem beschäftigen. Außerdem sah es dadrinnen kühl aus. Ich zog Schuhe und Socken aus, stopfte die Socken in die Schuhe und hängte mir die Schuhe um den Hals. Dann bückte ich mich und versuchte so zu tun, als wäre ich ein Wombat, ein Wasser-Wombat. Ich habe die richtige Figur dafür und es war die einzige Möglichkeit, unter all den Pflanzenwuchs zu gelangen. Ich benützte den Bach als Weg, hatte aber deutlich den Eindruck, durch einen Tunnel zu gehen. Das Grün wölbte sich so niedrig, dass es mir den Rücken zerkratzte, sogar, als ich schon fast das Wasser küsste. Es war kühl – ich nahm an, dass die Sonne seit Jahren nicht hereingedrungen war – und ich hoffte, dass ich nicht zu viele Schlangen treffen würde.

Der Bach war hier schmäler als auf unserer Lichtung, etwa eineinhalb Meter breit und sechzig Zentimeter tief. Der Boden bestand nur aus Steinen, aber sie waren glatt und alt, nur wenige hatten scharfe Kanten, und außerdem waren meine Fußballen in der letzten Zeit hart geworden. Es gab ein paar dunkle, ruhige Weiher, die sehr tief aussahen, so dass ich sie mied. Der Bach plauderte weiter, kümmerte sich um seine Angelegenheiten und ließ sich durch meine kriechenden Fortschritte nicht stören. Er floss schon sehr lange in diesem Bett.

Ich folgte ihm über etwa hundert Meter durch viele Biegungen und Kehren. Der Anfang der Reise war, wie bei den meisten Reisen, angenehm gewesen und ich hoffte, dass das Ende ebenfalls angenehm sein würde, aber der mittlere Teil war mühsam. Mein Rücken schmerzte und meine Arme waren gründlich zerkratzt. Mir wurde wieder heiß. Doch der Baldachin aus Unterholz wurde höher und es wurde auch heller – hie und da prallte glitzerndes Sonnenlicht vom Wasser ab und die geheimnisvolle Kühle des Tunnels wich der üblichen trockenen Hitze, wie wir sie auf der Lichtung hatten. Ich richtete mich ein wenig auf. Ein Stück weiter vorn schien der Bach breiter zu werden, ehe er sich nach rechts wandte und wieder im Unterholz verschwand. Er konnte sich hier ausbreiten, weil die Ufer nicht mehr senkrecht waren. Sie stiegen schräg an und ich sah schwarze Erde, rote Felsen und Moosflecken in einem kleinen, schattigen Raum, der nicht viel größer war als unser Wohnzimmer zu Hause. Ich watete gebückt weiter. Am Ufer wuchsen kleine, blaue Blumen. Als ich näher kam, sah ich tiefer im Busch in einiger Entfernung vom Bach einen Fleck voller rosa Blumen. Ich sah noch einmal hin und erkannte, dass es Rosen waren. Mein Herz schlug plötzlich wild. Rosen! Hier, mitten in der Hölle! Unmöglich!

Ich platschte die letzten Meter zu der Stelle, an der die Ufer zurückzuweichen begannen, und stieg aus dem Bach auf den moosbedeckten Felsen. Ich spähte in die wilde Vegetation und bemühte mich zwischen Schatten und festen Dingen zu unterscheiden. Das einzig Sichere war der Rosenstrauch, dessen Blüten genügend Sonnenlicht auffingen, um wie sanfte Edelsteine zu leuchten. Aber allmählich erkannte ich, was ich sah. Quer vor mir war ein langer Streifen verfaulenden schwarzen Holzes, ein Pfahl diente als Stütze, der dunkle Raum war ein Eingang. Ich betrachtete das überwachsene Gerüst einer Hütte.

Ich ging langsam auf Zehenspitzen weiter. Es war ein stiller Ort und ich empfand eine Art Ehrfurcht – wie im Salon meiner Großmutter mit den schweren alten Möbeln und den immer zugezogenen Vorhängen. Die beiden Orte hätten nicht verschiedener sein können – die verfallene Hütte und das feierliche alte Sandsteinhaus, aber beide hatten nicht mehr viel mit den Lebenden, dem Leben zu tun. Meiner Großmutter hätte es nicht gefallen, mit einem Mörder verglichen zu werden, aber sie und der Mann, der hier gelebt hatte, hatten sich beide von der Welt zurückgezogen, hatten sich Inseln geschaffen. Es war, als wären sie, noch während sie sich auf Erden befanden, ins Jenseits eingegangen.

Am Eingang zur Hütte musste ich eine Menge Schlingpflanzen und hohes Schilfrohr wegreißen. Ich wusste nicht genau, ob ich hineingehen wollte. Es war ein bisschen, als betrete man ein Grab. Und wenn der Einsiedler noch immer hier war? Wenn seine Leiche auf dem Boden lag? Oder sein Geist darauf wartete, sich an dem ersten Menschen zu nähren, der zur Tür hereinkam? Die Hütte und ihre ganze Umgebung hatten etwas Dumpfes, Brütendes an sich, das weder friedlich noch angenehm war. Nur die Rosen brachten ein wenig Wärme in die Lichtung. Aber meine Neugier war groß; es war undenkbar, dass ich so weit gekommen war und dann nicht weitergehen würde. Ich trat in das dunkle Innere, sah mich um und versuchte die Formen rings um mich zu erkennen. Genauso wie ich einige Minuten zuvor die Form der Hütte von ihrer wilden Umgebung hatte unterscheiden müssen. Es gab ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl. Allmählich wurden auch die kleineren, weniger auffallenden Gegenstände deutlicher. An einer Wand standen Regale, daneben ein roh gezimmerter Geschirrschrank, ein Herd, über dem noch immer ein Kessel hing. In der Ecke war eine dunkle Gestalt, die mir einige Minuten lang Herzklopfen verursachte. Sie sah wie ein schlafendes Tier aus. Ich machte einige Schritte und betrachtete sie. Es schien eine Kiste aus Metall zu sein. Ursprünglich war sie schwarz gestrichen gewesen, doch jetzt blätterte der Rost ab. Alles war wie diese Truhe – verfallen.

Der Lehmboden, auf dem ich stand, war mit Zweigen, Lehmklumpen und dem Kot von Opossums und Vögeln bedeckt. Der Kessel war rostig, das unterste Regal hing schief und die Decke war mit Spinnweben geschmückt. Doch sogar die Spinnweben sahen alt und tot aus und hingen herab wie Miss Havishams Haare.

Meine Augen hatten sich inzwischen an das trübe Licht gewöhnt. Zu meiner Erleichterung lag niemand auf dem Bett, aber es gab vermoderte Überreste von grauen Decken. Das Bett selbst bestand aus zusammengenageltem Schnittholz und sah noch ziemlich intakt aus. Auf den Regalen standen nur einige wenige alte Kochtöpfe. Ich drehte mich wieder um, um mir die Truhe anzusehen, und schlug mit dem Kopf gegen einen Fleischbehälter, der von einem Balken herabhing. Eine Ecke hatte mich an der Schläfe getroffen. »Verdammt«, sagte ich und rieb mir heftig den Kopf. Es hatte wirklich wehgetan.

Ich kniete nieder, um in die Truhe zu schauen. Es schien in der Hütte nichts mehr zu geben, was ich nicht gesehen hatte. Nur das Innere der Truhe war noch verborgen. Ich versuchte den Deckel hochzuheben. Er widersetzte sich, war durch Schmutz und Rost blockiert und ich musste ziehen und rütteln, um ihn ein paar Zentimeter aufzubringen. Metall knirschte gegen Metall, während ich ihn langsam hinaufzwang und ihn dabei so verzog, dass man ihn nie wieder würde schließen können.

Als ich hineinsah, war meine erste Reaktion Enttäuschung. Es war nur sehr wenig da, ein kläglicher Haufen zerrissener alter Sachen auf dem Boden der Truhe. Hauptsächlich Papierstückchen. Ich zog alles heraus und trug es ins Freie. Es gab einen Gürtel aus geflochtenem Leder, ein zerbrochenes Messer, eine Gabel und ein paar Schachfiguren: zwei Bauern und ein zerbrochener Springer. Der Papierhaufen bestand hauptsächlich aus alten Zeitungen, aber auch aus Briefpapier und der Hälfte eines Buches von Joseph Conrad mit dem Titel Herz der Finsternis. Als ich das Buch aufschlug, kroch ein großer schwarzer Käfer heraus. Das Buch klappte bei einer schönen farbigen Darstellung eines Bootes im Dschungel auf. Eigentlich waren es zwei Bücher in einem; es gab eine zweite Geschichte, die Jugend hieß. Doch die übrigen Papiere waren zu zerrissen, schmutzig und vergilbt, um von Interesse zu sein. Anscheinend würde das Leben des Einsiedlers sogar so viele Jahre nach seinem Verschwinden ein Geheimnis bleiben.

Ich stocherte noch etwa zehn Minuten herum, fand aber nicht viel. Es hatte andere Versuche gegeben, Blumen zu züchten; außer den Rosen gab es einen Apfelbaum, einige Gänseblümchen und einen großen wilden Fleck Minze. Ich versuchte mir einen Mörder vorzustellen, der diese schönen Gewächse sorgfältig gepflanzt und gepflegt hatte; er hatte es versucht und war gescheitert. Ich glaube, dass sogar Mörder etwas haben müssen, das sie mögen, und sie müssen schließlich etwas mit ihrer Freizeit anfangen. Sie können nicht ihr Leben lang den ganzen Tag herumsitzen und an ihre Morde denken.

Nach einiger Zeit hob ich den Gürtel und das Buch auf und watete in den Bach zurück, um gebückt durch den Tunnel in unser Lager zurückzukehren. Es war eine Erleichterung, aus diesem düsteren Dickicht in den Sonnenschein zu treten. Ich hatte vergessen, wie heiß der Tag war, aber ich freute mich beinahe über die glühende Hitze.

Als ich auftauchte, kam Homer zu mir.

»Wo warst du?«, fragte er. »Wir haben uns Sorgen gemacht.« Er war sehr zornig und klang wie mein Vater. Anscheinend war ich länger fortgeblieben, als ich gedacht hatte.

»Ich habe eine Begegnung mit dem Einsiedler in der Hölle hinter mir«, antwortete ich. »Eine Führung wird demnächst stattfinden. Jedenfalls sobald ich gegessen habe. Ich bin nämlich am Verhungern.«