Zweiundzwanzigstes Kapitel
Als wir Homer und Lee in einem Abzugskanal hinter dem Haus der Fleets trafen, redeten zehn Minuten lang alle durcheinander, weil jeder der Erste sein wollte. Erleichterung, Erregung, Erklärungen, Rechtfertigungen.
»Jetzt hält jeder den Mund!«, brüllte Lee schließlich und übernahm damit Homers Taktik. In der plötzlichen Stille sagte er: »Na also, so ist es besser. Fi, du fängst an.« Wir erzählten unsere Geschichten und dann erzählten die Jungs ihre. Da sie sich auf ihrer Seite des Flusses sicherer gefühlt hatten, waren sie dortgeblieben und hatten die Explosion beobachtet – das Erdbeben, das wir nur gehört und gespürt hatten.
»Ach, Ellie«, sagte Homer, »das war das Großartigste, was ich je gesehen habe.« Ich begann zu fürchten, dass wir ihn ebenfalls in einen Pyromanen verwandelt hatten.
»Ja«, sagte Lee. »Es war eine richtige Sprengladung.«
»Erzählt uns alles«, sagte ich. »Lasst euch Zeit. Wir haben den ganzen Tag für uns.« Es war früher Morgen und wir frühstückten aus Dosen aus der Speisekammer der Fleets. Ich hatte gebackene Bohnen und Thunfisch. Ich fühlte mich sehr wohl; ich war vor dem Morgengrauen im Stausee geschwommen und war froh, die letzten Benzinspuren von meiner Haut gewaschen zu haben. Ich war in der Stimmung, sanft behandelt zu werden, und freute mich darauf, mich den größten Teil des Tages an Lee zu schmiegen. Aber fürs Erste war ich damit zufrieden, mich auszustrecken, die Augen zu schließen und eine Gutenachtgeschichte zu hören.
»Zunächst ging alles gut«, sagte Homer. »Wir kamen ohne Zwischenfälle zur Rinderfarm, obwohl es Schwerarbeit war, die Motorräder die letzten Kilometer zu schieben.« Homer hatte es zweimal getan; er hatte zuerst sein Motorrad in das Versteck gebracht und dann Lees geholt. »Wie ihr wisst«, fuhr er fort, »sah unser Plan vor, dass ich die Tiere zusammentreiben und hübsch und still auf die Straße bringen würde. Dann sollte sich Lee an der Straße verstecken und mit dem Blitzlicht herausspringen, während ich den Elektrostachel verwendete, um sie zur Stampede zu bringen.«
Wir hatten nur einen Elektrostachel gefunden und die Aerosol-Kännchen als zu gefährlich ausgeschlossen, aber wir hatten ein Kamera-Blitzlicht mit Batterie gefunden und Homer war überzeugt davon, dass die raschen, blendenden Blitzlichter wirken würden.
»Da waren wir also«, fuhr Homer fort. »Wir lagen in der Koppel, beobachteten die Sterne und träumten von riesigen frischen T-Bone-Steaks. Wir plauderten einige Male mit euch, wie ihr wisst, und warteten geduldig auf einen Konvoi. Dann standen wir plötzlich vor zwei großen Problemen. Das eine war, dass kein Konvoi kam. Das wäre vielleicht nicht so schlimm gewesen, wenn wir euch wenigstens anrufen und hätten sagen können, dass wir trotzdem weitermachen. Obwohl in diesem Fall die große Gefahr bestand, dass plötzlich ein Konvoi hinter uns auftauchte. Das eigentliche Problem war jedoch, dass das verdammte Walkie-Talkie plötzlich den Geist aufgab. Wir konnten es nicht glauben. Wir versuchten alles – schließlich nahm Lee es auseinander –, aber es war genauso tot wie die Dinosaurier.
Wir waren ziemlich verzweifelt. Wir wussten, dass ihr an einer sehr gefährlichen Stelle sitzt und auf ein Signal wartet, das nie kommen würde. An diesem Punkt gerieten wir beinahe in Panik. Wir hatten zwei Möglichkeiten – mit den Rindern weiterzumachen und zu hoffen, dass ihr rechtzeitig reagieren würdet, oder es abzublasen. Doch wir konnten es nicht abblasen, ohne es euch mitzuteilen, und das hätte euch in eine unmögliche Situation gebracht. Das war ein schwacher Punkt in unserer Planung – wir haben uns zu sehr auf die Walkie-Talkies verlassen. Das eine habe ich jetzt gelernt – verlass dich nicht zu sehr auf Maschinen.
Uns blieb also nur eine Wahl. Es war schon so spät, dass wir nicht mehr auf einen Konvoi warten konnten. Lee ging auf die Straße, um zu blitzen, und ich brachte die Herde in Bewegung.»
»Wie?«, fragte Fi.
»Was?«
»Wie? Wie bringt man eine große Viehherde dazu, mitten in der Nacht das zu tun, was man will?«
Mir fiel ein, dass sie schon früher eine Antwort auf diese Frage verlangt hatte. Es war ihr ernst damit, auf dem Land zu leben.
Homer sah etwas dumm drein. »Na ja, man zischt.«
»Man tut was?«
»Zischen. Ein alter Trick der Viehhirten. Mich hat es die alte Miss Bamford gelehrt. Rinder mögen das Zischen nicht, also geht man hinter ihnen herum und macht eine Schlange nach.«
Ich erwartete beinahe, dass Fi ein Notizbuch zücken und es gewissenhaft notieren würde. Nachdem Homer eines seiner Berufsgeheimnisse verraten hatte, fuhr er fort: »Wir hatten zunächst den Ehrgeiz, sie auf der Straße zu halten, bis die Wachen am richtigen Ende der Brücke waren, aber das war hoffnungslos. Die Rinder waren zu unruhig und wir befürchteten, dass ein Konvoi oder eine Patrouille auftauchen würde. Deshalb nahmen wir den Elektrostachel und das Blitzlicht und machten uns auf den Weg.«
»Es hat Spaß gemacht«, sagte Lee nachdenklich. »Abgesehen von den ersten Sekunden, als ich glaubte, sie würden mich angreifen.«
»Aber die Wachen waren am richtigen Ende der Brücke«, warf ich ein. »Sie waren am perfekten Platz.«
»Tatsächlich? Das war dann das größte Glück, das wir während der ganzen Geschichte hatten. Das war vollkommen ungeplant. Wir brachten die Tiere zur Raserei, bis sie uns überholten, dann rannten wir zurück und holten die Motorräder. Wir hielten dann am Flussufer an, um einen Blick darauf zu werfen. Und ich sage euch, ich wünschte, wir hätten nicht nur das Blitzlicht, sondern auch die Kamera mitgenommen. Es war unglaublich. Die letzten Rinder polterten von der Brücke und die Soldaten hingen noch am Geländer, aber sie schossen auf dich, Ellie, als ob Jagdsaison wäre. Bis an mein Lebensende werde ich nicht verstehen, wieso die Kugeln dich nicht getroffen haben. Die Luft muss voll von ihnen gewesen sein. Wir schrien: ›Lauf, Ellie, lauf, lauf!‹ Was das Verblüffendste war – du hast noch immer das Seil festgehalten. Wir sahen den Tankwagen, der geduldig unter der Brücke saß und darauf wartete, dass man ihn in die Luft jagte. Dann bist du in den Büschen verschwunden. Um die Wahrheit zu sagen, du schienst in sie hineinzuschweben wie ein Engel. Ich hatte die bizarre Idee, dass sie dich getroffen hatten und du tot warst und ich deinen Geist beobachtete.«
Ich lachte, sagte aber kein Wort.
»Eine Sekunde später kam dann diese Flamme«, sagte Homer. »Ich glaube nicht, dass die Soldaten begriffen, was das war. Sie standen am Geländer, zeigten darauf und riefen einander etwas zu. Sie konnten den Tankwagen ja nicht sehen. Doch dann stellten sie alle plötzlich fest, dass sie in Gefahr waren, und rasten von der Brücke herunter. Sie schafften es gerade noch. Du wirst dich freuen zu hören«, sagte er und sah mich an, »dass ziemlich sicher keiner von ihnen verletzt wurde.«
Ich nickte ihm dankbar zu. Es bedeutete mir viel, aber nicht alles. Wenn ich absichtlich Brücken sprenge und ähnliche Sachen mache, heißt das noch lange nicht, dass ich deswegen von Schuld freigesprochen bin, wenn durch einen glücklichen Zufall niemand verletzt wird. Sobald ich mich entschlossen hatte den Tankwagen zu fahren, war ich bereit, mit den Konsequenzen zu leben – wie auch immer sie aussahen.
»Dann war wieder eine Sekunde lang Pause«, fuhr Homer fort. »Und dann flog sie in die Luft. So etwas habe ich noch nie gesehen. Die Brücke hob sich am Tankwagen-Ende etwa fünf Meter. Sie hing tatsächlich einige Sekunden in der Luft, bevor sie wieder hinunterfiel. Doch als sie hinunterfiel, schien sie leicht verzerrt zu sein. Dann kam eine zweite Explosion und überall flogen Holzstücke herum. Dieser massive Feuerball stieg steil empor, dann gab es zwei weitere Explosionen und wir sahen nur noch Feuer. Außer den Hauptfeuer gab es überall kleine Brände. Der ganze Park schien zu brennen, ganz zu schweigen von der Brücke. Wie Lee sagte, es war eine richtige Sprengladung.«
»Wirrawee wollte seit langem eine neue Brücke«, sagte Lee. »Sieht so aus, als würde es jetzt eine bekommen.«
Homers Gutenachtgeschichte war aufregend gewesen und ich hatte sie genossen, obwohl mich die Macht dessen, was wir getan hatten und was wir tun konnten, beinahe erschreckte. Das Einzige, was Homer ausgelassen hatte, war die Art, wie er geweint hatte, als er sah, dass wir in Sicherheit waren. Da sah ich seine Sanftheit, die er als kleiner Junge gehabt hatte und von der manche Leute wahrscheinlich glaubten, dass er sie als Teenager verloren hatte.
Wir zogen uns an einen schattigen Platz zwischen den Felsen zurück. Lee übernahm die erste Wache. Ich wollte mich zu ihm setzen, ihm Gesellschaft leisten, aber plötzlich überfiel mich eine solche Erschöpfung, dass meine Knie nachgaben. Ich kroch in eine kühle Spalte zwischen ein paar Felsen und machte es mir mit einem gestohlenen Kissen bequem. Ich fiel in einen so tiefen Schlaf, dass es beinahe Bewusstlosigkeit war. Lee erzählte mir später, dass er versucht hatte mich aufzuwecken, damit ich Wache stand, aber es gelang ihm nicht, also übernahm er auch meine Schicht. Ich wachte erst um vier Uhr nachmittags auf.
Es war beinahe dunkel, als wir allmählich wieder zum Leben erwachten und etwas Energie zeigten. Das Einzige, was uns auf die Beine brachte, war der Wunsch, nach Hause zu fahren, die anderen vier wiederzusehen. Wir hielten es für ungefährlich, die Motorräder zu verwenden – wir legten uns eine Route zurecht, die uns zu meinem Haus brachte, wo wir den Landrover zurückgelassen hatten. Wir befolgten einen komplizierten Fahrplan, der uns vor unwillkommenen Patrouillen schützen sollte.
Wenn ich an diese Fahrt zurückdenke, kommt es mir komisch vor, dass wir keine Vorahnungen hatten. Wahrscheinlich waren wir alle zu müde und wir hatten das Gefühl, dass das Schlimmste vorüber war, dass wir unsere Arbeit getan hatten und jetzt Ruhe verdienten. Man wird dazu erzogen zu glauben, das Leben solle so sein.
Wir brachen also gegen zehn Uhr abends auf. Wir waren vorsichtig, wir reisten langsam, wir waren so leise wie möglich. Es war gegen Mitternacht, als wir meine vertraute Auffahrt hinauf- und am Haus vorbeifuhren, weil wir direkt zur Garage wollten. Der Landrover war im Busch versteckt, aber ich brauchte noch Werkzeug aus dem Schuppen. Ich schaltete das Motorrad ab, stellte es auf den Ständer und bog um die Ecke in den großen Maschinenschuppen.
Was ich dort sah, ähnelte den Weinachtskrippen in der Kirche mit Josef, Maria, den Hirten und allem Übrigen, das dort auf seinen Plätzen stand, naturgetreu, lebenswahr, aber erstarrt. Das Bild in unserem Schuppen wurde von einer düsteren Taschenlampe beleuchtet, deren Batterien dabei waren den Geist aufzugeben. Kevin saß auf dem Boden und lehnte sich an eine alte Wollpresse, die an der Wand stand. Neben ihm hockte Robyn und hatte ihm eine Hand auf die Schulter gelegt. Chris stand an Kevins anderer Seite und blickte auf Corrie hinunter. Corrie lag quer über Kevins Schoß. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Kopf war zurückgesunken und in ihrem Gesicht war keine Farbe. Als ich dort stehen blieb, wandten mir Kevin, Chris und Robyn ihre Gesichter zu, doch Corrie öffnete die Augen noch immer nicht. Ich konnte mich nicht bewegen. Es war, als hätte ich mich ebenfalls in das Bild gestellt.
Dann sagte Kevin: »Sie wurde angeschossen, Ellie.«
Seine Stimme brach den Bann. Ich lief hin und kniete neben Corrie nieder. Ich hörte die Ausrufe von Homer und den anderen, als sie in den Schuppen kamen, aber ich hatte nur Augen für Corrie. Aus ihrem Mund kam ein wenig Blut, winzige helle Blasen aus rosa Blut.
»Wo wurde sie getroffen?«, fragte ich.
»In den Rücken«, antwortete Chris. Er wirkte beinahe unnatürlich ruhig. Robyn schluchzte geräuschlos. Kevin zitterte.
»Was werden wir tun?«, fragte Fi und kam näher. Ich blickte zu ihr auf. Ihre großen Augen schienen ihr Gesicht mit Schock und Entsetzen zu füllen.
»Wir müssen sie in die Stadt bringen«, sagte Homer. »Wir wissen, dass das Krankenhaus noch immer in Betrieb ist. Wir müssen ihnen vertrauen, dass sie sich um Corrie kümmern. Wir haben keine andere Wahl.«
Er hatte Recht. Es gab keine.
»Ich hole den Landrover«, sagte ich und stand auf.
»Nein«, sagte Homer rasch. »Der Mercedes ist noch da. Er ist näher und die Fahrt wird ruhiger sein.«
Ich lief hinaus und holte ihn. Ich fuhr im Rückwärtsgang in den Schuppen und sprang hinaus, um ihnen zu helfen, als sie Corrie hineinlegten. Aber dafür brauchten sie mich nicht; sie legten Corrie vorsichtig und langsam auf den Rücksitz. Dann packten wir den Fußraum mit Jutesäcken voll und stopften rings um sie Kissen, so dass sie weder rollen noch sich bewegen konnte. Ich würgte an meinem Schluchzen, während ich zusah, wie ihre Brust sich mit jedem gurgelnden Atemzug langsam hob und senkte. Das war meine geliebte Corrie, meine Freundin seit immer. Wenn Homer mein Bruder ist, dann ist Corrie meine Schwester. Ihr Gesicht sah so ruhig aus, aber ich spürte, dass in ihrem Körper ein schrecklicher Krieg ausgetragen wurde, ein Kampf auf Leben und Tod. Ich richtete mich auf und wandte mich zu den anderen. Homer sprach.
»Das wird jetzt grausam klingen«, sagte er, »aber wir können nur eines tun: Sie zum Tor des Krankenhauses bringen, den Wagen mit Corrie darin verlassen, klingeln und davonrennen, als wäre der Teufel hinter uns her. Wir müssen versuchen vernünftig darüber zu denken. Sieben Leute sind besser als sechs. Wenn wir nicht nur Corrie, sondern noch jemanden verlieren, schwächt uns das sehr. Ganz zu schweigen von den unangenehmen Fragen, denen sich diese Person stellen müsste.«
Kevin stand auf. »Nein«, sagte er. »Nein. Es ist mir völlig egal, was vernünftig und was logisch ist. Corrie ist meine Freundin und ich werde sie nicht einfach abladen. Nur Ellie und ich können Auto fahren, und wenn es dir nichts ausmacht, Ellie, möchte ich fahren.«
Ich sagte nichts, bewegte mich nicht. Ich konnte nicht.
Kevin ging zum Fahrersitz und stieg ein. Fi beugte sich durchs Fenster und küsste ihn. Er hielt kurz ihren Arm fest und ließ ihn dann los.
»Viel Glück, Kevin«, sagte Lee.
»Ja«, wiederholte Homer, während der Wagen langsam reversierte. »Viel Glück, Kevin.«
Chris streichelte die Kühlerhaube. Robyn weinte so sehr, dass sie nicht sprechen konnte. Ich lief vorn um den Wagen herum, beugte mich zu Kevins Fenster und ging mit dem noch immer reversierenden Wagen rückwärts.
»Kevin«, sagte ich. »Sag Corrie, dass ich sie liebe.«
»Tu ich bestimmt«, antwortete er.
»Und dich auch, Kevin.«
»Danke, Ellie.«
Der Wagen war im Freien und wendete. Kevin legte den ersten Gang ein, schaltete die Scheinwerfer ein und fuhr davon. Ich sah an seinem konzentrierten Gesicht, wie sehr er sich bemühte die Unebenheiten in der Auffahrt zu vermeiden. Ich wusste, dass Corrie in guten Händen war, und verstand auch die Scheinwerfer. Ich sah ihm nach, bis die roten Rücklichter in der Ferne verschwunden waren.
»Gehen wir nach Hause«, sagte Homer, »in die Hölle.«